Stephan Laudien
Stabsstelle Kommunikation/Pressestelle
Friedrich-Schiller-Universität Jena
13.03.2014 09:47
Kirchenhistoriker der Universität Jena gibt Buch über „Das evangelische Pfarrhaus“ heraus
Hermann Hesse, Jean Paul, Albert Schweitzer, Friedrich Nietzsche,
Gudrun Ensslin und Angela Merkel haben etwas gemeinsam: Sie alle wuchsen
in einem evangelischen Pfarrhaus auf. Weil zahlreiche Dichter und
Denker, Philosophen und Wissenschaftler im Pfarrhaus ihre Wurzeln haben,
rankt sich ein Mythos um diesen Ort. Dieser Mythos wurde 2011 auf einer
Tagung an der Friedrich-Schiller-Universität entzaubert. Nun liegt ein
Buch über das Phänomen evangelisches Pfarrhaus vor, das den Untertitel
„Mythos und Wirklichkeit“ trägt und verschiedene, interdisziplinäre
Beiträge versammelt.
„Mit dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments 1918 rutschte die
evangelische Kirche in Deutschland in eine Legitimationskrise, die unter
anderem eine Neubesinnung auf das Pfarrhaus als Geburtsort der
deutschen Dichter und Denker mit sich brachte“, sagt Prof. Dr.
Christopher Spehr von der Universität Jena. Der Kirchenhistoriker hat
gemeinsam mit Thomas A. Seidel, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für
thüringische Kirchengeschichte und Geschäftsführenden Vorstand der
Internationalen Martin-Luther-Stiftung, das Buch „Das evangelische
Pfarrhaus“ herausgegeben.
Spehr verortet die kulturelle Vertiefung des „Mythos Pfarrhaus“ in die
Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die Institution evangelisches Pfarrhaus
reicht jedoch bis in die Reformationszeit zurück.
Über Jahrhunderte habe der Pfarrer im deutschsprachigen Raum eine
Sonderstellung in seiner Gemeinde inne gehabt, sagt Christopher Spehr.
Das Pfarrhaus sei gleichsam als „Glashaus“ wahrgenommen worden.
Erwartete man vom Pfarrer doch eine beispielgebende Lebensführung. Dazu
gehörten eine vorbildliche Ehe sowie die gottgefällige Erziehung der
Kinder. Diese Sonderstellung des Pfarrhaushalts wurde auf Martin Luther
zurückgeführt, dessen Ehe mit Katharina von Bora als mustergültig
angesehen wurde.
Plastisch schildert die Historikerin Luise Schorn-Schütte, wie die
Realität in den Pfarrhaushalten des 16. bis 18. Jahrhunderts aussah. Die
Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger verweist in ihrem
Beitrag im Buch darauf, dass der Pfarrer in den ländlichen Gemeinden als
ein Fremder wahrgenommen worden sei. Ein Fremder, der die Zeit für so
„unnütze Tätigkeiten“ wie Musik und Literatur, aber auch Vogelkunde und
Bienenzucht gehabt habe. Zugleich verwaltete der Pfarrer über die
Kirchenbücher die Lebensdaten der Dorfbewohner. Das Pfarrhaus war also
das Archiv des dörflichen Lebens.
In den letzten Jahren hat sich der Charakter des evangelischen
Pfarrhauses radikal gewandelt. Das machen die weiteren Beiträge des
Buches deutlich. So leben inzwischen zahlreiche Singles in den
Pfarrhäusern, deren Zuschnitt auf große, kinderreiche Familien ausgelegt
ist. Normierte Arbeitszeiten haben das Rollenverständnis im Beruf des
Pfarrers verändert – das Pfarrhaus steht nicht mehr jederzeit für
Besucher offen. Besonders augenfällig werden die Veränderungen durch die
Rolle der Frauen. Einst war die Frau des Pfarrers im Wortsinne die
„gute Seele“ des Hauses. Ihr oblagen Kindererziehung und Hauswirtschaft,
sie hatte dafür zu sorgen, dass dem Pfarrer im Amt kein Nachteil
erwachsen möge. Inzwischen üben viele Frauen selbst das Pfarrersamt aus,
während ihre Männer nicht selten in einem anderen Beruf arbeiten.
Eine weitere Herausforderung ist die sinkende Zahl der
Kirchenmitglieder. „Heute betreut ein Pfarrer oft mehrere Gemeinden“,
sagt Christopher Spehr. So könne das Pfarrhaus nicht mehr Zentrum eines
Ortes sein. Doch der Wandel im ländlichen Raum bietet durchaus Chancen:
„Die Gemeinde selbst rückt wieder mehr ins Zentrum, wenn das Pfarrhaus
an Bedeutung verliert“, sagt Prof. Spehr, der selbst in einem
westfälischen Pfarrhaus aufgewachsen ist. Das Pfarrhaus bleibe trotz
aller Veränderungen immer noch ein besonderer Ort.
Bibliographische Angaben:
Thomas A. Seidel, Christopher Spehr (Hg.): „Das evangelische Pfarrhaus.
Mythos und Wirklichkeit“, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, Leipzig
2013, 220 Seiten, 24 Euro, ISBN: 978-3-374-03341-6
Kontakt:
Prof. Dr. Christopher Spehr
Theologische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Fürstengraben 6, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 941130
E-Mail: christopher.spehr[at]uni-jena.de
Weitere Informationen:
http://www.uni-jena.de
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