aus nzz.ch, 31.8.2016, 20:38 Uhr Anhänger von Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilia während der Amtsenthebung der Präsidentin.
Opfer des eigenen Spiels
Dilma
Rousseff und deren Vorgänger Lula da Silva haben nie etwas an den
politischen Verhältnissen in Brasilia verändert, sondern sie gepflegt.
Nun sind sie daran gescheitert.
Luiz
Inácio Lula da Silva war da. Zusammen mit den Führern sozialer
Bewegungen und dem Musiker Chico Buarque sass der Ex-Präsident auf der
Tribüne des Senats und lauschte den Worten Rousseffs, die sich am Montag
in stundenlanger Rede gegen ihre Absetzung wehrte. Lula da Silva wollte
das Bild des Vaters aufrechterhalten, der seine Tochter nicht im Stich
lässt. Schliesslich hatte er Rousseff selbst aufgebaut und auf den Thron
gehievt, als er das Amt 2009 abgeben musste. Doch vielleicht ging es
Lula da Silva auch gar nicht so sehr um die väterlichen Pflichten an
diesem denkwürdigen Tag in Brasilia, sondern darum, seiner «Tochter» auf
die Finger zu schauen. In kaum einem Satz sprach Rousseff von ihrer
Partei, dem Partido dos Trabalhadores (PT), und ihrem Vorgänger Lula da
Silva, als ob diese nichts mit ihr und dem Prozess gegen sie zu tun
hätten.
Pfründen für Arm und Reich
In
Tat und Wahrheit haben Lula da Silva und der PT sehr viel mit Rousseffs
Absetzung zu tun – wahrscheinlich sogar mehr als sie selbst. Rousseff
ist vergleichsweise unbescholten, gilt als ehrlich und arbeitsam. Sie
hat sich als Beamte hochgearbeitet bis zur Kabinettschefin unter Lula da
Silva. Sie hat seine Regierungsarbeit verrichtet, er die Politik.
Brasilien erlebte eine Hochblüte unter diesem Zweiergespann. Die
Wirtschaft war ein Selbstläufer und erlaubte es der PT-Regierung, die
Staatsausgaben hochzufahren und Pfründen zu verteilen – an die Armen, um
den Prinzipien gerecht zu werden und den Erfolg an der Urne zu sichern,
und an die Reichen und Einflussreichen, um sich den Rückhalt in
Brasilia zu sichern.
Wie
Letzteres funktioniert, durften die Brasilianer bereits 2005
feststellen, als auskam, dass die Regierung Dutzende von Parlamentariern
mit monatlichen Schmiergeldzahlungen bei der Stange hielt. Der Lack des
bis dahin moralisch unbescholtenen PT hatte einen ersten tiefen Kratzer
abbekommen. Einige der treusten Anhänger spalteten sich ab – aus Scham
und weil sie ein revolutionäres Wirtschaftsprogramm erwartet hatten.
Doch das Gros der Wähler wollte es noch einmal gut sein lassen. Alle
waren zufrieden. Lula und sein PT ritten auf einer Welle der
Beliebtheit, die ihresgleichen suchte. Wer Lula nicht liebte, der
respektierte ihn, unabhängig von der sozialen Klasse.
Was
damals noch niemand wusste, war, dass der PT und seine weitgehend
ideologiefreien und opportunistischen Koalitionspartner bereits eine
neue Quelle des Zusammenhalts hatten: Petrobras. Der staatlich
kontrollierte Erdölkonzern begann durch die Erdölfunde vor der Küste
gerade richtig abzuheben. Milliarden wurden in Infrastrukturprojekte
gesteckt. Wie überall in Brasilien, wo Staat und Wirtschaft
zusammentreffen, wurde überteuert und zugelangt. Statt Barzahlungen gab
es prozentuale Beteiligungen an überteuerten Projekten für die
alliierten Parteien und deren wichtigste Köpfe. Der Wahlkampf ist teuer
in Brasilien, und wer Geld hat, gewinnt. Es war kein neues Modell, diese
Art der Korruption hatte schon immer existiert. Neu war nur die
Dimension.
Der Staat für die Partei
Als
Lula da Silva 2009 nicht mehr zu den Wahlen antreten durfte, hievte er
die unbekannte Dilma Rousseff ins Amt. Doch er hinterliess ihr eine
schwierige Aufgabe. Die Wirtschaft war ins Stocken geraten, weil Chinas
Rohstoffhunger abgenommen hatte, und das zauberhafte Rezept, den Konsum
mit mehr Ausgaben und Krediten anzukurbeln, hatte seine Wirkung
verloren. Die Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang und dem Verlust
erlangter Privilegien richtete sich rasch gegen die Regierung und damit
gegen Rousseff und den PT. Trotz allem – und mit tatkräftiger Hilfe von
Lula und des verführerischen Propagandaapparates des PT – rettete sich
Rousseff 2014 in eine zweite Amtszeit.
