aus nzz.ch,15.8.2016
Sage, was du denkst – lass raus, was du fühlst!
Die Authentizitätsidee ist in unserer Gesellschaft längst Mode geworden. Aber was heisst es eigentlich, authentisch zu sein? Bernhard Pörksen über ein missbrauchtes Kommunikationsideal.
von Bernhard Pörksen
Es ist, scheinbar zumindest, die grosse Zeit der Ursprünglichkeit, der unvermittelten Erfahrung, des wahren, unverstellten Sprechens. Der Authentizitätskult, einst in der Gegenkultur beheimatet, ist längst zum gesellschaftlichen Mainstream geworden. Managementberater bieten Kurse an, in denen man die Kunst der authentischen Führung trainiert und im Stuhlkreis sitzend Ich-Botschaften sendet. Prominente Kritiker der politischen Kultur fordern den Abschied von der floskelhaften Fassadensprache als Therapeutikum gegen die grassierende Politikverdrossenheit. Reiseanbieter werben mit der Erfahrung des Echten und verwandeln die Tourismusbranche in eine Authentizitätsindu-strie – Motto: Nochmals schnell nach Kuba reisen, um zwischen hellblauen Oldtimern, verfallenden Häusern und musizierenden alten Männern eine scheinbar unverfälschte Ursprünglichkeit zu erleben.
Und selbst in den Casting-Shows und Scripted-Reality-Sendungen des Fernsehens, den Sphären eines besonders aggressiven Realitätsdopings, regiert ein paradoxer Kult des Echten und Wahren, ein Spiel mit Schicksalen und Tränen, dem plötzlichen Ausflippen und der scheinbar spontanen Attacke. Es ist ein Spiel, das klaren Drehbüchern folgt und Nicht-Inszeniertheit im Medium der Totalinszenierung suggerieren soll.
Die Schlüsselszene zur Attraktivität der Selbstoffenbarung ereignet sich im Januar 1966. Abraham Maslow, Star und Stichwortgeber der humanistischen Psychologie, gibt am Esalen Institute einen Workshop. Hier, an der atemberaubenden Steilküste von Big Sur, befindet sich das Zentrum der Gegenkultur, ein zur Institution gewordener Schrei nach Authentizität, Echtheit, totaler Transformation. Geboten werden Yoga-Kurse und Massagen, Seminare von Schamanen, Atem- und LSD-Therapeuten, Kybernetikern und Mythenforschern.
Selbstentfaltung braucht Gehirn
Maslow stellt zu Beginn seines Workshops ein paar Fragen in die Runde. Noch ist nicht wirklich klar, worum es eigentlich geht. Wie man den Begriff der Pflicht, so fragt er beispielsweise, auf eine weniger traditionelle Weise definieren könne, orientiert an den eigenen Erfahrungen, dem eigenen Selbst. Das Gespräch lässt sich mühsam an. Auch Fritz Perls, Erfinder der Gestalttherapie, sitzt im Publikum. Perls ist sofort genervt. Das sei ja wie in der Schule, pöbelt er. Da sitze ein Lehrer, der seine Schüler dressiere und die richtige Antwort lobe. Maslow ignoriert ihn. Perls pöbelt munter weiter, denn er hasst, wie er sagt, das verkopfte, unechte Sprechen, das Korsett von Rolle und präzise definierter Situation. «Mindfucking» ist sein absolutes Lieblingsschimpfwort. Der zweite Tag neigt sich dem Ende zu, als Fritz Perls in der Art eines wimmernden Kleinkindes auf den dozierenden Maslow zurobbt und dessen Beine umklammert. Maslow ist fassungslos, hält eine Wutrede: Man müsse auch das eigene Gehirn bei der Selbstentfaltung einschalten; man brauche Programm und Struktur, so donnert er in Richtung der Seminarteilnehmer.
In den sinnlosen Spassfabriken unserer Zeit
Damit ist der Kernkonflikt benannt. Auf der einen Seite steht Perls, der Protagonist der maximalen Authentizität; im Zweifel für die spontane Selbstoffenbarung, lautet sein Credo. Auf der anderen Seite findet sich Maslow, den die Verherrlichung der Impulsivität einfach nur anwidert. Er glaubt nicht an das Konzept der unvermittelten Echtheit.
Es ist eine Konfrontation radikal unterschiedlicher Positionen, die sich in einer Phase des gesellschaftlichen Wandels ereignet: Bereits Ende der sechziger Jahre werben mehr als 200 unterschiedliche Therapieschulen in den USA um Anhänger, gibt es rund 10 000 verschiedene Therapietechniken, lernt man in Encounter- und Psychogruppen den scheinbar spontanen Selbstausdruck. Es sind, dann auch in Europa, Jahre des Aufbruchs und des Ausbruchs – eine von Grenzüberschreitungen zehrende Sinnsuche, welche die gesellschaftliche Revolution nicht mehr als Attacke auf das System, sondern als das Resultat innerer Neuorientierung begreift.
