Chinas barbarische Jugend
Im August 1966 liessen Millionen von fanatisierten Schülern und Studenten ihr Idol Mao hochleben. Sie waren die ersten Vollstrecker der Greuel der Kulturrevolution.
von Beat U. Wieser
Vor fünfzig Jahren versank China für ein Dezennium in den Wirren der Kulturrevolution. Mao Zedong wollte angeblichen Revisionisten sowie bourgeoisen und kapitalistischen Kräften den Garaus machen. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei blies am 8. August 1966 am 11. Plenum zur Generaloffensive gegen den Revisionismus. Als Speerspitze dienten die sogenannten Roten Garden, die sich in Kreisen von Schülern und Studenten gebildet hatten. Die Motive der Gymnasiasten und Studenten waren uneinheitlich. Sie reichten von Bewunderung für Mao und seine revolutionären Ideale über akademische oder soziale Eigeninteressen bis hin zur schieren Lust an der Rebellion gegen ungeliebte Lehrpersonen. Was sich in den folgenden Monaten und Jahren daraus entwickelte, war ein wildes Treiben, das durch Menschenverachtung und Kulturzerstörung geprägt war.
Der Kaiser als Revolutionär
Schon seit 1956 war Mao getrieben von der Angst, der revolutionäre Schwung könne verloren gehen. Er sah eine neue Elite in Form der Staats- und Parteibürokratie entstehen. Der von Mao konstatierte Hauptwiderspruch zwischen Proletariat und Bourgeoisie hatte sich durch die kommunistische Machtübernahme nicht aufgelöst, sondern bloss verschoben. Die Befürchtung des grossen Steuermanns, die alte Klasse der Grundbesitzer und der städtischen Bourgeoisie werde durch eine neue Ausbeuterklasse der Funktionäre abgelöst, war keineswegs unbegründet.
Dabei focht es Mao allerdings nicht an, dass er selber an der Spitze dieser neuen Ausbeuterklasse stand. Er war der neue Kaiser, hatte aber das Selbstverständnis eines Revolutionärs. Da in China traditionellerweise die Herrschaft von oben kommt, war nach der Machtergreifung der Kommunistischen Partei deren Führer sakrosankt. Mao stand somit über dem Volk und der Partei, die er nach seinem Gusto umbauen oder – wie er nun im kulturrevolutionären Eifer versuchte – zugunsten einer neuen proletarischen Revolution zerstören konnte.
Das Vorspiel zur Kulturrevolution bestand in einer personellen Säuberung des obersten Machtzirkels. Seit dem Fiasko des Grossen Sprungs nach vorn, dessen ökonomische Fehlsteuerung in eine Hungersnot mit Dutzenden von Millionen Todesopfern geführt hatte, war Maos Macht geschwächt. Der alte Richtungsstreit zwischen Mao und Staatspräsident Liu Shaoqi sowie dem Generalsekretär der Partei, Deng Xiaoping, verschärfte sich. Liu suchte den Weg zum Sozialismus über eine effiziente Parteistruktur, Mao über Massenbewegungen. Liu liebäugelte mit einer Art Marktwirtschaft, Mao klammerte sich an die Planwirtschaft.
Mao konnte auf die Unterstützung der unter Marschall Lin Biao als Verteidigungsminister stark politisierten Volksbefreiungsarmee zählen. Er scharte überdies eine Gruppe radikaler Intellektueller aus Schanghai um sich, die über seine Frau Jiang Qing in seinen Dunstkreis vorgedrungen waren. Militärs, hohe Beamte und Intellektuelle, die seinen Kurs missbilligten, verschwanden fortan in der Versenkung. Als im August 1966 das 11. Plenum des 8. Zentralkomitees (ZK) einberufen wurde, nahm weniger als die Hälfte der regulären Mitglieder daran teil, da die übrigen bereits verfolgt wurden. Dieses Mao ganz hörige Rumpf-ZK degradierte Liu Shaoqi und erhob Lin Biao zur neuen Nummer zwei. Der Richtungsstreit war somit zugunsten Maos entschieden. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis Liu Shaoqi alle seine Ämter verlor, aus der Partei ausgeschlossen wurde und in der Haft unter Folter und Medikamentenentzug zu leiden hatte. Er starb 1969.
Maos skrupelloser Umgang mit Andersdenkenden war den Roten Garden ein Vorbild. Sie hatten nun freie Bahn, die vom Vorsitzenden gewünschte Massenbewegung gegen den Revisionismus zu lancieren. Zwischen dem 18. August und dem 26. November 1966 strömten sie zu Massentreffen in Peking. Kostenlos in die Hauptstadt transportiert und dort untergebracht, schwenkten die über zehn Millionen jungen Leute das rote Büchlein mit Maos Sprüchen, das Lin Biao für den Gebrauch in der Armee zusammengestellt hatte. Ihr zur Schau gestellter Fanatismus hatte die Dimensionen von Hitlers Propagandaauftritten.
