Karl-Heinz Ott über Entzauberung
Die Unvernunft der vernünftigen Welt
Max Weber hat die These von der entzauberten Welt in die Welt gesetzt. Die Gegenwart indessen zeigt, dass der Zauber in vielerlei Gestalt die Welt noch immer heimsucht oder beglückt.
In seinem berühmt gewordenen Vortrag «Wissenschaft als Beruf» formulierte Max Weber 1917 die noch berühmter gewordene These von der «Entzauberung der Welt». Ein Jahr zuvor erschien von Georg Lukács die «Theorie des Romans», in der sich die nicht weniger berühmt gewordene Formulierung von der «transzendentalen Obdachlosigkeit» findet, die unsere Moderne kennzeichnet.
Wenige Jahre später liefert Walter Benjamin noch das Stichwort vom Kapitalismus als Religion und erklärt, dass mit der Unübersichtlichkeit der Welt auch das Ende des Erzählens gekommen ist und die Geschichte aus nichts als einer Anhäufung von Katastrophen besteht. 1947 wiederum erscheint von Horkheimer und Adorno die «Dialektik der Aufklärung», in der es summarisch heisst: «Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.»
All das gehört zu unserer intellektuellen Muttermilch und unserem zeitdiagnostischen Handwerkszeug, inklusive der Begriffe Entfremdung und Verdinglichung. Seit zwei, drei Jahrzehnten begegnet man ihnen ein bisschen weniger, weil der postmoderne Geist ein lockereres Verhältnis zum Kapitalismus besitzt und ihn weniger für alles Übel verantwortlich macht als vielmehr seine unendlichen Möglichkeiten schätzt. Dass die Welt entzaubert ist, darüber jedoch herrscht nach wie vor halbwegs Konsens, und zwar deshalb, weil wir nicht mehr wie früher naiv an einen Gott oder sonst einen Sinn glauben.
Die Religionen leben weiter
Allerdings haben die grossen Entzauberer Feuerbach, Marx und Freud mit ihren Prognosen, die Religion werde verschwinden, alles andere als recht bekommen. Die Religionen leben munter fort. Der radikale Islam bezieht – wie jeder politische Manichäismus – seine Faszination gerade daher, dass er die Welt von allem Bösen befreien will, sofort und mit allen Mitteln. Aber auch die sanft gewordenen Religionen sind weit davon entfernt, sich zu verabschieden.
Sie haben sich gewandelt, doch nicht aufgelöst. Sie haben sich jede Art von Religionskritik selbstkritisch einverleibt und dazugelernt. Inzwischen wird der Religion sogar von unerwarteter Seite die Reverenz erwiesen, wie etwa von Habermas, der seit einiger Zeit betont, dass die normativen Grundlagen von Staat und Gesellschaft sich letztlich aus Quellen speisen, die blosser Vernunft vorausgehen und tiefer liegen.
Im Übrigen lässt sich gegen Feuerbach einwenden, dass nicht jede Projektion eine falsche Projektion sein muss. Und was den Marxismus angeht, so haben wir erlebt, dass er zu einem schlimmeren Opiat wurde als mancher Gottesglaube. Freuds Hoffnung auf das Ende der religiösen Illusion wiederum kündet von einem Aufklärungsglauben, der selbst von religiöser Blindheit zeugt und heute bloss noch von atheistischen Hardlinern verfochten wird.
Ein wesentlicher Teil dessen, was wir Entzauberung nennen, verdankt sich dem Christentum selbst. Spätestens der Anschlag auf «Charlie Hebdo» hat vor Augen geführt, wie selbstverständlich wir voraussetzen, dass Religion keinen Anspruch auf öffentliche Tabus mehr besitzt. Für einen Nichtgläubigen gibt es nichts Heiliges mehr, zumindest nicht in religiöser Hinsicht. Aber auch viele Gläubige empfinden nichts Schlimmes dabei, wenn sakrale Symbole dem freien, liederlichen Spiel der Phantasie ausgesetzt sind.
Die Welt kennt nichts Heiliges mehr, zumindest nicht die westliche. Womit wir uns dem schlimmsten Vorwurf gegenübersehen, den die Islamisten erheben. Usama bin Ladins «Brief an Amerika», der 2002 im «Guardian» abgedruckt worden ist, besteht aus einer einzigen kriegerischen Klage, die lautet: Ihr Westler seid bis ins Mark verrottet. Was bin Ladin vorbringt, findet sich auch bei Rousseau, nur mit anderem Begründungsmuster. Rousseau argumentiert im Namen der wahren Natur, bin Ladin im Namen des Korans. Beide entsetzen sich über eine Zivilisation, die in ihren Augen aus nichts als Dekadenz besteht. Beide wollen die Menschheit vom falschen Weg auf den wahren zurückführen.