Maximal ist nicht optimal
Aber was heisst es überhaupt, authentisch zu sein? Bei Carl Rogers, auch er eine Galionsfigur der humanistischen Psychologie, findet sich die entscheidende Definition, wonach Authentizität dann gegeben ist, wenn inneres, bewusst gewordenes Erleben und der kommunikative Selbstausdruck der Person übereinstimmen. Offensichtlich geht es um das eigene Ich, das innere Erleben und die Verbalisierung dieses Erlebens, das die adäquate kommunikative Form bekommt – oder eben auch nicht. Das ist, genau besehen, ein solipsistisches Kommunikationsideal, weil die äussere Welt hier gar nicht mehr vorkommt.
Und es droht, wie der Historiker Sven Reichardt schreibt, eine Art «Problem-Narzissmus», eine ständige Begutachtung der eigenen, persönlichen Schwierigkeiten, die mit viel Feingefühl ins Monströse vergrössert werden. Die Gefahr des Missbrauchs besteht also in der Verführung zur permanenten Selbstausleuchtung der persönlich-privaten Existenz.
Nur: Was macht die gesamte Idee, abgesehen von der Verführung zur Egozentrik, so attraktiv? Entscheidend ist, dass Authentizität bei Carl Rogers, wie auch schon bei Rousseau, den Rang einer Widerstandsformel bekommt, die auratische Kraft eines herrlich leuchtenden Ideals, das von einem anderen, besseren, letztlich wahren Leben kündet. Gefordert ist eine Aufrichtigkeit gegenüber dem eigenen Selbst, eine Treue zum persön-lichen Wesenskern – in Abgrenzung zu einer Gesellschaft, die einen von der eigenen Natur entfremdet. Andere Vertreter der humanistischen Psychologie haben eine derart radikale Authentizitätsforderung deutlich abgeschwächt. Ihr Ziel: eine stärker kontext- und gesellschaftsbezogene Kommunikationspraxis, eine soziale Psychologie.
Bei der Psychologin Ruth Cohn, auch sie zwischen Esalen und Europa unterwegs, heisst es, man müsse zwischen maximaler und optimaler Authentizität unterscheiden. Maximal authentisch solle man sich selbst gegenüber sein, optimal authentisch gegenüber anderen. Optimale, aussenweltreife Authentizität ist also unvermeidlich selektiv. «Nicht alles, was echt ist, will ich sagen», so Cohns Formel, «doch was ich sage, soll echt sein.» Der Psychologe Friedemann Schulz von Thun hat schon früh die «Nabelschau-Aristokraten» der Bewegung kritisiert und die pauschale Authentizitätsforderung durch die Leitmaxime der Stimmigkeit ersetzt. Was gesagt wird, soll, so seine Formulierung, wesensgemäss und situationsgerecht sein, im Idealfall Resultat einer doppelten Passung, einer angemessen Balance. Das Gesagte passt dann zur eigenen Person, aber auch zu den Erfordernissen der Rolle und den Besonderheiten der Situation.
Allerdings: Auf dem Weg in die Welt von PR und Marketing, in der sich die Karriere der Authentizitätsidee heute fortsetzt, ist dieser doppelte Blick, diese Betrachtung des Inneren und des Äusseren, nicht mehr präsent. Nun regiert das Bemühen um den äusseren Effekt, nicht mehr die in den Exzess getriebene Auseinandersetzung mit der eigenen Innerlichkeit. Nun geht es um «Lockstoffe der ‹Echtheit›» im Inszenierungsbusiness, wie die Schrift-stellerin Juli Zeh einmal prägnant formulierte. Der Kult des Echten und Wahren ist hier zum rein strategischen Kalkül mutiert. Es gilt, überzeugend wirkende Images zu erschaffen. «Wie werden», so fragt der kluge PR-Experte Klaus Kocks, «in der PR authentische Persönlichkeiten konstruiert?» Er selbst gibt die Antwort: «Indem nichts mehr von dem, was in den Medien stattfindet, dem Zufall überlassen wird. Nichts. Authentizität erzeugen wir durch eine möglichst systematisch angelegte Folge von Berichterstattungs-anlässen, Events genannt, deren Gesamtheit den gewünschten Mythos mit der Person konnotativ verbindet.» Mit anderen Worten: In der hier fröhlich demaskierten PR-Ideologie erscheint das zunächst in Ego- und Psychospielen verhunzte Kommunikationsideal der Authentizität nun als ein smarter Inszenierungstrick zur Wirkungsmaximierung. Das ist die zweite Variante des Missbrauchs.