Den Kern der Kultur im Visier
Der Lehrbetrieb an Schulen und Universitäten war inzwischen eingestellt worden. Professoren wurden auf die Strasse gezerrt, verhöhnt, verprügelt. Wer in China auch nur einen Hauch von Intellektualität ausstrahlte, war seines Lebens nicht mehr sicher. Der junge Mob mit den roten Armbinden brach in Wohnungen von Akademikern ein, vernichtete Bücher und Manuskripte, schlug oder ermordete deren Eigentümer. Menschen, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen, wurden mit sadistischer Freude erniedrigt, gequält, zu Tode geprügelt. Maos Parole für dieses brutale Treiben lautete «Revolutionärer Angriff auf die alten vier» – gemeint waren alte Ideen, alte Kultur, alte Bräuche, alte Gewohnheiten. Darin spiegelte sich der ausserordentlich destruktive Ansatz der Kulturrevolution. Zerschlagung des Bestehenden, des Althergebrachten stand im Vordergrund. Die Vorstellung von einem allfälligen Neuaufbau bestand nur als vage romantische Idee eines sozialistischen Paradieses. Die staatlich gesteuerte Verblendung der chinesischen Jugend hatte dennoch international einen gewissen Nachhall, der bis in die 1968er Bewegung in Europa hineinreichte.
Der vom Wahn der permanenten Revolution besessene Kaiser Mao zielte auf den Kern chinesischer Kultur. Die traditionell engen familiären Bande, das reiche Kulturerbe, Theater, Musik, Baukunst, konfuzianische Prinzipien wie Respekt vor den Älteren oder Wertschätzung für Bildung – alles kam unter die Räder. Bis heute hat sich China von den Folgen dieser Barbarei nicht ganz erholt. Es herrscht eine gewisse kulturelle und geistige Öde im Land, die auch von Einheimischen beklagt wird. Manche verwüstete Kulturstätte wurde inzwischen zwar renoviert oder rekonstruiert. Doch eine tiefere Verbundenheit mit dem kulturellen Erbe resultierte nicht immer daraus, vielmehr oft ein exorbitanter Tourismuskommerz. Qufu, der Geburts- und Sterbeort von Konfuzius, wo die Roten Garten besonders wild gewütet haben, ist heute aber für junge Chinesinnen und Chinesen mitsamt ihren Familien auch aus ideellen Gründen wieder eine Reise wert.
Denunziationen, Verleumdungen, Misstrauen prägten in den sechziger Jahren den Alltag vieler Chinesinnen und Chinesen. Der Diffamierungsterror diente nicht selten persönlichen Abrechnungen und richtete sich fast immer auch gegen die Familien, Freunde, Mitarbeiter und Weggefährten der verleumdeten Personen. Auch hohe Funktionäre und Minister wurden nicht verschont. Sogar Kinder denunzierten ihre eigenen Eltern, schwärzten sie bei Funktionären an, weil sie Maos Kurs kritisierten, und lieferten sie damit bewusst ans Messer der staatlichen Schergen, die sie öffentlich vorführten, schlugen und schliesslich exekutierten. Rotgardisten bezahlten Teenager, damit diese in rivalisierenden Gangs Kinder töteten. Der Grausamkeit schienen keine Grenzen gesetzt. So berichtete eine Augenzeugin, wie eine Grossmutter zusammen mit ihrer Enkelin lebendigen Leibes begraben wurde. Und die sterblichen Überreste von Opfern sollen auch schon einmal verspeist worden sein – wobei die Körperteile nach Rang unter den Teilnehmern des garstigen Mahles aufgeteilt wurden.
Die Rotgardisten waren gewaltbereit, und Mao hetzte sie zusätzlich gegen den angeblichen Klassenfeind auf. Ihr Vokabular enthielt Verben wie niedermachen, aufhängen, abfackeln oder den Aufruf «Ins Grab mit ihnen». Dieser Furor bezog seine Nahrung unter anderem aus der Frustration vieler junger Chinesen Mitte der sechziger Jahre. Die Jugendarbeitslosigkeit war gross, die Entfaltungsmöglichkeiten für junge Leute klein. Das Leben im Wohn- und Arbeitskollektiv war eintönig und fremdbestimmt. Ablenkung oder Unterhaltung gab es kaum, dafür jede Menge Reglementierung, Überwachung sowie Studium von Maos Schriften. Die Jugendlichen waren entsprechend indoktriniert und auf Maos Linie eingeschworen, aber auch innerlich aufgeladen. Die Kulturrevolution brach der aufgestauten Energie Bahn. Endlich musste man nicht mehr den Eltern oder Lehrern gehorchen, oft auch den Funktionären nicht. Man hatte Macht, konnte kostenlos durchs Land reisen, überall eingreifen und selbst entscheiden, zum Teil gar über Leben und Tod. Verantworten musste man das anarchische Treiben nicht, das war Maos Aufgabe.