«Es ist traurig, euch sagen zu müssen, dass ihr die schlimmste Zivilisation seid in der Geschichte der Menschheit», heisst es bei bin Ladin. Der Satz könnte ebenso in Rousseaus «Abhandlung über die Wissenschaften und Künste» stehen. Hier wie dort ist von Ausschweifung, Verbrechen und Korruptheit die Rede und davon, dass wir Westler durch und durch verdorben sind.
Neue Tabus?
Jenseits solcher moralischen Verdikte stellt sich die Frage, ob sich etwas Heiliges zurückgewinnen liesse, das von allen gleichermassen respektiert würde.
Könnten wir einen gewissen Zauber restituieren, wenn wir wieder Tabus einführten, wie es etwa der Schriftsteller Martin Mosebach gefordert hat? Mosebach zeichnet das Bild einer öde gewordenen Welt, in der die Kunst jeden Stachel verloren hat, seit sie völlig risikolos Skandale und Skandälchen zu produzieren versucht, die aus Mangel an Tabus bloss noch müdes Schulterzucken hervorrufen. Wir leben, heisst das, in einer erbärmlich banalen Welt, die nichts mehr kennt, was grösser ist als sie selbst. Und genau das, könnte man sagen, bedeutet Entzauberung.
Allerdings fragt sich, wie eine nicht entzauberte Welt aussähe. Rousseau und Hölderlin haben darauf beispielhafte Antworten gegeben. «Wie schön wäre es, wenn die äusseren Umstände immerzu das Bild unserer Herzensverfassung abgäben», heisst es in Rousseaus «Abhandlung über die Wissenschaften und Künste». Auch Hölderlins «Hyperion» kündet von einer Sehnsucht, die auf nicht weniger als die symbiotische Verschmelzung mit allem, was lebt und webt, aus ist. «Eines zu sein mit Allem», wünscht er sich, womit er einem Verlangen Ausdruck gibt, das in seiner Absolutheit einzig im Tod Erfüllung finden kann. Spaltungen aller Art haben in einer vollkommen verzauberten Welt keinen Platz.
Vielleicht kann man das Signum der Moderne auch darin sehen, dass es – wie wir in der Auseinandersetzung mit dem Islam unentwegt hervorheben – keine naiven Lesarten heiliger Schriften mehr gibt. Das Mehrdeutige hat die Regentschaft übernommen und das Ambivalente. Den Königsweg zur einzigen, alleinigen Wahrheit gibt es nicht mehr, oder, anders formuliert, die Wahrheit selbst ist bloss noch im Plural zu haben. Wir sind längst wieder Polytheisten geworden, zumindest hier im Westen. Ein bisschen dramatischer ausgedrückt, heisst das: Wir haben keinen Boden mehr unter den Füssen und kein sinnstiftendes Firmament über dem Kopf.
Andererseits fragt es sich, ob das tatsächlich eine exklusive Eigenschaft der Moderne ist. Einen Epikur und Lukrez und die Schule der Skeptiker hat es schon vor Jahrtausenden gegeben und auch alle Arten von Un- und Halbgläubigen. Neu an der Neuzeit ist, dass sich das inzwischen überall herumgesprochen hat. Für Max Weber war genauso wie für Karl Marx klar: Die Entzauberung setzt mit dem Kapitalismus ein, der allein noch den freien Markt, die Verwissenschaftlichung, das Spezialistentum, die Fragmentierung und damit das, was man Entfremdung nennt, kennt. So weit, so gut. Und trotzdem muss man sich fragen: Wann und womit fing die Entzauberung der Welt tatsächlich an?
Rückgriff auf den Mythos
Bevor er den Schierlingsbecher trinken muss, sitzt Sokrates ein letztes Mal mit seinen Freunden zusammen, die ihn zur Flucht bewegen wollen. Er winkt ab und behauptet, vor dem Tod müsse man sich nicht fürchten, da lediglich der Leib hinfällig sei, die Seele aber weiterlebe. Er versucht das mit allerlei Argumenten, logischen Schlüssen und bildlichen Vergleichen zu beweisen. Weil die Freunde von alldem nicht wirklich überzeugt sind, erklärt er schliesslich: Wenn das alles nichts nützt, lasst uns auf den Mythos zurückgreifen und hören, was er dazu erzählt.
Worauf Sokrates, wie man es sonst gar nicht von ihm kennt, in poetischem Überschwang vom Acheron erzählt und vom Styx und vom Tartarus und auch von jenen schöneren Orten, wohin die rein gewaschenen Seelen kommen. Als er mit seiner Schilderung zu Ende ist, fügt er hinzu: Wir sind zwar vernünftige Leute und glauben an so etwas nicht, doch manchmal lohnt es sich, so zu tun, als glaube man daran.
