Der neue Opferautoritarismus
Der Wettbewerb um den Status des Meistdiskriminierten beherrscht den gesellschaftlichen Diskurs. Wie kommt es, dass sich in einer beispiellos egalitären Gesellschaft alle als Opfer fühlen?
von René Scheu
Clint Eastwood ist old school, ein Mann der Prinzipien. Seit über einem halben Jahrhundert markiert er mit Vorliebe den wortkargen Typen, der handelt statt zerredet, im Film wie im Leben. Wenn er einmal spricht, zumal zur politischen Lage der Gegenwart, dann gibt's zuverlässig Saures bzw. Deftiges, wie jüngst im Interview mit dem US-amerikanischen Magazin «Esquire»: «Wir leben in einer Generation, in der sich alle gegenseitig den Arsch küssen. Wir sind wirklich eine Pussy-Generation. Alle laufen wie auf Eierschalen. Die Leute beschuldigen einander, Rassisten zu sein. Als ich ein Kind war, hat man all diese Dinge nicht rassistisch genannt.»
In den Eastwoods probt der weisse, westliche, heterosexuelle, mittelständische Mann den Aufstand. Den Shitstorm gab's selbstverständlich gratis dazu.
Das ist unerschrocken gegen den Zeitgeist gesprochen, und doch kommt Eastwood kurz darauf nicht ohne ein Zugeständnis an den Zeitgeist aus. Er, Eastwood, sei total «Anti-Pussy-Generation», also gegen all die Leute, die sagen: «Hey, das darfst du nicht sagen, und jenes darfst du nicht sagen, und sag das auf keinen Fall.» Aber natürlich habe er nichts gegen Pussies. Der unbedarfte Leser soll nicht auf falsche Gedanken kommen.
Scott Eastwood, 30-jährig, ebenfalls Schauspieler, stimmt seinem Vater zu: «Bloss keine Weicheier.» Und: «Wir alle sind pro Pussy.» Fehlte nur noch, dass sich die beiden Eastwoods bei den Frauen und Homosexuellen entschuldigen. In den Eastwoods probt der weisse, westliche, heterosexuelle, mittelständische Mann den Aufstand. Den Shitstorm gab's selbstverständlich gratis dazu.
Selbst wem die Eastwood-Family nicht ganz geheuer ist, der dürfte im Stillen zugeben: Der Gebrauch des Begriffs «Rassismus» leidet seit Jahren an galoppierender Inflation. Unter der längst salonfähigen Formulierung des «kulturellen Rassismus» lässt sich alles subsumieren, was nicht ins präferierte Denkschema passt.
Der französische Philosoph Etienne Balibar hat gar die Wendung eines «Rassismus ohne Rassen» geprägt – damit bezeichnet er jede pauschale Diskriminierung einer «Lebensform», die nicht die eigene ist. Also alles bestens? Schön wär's. Denn was wie ein Hohn auf politisch Unterdrückte klingt, die sich wie einst die Schwarzen in den USA ihre politischen Rechte hart erkämpfen müssen, ist ernst gemeint.
Wie kommt es, dass sich die Bewohner der egalitärsten Gesellschaften der Moderne immer stärker als Opfer einer diffusen Diskriminierung sehen?
Rekapitulieren wir darum kurz: Diskriminiert fühlen sich in der verwöhnten Wohlstandswelt weiterhin die Frauen – und längst auch die Männer. Die Homosexuellen, die Bisexuellen, die Asexuellen, die Transsexuellen – und auch die Heterosexuellen. Die Ausländer – und die Inländer. Die Muslime, die Christen, die Agnostiker – und die Atheisten. Die Alten – und die Jungen. Die arbeitenden Mütter, die arbeitenden Hausfrauen, die arbeitenden Väter, die Alleinstehenden, die Verheirateten – und die Familien. Die Armen, der Mittelstand – und oberen ein Prozent. Die Vegetarier, die Veganer, die Frutarier – und die Omnivoren. Die Velofahrer, die Autofahrer, die ÖV-Benutzer – und die Fussgänger. Die Prädikate lassen sich kumulieren, und die Liste beansprucht keine Vollständigkeit.
Die Frage nach der Lebensform
Für die Deutung der Problemlage bieten sich verschiedene Optiken an. Der Sozialdemokrat nimmt sämtliche Klagen beim Wort und fordert noch mehr staatliche Antidiskriminierungspolitik in allen Lebensbereichen. Der Konservative beklagt derweil eine neue Kultur der Dekadenz, zieht sich in sein Schneckenhaus zurück und beobachtet von da aus das Ende der bürgerlichen Gesellschaft. Und der Liberale will zuerst einmal verstehen, was genau geschieht: Wie kommt es, dass sich die Bewohner der egalitärsten Gesellschaften der Moderne immer stärker als Opfer einer diffusen Diskriminierung sehen?