Doch
dann kam der Skandal um Petrobras ans Licht, was sich als verheerend
erweisen sollte. Einerseits führte er dem Land vor Augen, wie tief die
moralische Messlatte des PT gesunken war und dass die Partei in dreizehn
Jahren an der Macht nichts an den politischen Verhältnissen verändert,
sondern sie eifrig gepflegt hatte. Die versprochene linke Revolution
hatte es nie gegeben, denn es war nicht der PT, der den Armen etwas
Prosperität gebracht hatte, sondern die Wirtschaft. Der Staat hingegen
war zu einem Instrument verkommen, um der Partei den Machterhalt zu
sichern. Gleichzeitig bedeutete die Aufdeckung des Skandals den Tod der
Milchkuh. Es war der Anfang vom Ende der Koalition, die später
zerbrechen und sich zur Opposition formieren sollte. Es gab keinen Grund
mehr, am PT festzuhalten, denn er stellte keinen Garant mehr dar für
Macht und Privilegien. Der PT war verraten und isoliert.
Hinzu
kam, dass die führenden Figuren der Partei selbst unter
Korruptionsverdacht gerieten – allen voran Lula da Silva. Hatte man ihm
2005 noch seine unter Tränen geäusserten Unschuldsbeteuerungen
abgenommen, während seine engsten Minister über die Klinge springen
mussten, so war sein Mythos mit der Aufdeckung des Petrobras-Skandals
definitiv zerstört.
Die Absetzung als Chance
Der
Versuch, Lula da Silva durch eine Nominierung zum Minister vor
erstinstanzlicher Strafuntersuchung zu schützen, scheiterte. Inzwischen
ist der Ex-Präsident offiziell angeklagt, und die Untersuchungen sind
noch lange nicht abgeschlossen. Auch wenn er einer Strafe entgehen kann,
so ist seine Popularität Geschichte. Einst der Präsident mit der
höchsten jemals erreichten Zustimmung, ist er heute eine Figur, die auf
sehr grosse Ablehnung stösst. Gegen wen er in einer fiktiven Stichwahl
auch antreten würde, im Moment hätte Lula da Silva kaum eine Chance,
nochmals Präsident zu werden.
Hier
liegt das grosse Problem des PT. Denn Lula da Silva verkörpert die
Partei. Mit ihm steht und fällt der PT, wobei es derzeit vor allem
Letzteres ist. Allerdings wäre es töricht, Lula da Silva abzuschreiben.
Der Lula da Silva, der am Montag auf der Tribüne des Senats sass, war
nämlich nicht die Vaterfigur, die er zu sein vorgab, sondern der
Wahlkämpfer, der schlaue Fuchs mit dem Funkeln in den Augen. Er wird es
nie zugeben, doch insgeheim dürfte Lula da Silva genau auf diesen
Ausgang des Verfahrens gehofft haben.
Das
Impeachment gegen seine unschuldige Ziehtochter ist die letzte Chance,
die ihm und dem PT bleibt. Wäre Rousseff im Amt geblieben, hätte sie den
Karren unter der Flagge des PT vollends gegen die Wand gefahren. Doch
nun sind sie Opfer einer Verschwörung, eines Putschs, wie sie schon seit
Monaten argumentieren. Darauf lässt sich aufbauen. Die Kampagne für die
Präsidentschaftswahlen 2018 hat längst begonnen. Und der «Putsch» gegen
Rousseff, gegen den PT, gegen Lula da Silva und alle Errungenschaften,
die sie sich auf die Fahne schreiben, wird dabei im Mittelpunkt stehen.
Wie fruchtbar die Strategie der Opferrolle sein wird, lässt sich noch
nicht ausmalen. Brasilien ist in diesen Monaten noch unberechenbarer
geworden, als es ohnehin schon war.
Auch
die anstehenden Kommunalwahlen im Oktober dürften kein echter
Gradmesser für die weitere politische Entwicklung sein. Die Niederlage
des PT bei diesem Urnengang ist unausweichlich. Das einstige
Aushängeschild Lula hat sich zur Last entwickelt. Symptomatisch dafür
ist, dass sein Name in der Kampagne des zur Wiederwahl antretenden
Bürgermeisters von São Paulo, Fernando Haddad, nicht einmal erwähnt
wird, obwohl er Lula seine Wahl vor vier Jahren zu verdanken hat.
Haddad,
der in den Umfragen weit zurückliegt, tritt unter anderem gegen zwei
Kandidatinnen an, die bereits einmal für den PT Bürgermeisterinnen
waren, sich nun jedoch nach links und nach rechts anderen Parteien
zugewandt haben. Im Moment lassen sich mit dem PT keine Stimmen machen.
Ob sich das in naher Zukunft ändern wird, ist fraglich. Denn auch die
Basis des PT, die immer sehr breit und gut organisiert war, scheint zu
schwächeln. Der Partei gelingt es nicht mehr, spontan die Massen zu
mobilisieren, sie hat das Monopol auf die Strasse verloren.
Lula
da Silva sagte neulich in einem selten selbstkritischen Moment, dass
der PT seine Visionen verloren habe, an Machtgier erkrankt sei und eine
Erneuerung brauche. Wieder einmal hatte er recht. Doch er vergass dabei,
dass es möglicherweise er selbst ist, der dieser Erneuerung im Wege
steht.
Nota. - Während man im Fall Venezuelas vom Scheitern des autoritären Reformismus reden kann, ist in Brasilien nicht einmal der demokratische Reformismus gescheitert. Nicht demokratisch hat die PT regiert, sondern oligarchisch, wie alle in Brasilien vor ihr. Und Reformen hat sie sich gar nicht erst zuschulden kommen lassen - das darf ihr sogar die Neuen Zürcher unter die Nase reiben! Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
JE
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