Eine Schrift des Altphilologen Paul Veyne trägt den Titel: «Glaubten die Griechen an ihre Mythen?» Es findet sich darin der Satz: «Im Vergleich zu den christlichen oder marxistischen Jahrhunderten weht durch die Antike oft ein Hauch von Voltaire.» Ähnlich wie das Verhältnis der Griechen zu ihren Göttern, wie es Veyne beschreibt, ist unsere Beziehung zum Christkind, das die Weihnachtsgeschenke bringt und an das die Kinder noch glauben, während die Grossen nur das Ritual nicht missen möchten. Man will ein bisschen Zauber ohne wirklichen Zauberglauben.
Das Wechselspiel von Zauber, Entzauberung und Wiederverzauberung ist älter als die Neuzeit. Mit der These von der Entzauberung liegt man nie falsch. Doch liegt man mit ihr auch richtig? Vielleicht handelt es sich bei alldem ja weniger um die Entzauberung der Welt als um die Entzauberung von Weltbildern. Dazu gehören nicht nur Mythen und Religionen, sondern ebenso philosophische, soziologische und wissenschaftliche Theorien, deren Aufstiegs- und Verfallsdaten immer schnelleren Rhythmen gehorchen.
Fad gewordene Welterklärung
Bestes Beispiel dafür ist der Marxismus, der eine Weile der halben Welt als Erklärungsmodell für alles und jedes galt, in wenigen Jahren jedoch seine Attraktivität verloren hat. Inzwischen gehen wir mit Lyotard davon aus, dass die Zeit der grossen Erzählungen – der allumfassenden Weltbilder und Welterklärungen – vorbei ist, wobei die These vom Ende der grossen Erzählungen inzwischen selbst zur grossen Erzählung geworden ist.
Manchmal werden Welterklärungsmuster auch einfach fad, so wie Beziehungen fad werden und man das Gerede des andern einfach nicht mehr hören kann, ganz unabhängig davon, ob er recht hat oder nicht. Für diese Art der Entzauberung kann der andere manchmal gar nicht viel. Er wiederholt sich halt bloss noch und hat nichts Neues mehr zu sagen hat. Der Charme ist weg, es funkt nicht mehr, man dreht sich im Kreis. Vielleicht hat auch Max Webers Entzauberungsthese schlichtweg jenen geschichtsphilosophischen Zauber verloren, der vor hundert Jahren darin bestand, dass man glaubte, das Wesen der Moderne endlich auf den Punkt gebracht zu haben.
Die Entzauberungstheorie bildet die Kehrseite selbstherrlicher Aufklärungseuphorie. Kant ist der Meinung, dass vor ihm die Welt in selbstverschuldeter Unmündigkeit verharrt hatte. Mit der Inthronisation selbstkritischer Vernunft, die metaphysisches Theologisieren über den Sinn des Seins als unsinnig verwirft, proklamiert er den grösstmöglichen Bruch in der geistigen Menschheitsgeschichte.
So gut wie alles, was zwischen Platon und Spinoza gedacht worden war, erschöpft sich aus seiner Sicht in bodenlosem Spekulieren und Spintisieren. Erst in der Neuzeit, glaubt Kant, setzt jene radikale Reflexion ein, die keinen Stein auf dem anderen lässt und alles Frühere als falschen Zauber entlarvt. Was wir hier erleben, ist nichts anderes als das Schauspiel einer von sich selbst bezauberten Aufklärung.
Erotik und Kunst
Seither folgt die eine Entzauberung der anderen, und zwar in immer kürzeren Abständen. Und trotzdem fallen wir nicht ins vollkommen Zauberlose. Bei aller Verwissenschaftlichung verwandeln wir uns nicht in rein rational tickende Wesen. Zwei Bereiche bleiben bereits für Max Weber unangetastet von jeder Entzauberung: die Erotik und die Kunst. Auch wenn die Erotik sich durch Kommerzialisierung profaniert und die Kunst in manchen Bereichen ihre eigene Entzauberung betreibt, sind wir hier wie dort mit Erfahrungen konfrontiert, die ihr Faszinosum behalten.
Ein grundlegender Teil der Welt bleibt ohnehin rätselhaft. Was es mit den letzten Dingen auf sich hat, werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach offenlassen müssen. Warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, wissen wir immer noch nicht und werden es vermutlich nie erfahren. Ein paar Geheimnisse überleben jede Entzauberung.
Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott lebt in der Nähe von
Freiburg im Breisgau. 2015 erschien bei Hanser sein Roman «Die Auferstehung».
Nota. - Das werde ich kaum unkommentiert lassen können, aber heut ist es schon spät. Nehmen Sie als einstweiligen Ersatz mein Titelbild - und den Hinweis auf ein Buch, das ich zu diesem Thema einmal geschrieben habe.
JE
Nota. - Das werde ich kaum unkommentiert lassen können, aber heut ist es schon spät. Nehmen Sie als einstweiligen Ersatz mein Titelbild - und den Hinweis auf ein Buch, das ich zu diesem Thema einmal geschrieben habe.
JE
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