Was als Diskriminierung im politischen Sinne gilt, wurde in den letzten Jahrzehnten immer extensiver ausgelegt. Nach dem Krieg fiel darunter die Herabsetzung aufgrund der Zuschreibung nicht selbst gewählter Eigenschaften wie Ethnie, Geschlecht oder Herkunft. Der Kriterienkatalog wurde ausgeweitet, und längst zählen dazu auch selbstgewählte Merkmale der persönlichen Lebensgestaltung. Illustrativ ist die neue [Schweizer] Bundesverfassung aus dem Jahre 1999: Die Kriterien für Diskriminierung reichen darin von «Herkunft», «Rasse», «Geschlecht» bis zu «sozialer Stellung», von «Behinderung» und «Sprache» bis zu «Lebensform» und «politischer, weltanschaulicher oder politischer Überzeugung».
So sinnvoll es ist, dass sich der Staat selbst maximale Neutralität im Umgang mit seinen Bürgern auferlegt, so sehr zeigt sich darin ein Wandel im Selbstverständnis des Menschen, der den gesellschaftlichen Binnendiskurs prägt. Identität wird nicht mehr als Fremdprägung, sondern in erster Linie als Performance des autonomen Selbst erlebt. Die eigene Lebensform – von der sexuellen Selbstdefinition bis hin zu religiösem Bekenntnis und zur Ernährungsweise – ist Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Was immer der Mensch tut, wie immer er sich verhält und lebt, ist als Ausdruck seiner Identität zu werten.
Umgekehrt bedeutet dies: Wer Dissens mit dem Lebensstil eines Mitmenschen signalisiert, droht dessen Selbstwertgefühl in Frage zu stellen. Eine Mohammed-Karikatur verletzt das religiöse Empfinden von Muslimen, die unter Verweis auf ihre persönliche Würde ein Verbot derselben fordern. Das männlich konnotierte Wort «Student» stellt eine Mikroaggression dar, mithin einen Mini-Gewaltakt gegenüber Frauen, weil diese durch die Sprachhandlung ausgeschaltet werden. Jede Meinungsäusserung lässt sich so als Angriff auf die eigene Person deuten, symbolische und reale Herabsetzung wiegen gleichermassen schwer. Das angeblich autonome Selbst zeigt sich hier von seiner unsouveränen Seite – es fühlt sich dauerdiskriminiert.
Egozentriker vs. Individualist
Was ist das für ein empfindliches Ich, das hier sichtbar wird? Zeitgenössische Psychoanalytiker und Soziologen beschreiben es als ebenso selbstverliebt wie wehleidig – im Nachgang zu Heinz Kohuts und Christopher Laschs Diagnose eines Zeitalters des Narzissmus. Alexis de Tocqueville hat dasselbe Ich im Kontext des egalitären Lebensstils bereits vor 200 Jahren treffend charakterisiert.
Als der französische adelige Gelehrte die junge amerikanische Demokratie zwischen 1830 und 1840 bereiste, traf er auf zwei grundsätzliche Haltungen des Bürgers in der neuen Gesellschaft, die ihn gleichermassen faszinierten: den «Individualismus» und den «Egoismus». Den Individualisten beschreibt Tocqueville als Bürger mit «überlegter und friedlicher Einstellung», der sich von der Masse löst und sich eine eigene «kleine Gesellschaft» aus Familie und Freunden schafft. Den Egozentriker hingegen sieht er gleichsam als isoliertes Atom, das in «die Einsamkeit seines eigenen Herzens eingesperrt» bleibt; seine «leidenschaftliche und übertriebene Eigenliebe» bestimmt ihn, «alles nur auf sich zu beziehen und sich selbst allem vorzuziehen».
Das egozentrische Selbst mit Staatsreflex hat über den Individualisten mit Hang zu persönlicher Unabhängigkeit triumphiert.
Das vereinzelte Ego stellt mithin die Synthese zweier anscheinend gegensätzlicher Verhaltensweisen dar: Es setzt sich einerseits absolut – und appelliert doch zugleich an eine äussere Instanz, die sein Behagen garantiert, indem sie in das Leben aller anderen eingreift. Egoismus und staatliche Bevormundung – der von Tocqueville beschriebene sanfte demokratische Despotismus – stellen so gesehen bloss die beiden Seiten derselben Medaille dar.