Kult der starken Effekte
Allerdings muss man gerechterweise gleich hinzufügen: Natürlich war die Verherrlichung absoluter, inszenierungsfreier Echtheit, die noch Carl Rogers propagierte, ganz und gar ahistorisch. Und sie wäre bereits den Urvätern der Rhetorik von Aristoteles bis Cicero naiv vorgekommen. Das kunstvolle Verbergen der eigenen Kunstfertigkeit (dissimulatio artis) schien ihnen, den frühen Profis der Persuasion, unbedingt geboten. Denn man müsse, so beispielsweise Aristoteles, als Redner in jedem Fall «unauffällig ans Werk» gehen und «keinen gekünstelten, sondern einen natürlichen Eindruck erwecken», um nicht den Widerstand des Publikums zu provozieren. Aber das waren abgeklärte Meister der Redekunst, die so sprachen, und dies in einer gänzlich anderen Epoche der Menschheitsgeschichte.
Echtheitssehnsucht und Echtheitszweifel
Heute wird diese Gesellschaft vom Psycho- und PR-Boom gleichermassen durchgerüttelt. Heute gibt es den Kult der Echtheit und den Kult der starken Effekte, der raffinierten Inszenierungen. Authentizität, dies verbindet die beiden Schulen der Transformation, erscheint als etwas, was man durch Selbsterfahrungs- oder Inszenierungstechniken herstellen kann. Authentizität ist das Verfügbare, nicht das Unerwartete, nicht die plötzlich überwältigende Evidenz des Augenblicks, sondern der gezielt produzierte Moment.
Was aber bedeutet die Gleichzeitigkeit von Psycho- und PR-Boom für die Bewusstseinslage der Gesellschaft? Diese Gleichzeitigkeit bedeutet, dass eine zwischen den Extremen oszillierende, mitunter verzweifelt wirkende Bewusstseinslage entsteht, eine Mentalität, die zwischen Echtheitssehnsucht und Echtheitszweifel schwankt. Man verherrlicht das Authentische und begegnet ihm doch mit dem grossen Verdacht. Waren die Tränen und die Zeichen der Rührung echt, war der Blick hinter die Kulissen nicht in Wahrheit Teil eines raffinierten Kalküls, so wird ritualisiert gefragt, wenn sich Politiker oder Medienmenschen, scheinbar zumindest, offenbaren. Das heisst: Man sehnt sich nach unvermittelter Wahrheit, ekelt sich vor der Inszenierung und argwöhnt parallel, dass diese längst zur totalitären Macht geworden sein könnte.
Würde sich heute ein Fritz Perls noch einmal wimmernd auf den Boden werfen, dann könnte es sein, dass er viel Applaus bekommt und doch auch jede Menge Wut produziert. Dies nicht, weil er so authentisch agiert und seine Gefühle so prima ausdrücken kann, sondern weil er den Imperativ einer Gesellschaft verinnerlicht hat, die von jedem, der wahrgenommen werden will, eine richtig gute Show verlangt, die einen dann aber – trotz aller Faszination – auch anwidert, ekelt.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er veröffentlichte u. a. gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun das Buch «Kommunikation als Lebenskunst».
Nota. - Der Abscheu Bernhard Pörksens ist ganz der meine. Aber er schimpft bloß, das wird nicht viel helfen. Diese Leute muss man blamieren, damit sie ihr unerfreuliches Selbst für sich behalten, wenigstens ein bisschen, und nicht alle Welt mit sich belästigen.
Lächerlich sind sie nämlich, sobald sie 'ich' sagen. Denn was meinen sie? Den Bauch, das Gedärm, das in ihnen west: Natur. Doch im Organischen sind sie einander alle gleich, Stoffwechsel und, nun ja, Fortpflanzung. So authentisch ist auch der Wurm, niemand wird von ihm erwarten, dass er sich rechtfertigen kann; aber er sagt auch nicht ich.
Denn das ists, worum es ihnen geht: Ich will so bleiben, wie ich bin - und mich nicht rechtfertigen müssen. Will heißen: Für mich gibt es keine höhere Instanz: keine höhere als mich. Doch das Individuum, das sich selber höchste Instanz ist, ist kein Ich, sondern es. Ich ist ein Selbst zwar auch dann nicht, wenn es sich eine höhere Instanz vorsetzen lässt; sondern erst, wenn es sie sich selber denkt.
JE
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