Ein weiteres Merkmal kulturrevolutionären Eifers waren die zwangsweisen Verschickungen junger gebildeter Leute aufs Land, um ihnen das harte Leben der Bauern näherzubringen und sie deren Entbehrungen am eigenen Körper spüren zu lassen. Für die meisten waren es verlorene Jahre, in denen sie keine Schule besuchen und nicht studieren konnten. Dringend benötigtes geistiges Potenzial lag brach, und überdies wurden auf solche Weise Familien brutal und sinnlos auseinandergerissen.
Ausser Kontrolle
Das Chaos war programmiert. Weder waren die Roten Garden in ihrer Jugendlichkeit eine gefestigte und entsprechend homogene Kraft, noch folgten Politik und Militär geschlossen dem Vorsitzenden Mao. Die Beschlüsse in den Parteigremien spiegelten Einmütigkeit oft nur vor. Mao trieb die städtische Jugend zum Massenangriff auf den Apparat von Partei und Staat. Dieser setzte sich aber teilweise zur Wehr und stellte eigene Rote Garden auf. Die Rotgardisten zerfielen in unterschiedliche Faktionen, die sich gegenseitig bekämpften. Jede Gruppe meinte, sie zähle zu den wahren Mao-Getreuen. Die Gewalt ging alsbald nicht allein von den Rotgardisten aus, sondern auch von Teilen des Militärs, von Revolutionskomitees, von Rebellen, die sich regional organisiert hatten. Vielerorts herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Mao entglitt die Kontrolle über seine eigene Massenbewegung immer mehr. Im Juli 1968 ordnete er deshalb die Auflösung der Roten Garden an. Die junge ehemalige Vorhut der Revolution war abgehalftert und wurde aufs Land verschickt. Welch ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit nach den zwei Jahren eines skrupellosen Höhenflugs der Gewalt! Doch die Hatz auf angebliche Verräter, Abtrünnige und Spione ging weiter. Wer Verbindungen zum Ausland hatte, musste mit dem Schlimmsten rechnen. Funktionäre beglichen alte Rechnungen und bezichtigten manche Landsleute erfundener Verbrechen. Viele Verfolgte begingen aus Verzweiflung Selbstmord.
Ein krankes, schwaches Land
Mao versuchte nun, mit den Militärs einen neuen Staat aufzubauen. Schon ab 1969 setzte der Kampf um seine Nachfolge ein. Lin Biaos Macht zerbröckelte, denn Mao setzte nunmehr auf die Schanghaier Gruppe um seine Frau Jiang Qing (die Viererbande) und auf Ministerpräsident Zhou Enlai. Nach einem gescheiterten Attentatsversuch kam Lin Biao 1971 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Von da bis zu Maos Tod 1976 bewegte sich Chinas Politik wieder entlang des alten Richtungsstreits. Ökonomisch und aussenpolitisch hielt Ministerpräsident Zhou Enlai die Zügel in der Hand und ebnete wirtschaftspolitischen Pragmatikern wie Deng Xiaoping den Weg zurück ins Amt. Ideologisch führte Jiang Qings Viererbande das Zepter und sorgte weiter für kulturrevolutionären Wind. Mao war inzwischen krank und schwach – so wie China auch.
Der grosse Steuermann hatte das Land mit seinem Grossen Sprung nach vorn und mit der Kulturrevolution ökonomisch, politisch und kulturell heruntergewirtschaftet. Die Opferbilanz lässt sich in exakten Zahlen schwer abschätzen, ist aber katastrophal: zwischen zwanzig und vierzig Millionen Menschen starben in der Hungersnot nach dem Grossen Sprung nach vorn, ein bis zwei Millionen kamen in der Kulturrevolution um, weitere Dutzende von Millionen wurden aufs Land gezwungen oder mussten Verfolgung, Erniedrigung und Folter über sich ergehen lassen. Trotzdem prangt Maos Porträt bis heute am Tor des Himmlischen Friedens in Peking.
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