Wie es heute scheint, hat das egozentrische Selbst mit Staatsreflex über den Individualisten mit Hang zu persönlicher Unabhängigkeit triumphiert. Für dieses Selbst ist das eigene Fühlen das Mass aller Dinge. Mit Vorliebe organisiert es sich in den digitalen Schonräumen Gleichfühlender, die es in seiner Selbstwahrnehmung bestätigen. Draussen lauern bloss überall potenzielle Verletzungen, Beleidigungen und Kränkungen.
Der Egozentriker agiert nicht souverän, sondern reagiert empfindlich. Um zu seinem Recht zu kommen, reklamiert er für sich den Opferstatus. In den westlichen egalitären Gesellschaften, in denen alle Unterschiede unter Menschen eingedampft sind, verspricht dieser Status nicht nur Aufmerksamkeit, sondern Autorität. Wer sich glaubhaft als Opfer darzustellen vermag, hat Anspruch auf Wiedergutmachung.
Mimetische Rivalität
Der neue Opferautoritarismus führt zu einem Wettbewerb der Meistdiskriminierten, der an amerikanischen Universitäten und in den Ghettos der sozialen Medien bloss seine progressivste Ausprägung zeigt. Dabei lassen sich echte Opfer konkreter Handlungen und gefühlte Opfer des «Systems» und der «Sprache» ohne identifizierbaren Täter ebenso schwer voneinander unterscheiden wie gefühlte Opfer und mitfühlende Opferfürsprecher.
Die Gleichberechtigten vergleichen sich unablässig mit Argusaugen – und schenken sich nichts. Der Anthropologe René Girard hat dieses Verhalten als «mimetische Rivalität» beschrieben. Die Menschen stehen zueinander in einem Verhältnis des beständigen Wettkampfs, ohne sich dessen bewusst zu sein. Den Menschen bleibt der tiefere Sinn ihres eigenen Handelns zumeist verborgen, weil sie, ihrem Selbstverständnis entsprechend, auf die absolute Autonomie ihres Begehrens pochen – in Wahrheit jedoch begehren sie bloss, was die anderen begehren.
Die egalitär-inklusive Gesellschaft produziert ständig neue Ausgegrenzte, die neue Gleichheitsansprüche an die Gesamtgesellschaft formulieren.
Jede Anerkennung eines Lebensstils gebiert in allen anderen das Bedürfnis nach ebensolcher Anerkennung. Das gesamtgesellschaftliche Sichgekränktfühlen nimmt deshalb mit der gesamtgesellschaftlich wachsenden Anerkennung zu. Die egalitär-inklusive Gesellschaft produziert ständig neue Ausgegrenzte, die neue Gleichheitsansprüche an die Gesamtgesellschaft formulieren. Sie setzt ungeheure Mengen an Neid, Hass und Ressentiment frei, die politisch bewirtschaftet werden.
Die Kluft zwischen objektiver Gleichstellung und subjektivem Sichzurückgesetztfühlen schliesst sich nie. Die Individuen, die zu Gegenspielern werden, schreibt Girard, «haben nur Ohren für das trügerische Zelebrieren der Differenzen, dem unsere Gesellschaften mehr und mehr verfallen, und zwar nicht etwa, weil die Differenzen zunähmen, sondern weil sie verschwinden».
Werdet erwachsen!
Girard trifft einen Punkt: Was im Zusammenleben der besten aller bisherigen Welten verloren ging, ist das Augenmass. Daran erinnert Clint Eastwood. Der old school-Mann ist kein Rassist. Er nimmt Anstoss an der versnobten Haltung all der Sichgekränktfühlenden, die bloss auf sich selbst fixiert sind.
Er klingt im Interview mürrisch wie in seinen Filmen: «Mich quält der Gedanke an all die Arschlöcher, die sich beklagen. Ich sah Leute, denen es wirklich mies ging.» Eastwood spricht als guter alter Individualist à la Tocqueville, seine Botschaft ist uramerikanisch: Hört auf zu jammern – und macht das Beste aus eurem privilegierten Leben. Benehmt euch wie Erwachsene. Sein Wort in Gottes Ohr.
Nota. - Nachdem ich unlängst auch Tayyipp Erdogan eine gute Seite abgewinnen konnte, tu ich es heute, Clint Eastwood folgend, mit Donald Trump. Wohl bekomme auch ich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass der Mann wirklich zum Präsidenten gewählt werden kann. Aber eins hat er doch schon bewirkt: Mit der bigotten Seiche political correctness ist nun einmal Schluss. Sie ist schlaff und feige, sie jedenfalls hat ihm nichts entgegenzusetzen. Pussy generation ist eine gehässige Formulierung, aber sie haben sie sich verdient.
JE
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