Die Wahrheit von Workuta
Kaum zu ertragen ist, was Julius Margolin nach seiner Odyssee durch den Gulag zu erzählen hatte
Kaum zu ertragen ist, was Julius Margolin nach seiner Odyssee durch den Gulag zu erzählen hatte
von Andreas Breitenstein
· Es war einmal eine Weltvollendungsideologie, welche die Menschheit in
Gläubige und Ungläubige spaltete. Ihr Name war Kommunismus und ihre
Heimat die Sowjetunion. Die Kommunisten waren 1917 an die Macht gelangt,
doch weil das für die nahe Zukunft vorausgesagte Heil einer
klassenlosen Gesellschaft nicht eintreffen wollte, mussten immer neue
Schuldige her, um zu erklären, warum das Experiment (noch) nicht
funktionierte. Dabei war das grösste Übel bald beiseitegeräumt: der Zar,
der Adel und das liberale Bürgertum, die kritische Intelligenz und die
an ihrer Scholle hängenden Kleinbauern. Blieben, sich endlos vermehrend,
die «Verräter» in den eigenen Reihen. Säuberungen wurden zum Krebs des
Systems. Der Gulag wurde erfunden, wer irgendwie «auffällig» wurde, ging
den Weg nach Sibirien - ohne Wiederkehr. Nach aussen hin wusste man den
schönen Schein von Gleichheit und Brüderlichkeit schlau zu wahren. Wer
den roten Terror zu kritisieren wagte, war ein Ketzer. Jugendbewegt,
absolut modern und nach dem «Tod Gottes» auf der Suche nach einer neuen
Religion, liessen sich die Genossen weltweit vom utopischen Spuk in der
UdSSR nur zu gern blenden.
Ende einer Illusion
Vor uns liegt ein Buch, das an die
Nieren und Wurzeln geht. Es räumt mit sämtlichen Illusionen auf, die
man sich jemals über die mögliche Humanität des real existierenden
Sozialismus machen konnte. Verfasst hat es einer, der den ganzen Kreis
der sibirischen Hölle abschritt und trotz unsäglichem eigenem Leid ein
kaltes Auge und einen klaren Verstand bewahrte. Sein Blick führt hinter
die Propagandakulissen in einen Abgrund, in dem namenlos und unbeweint
zig Millionen von Toten liegen. «Das Land der Lager ist in keiner
sowjetischen Karte eingetragen, man findet es in keinem Atlas. Es ist
das einzige Land der Welt, wo es über die Sowjetunion keinen Streit,
keinen Irrtum und keine Illusionen gibt», schreibt der 1937 nach
Palästina ausgewanderte Pole Julius Margolin im Ingress zu seinem
600-Seiten-Epos über seine fünfjährige Odyssee durch das Schattenreich
des Archipel Gulag. Am 21. Juni 1946 war er als Greis von 46 Jahren aus
dem Besserungsarbeitslager Kotlas im Gebiet Archangelsk entlassen
worden. In nur zehn Monaten schrieb er jenes Buch der Erinnerung nieder,
dessen Plan ihn in der Verzweiflung am Leben gehalten hatte. Dabei war
der Hass in ihm schon lange erkaltet, denn Täter waren alle und keiner -
es war der real gewordene Traum vom Kommunismus, der Ungeheuer gebar.
Julius Margolin: Reise in das Land der Lager. Aus dem
Russischen und mit einem Nachwort von Olga Radetzkaja. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013. 638 S., Fr. 51.90.
Russischen und mit einem Nachwort von Olga Radetzkaja. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013. 638 S., Fr. 51.90.
Sein Überleben sieht Margolin als Verpflichtung, die ganze Wahrheit zu sagen. Es geht darum, die Verbrechen zu benennen, die mörderische Logik des Systems zu durchschauen und an die Opfer zu erinnern. Während sein Manuskript wächst, gehen in den Weiten des hohen Nordens noch immer Legionen an Sklavenarbeit zugrunde. Margolins Glück war es, sich als Mensch westlicher Denkungsart im Innern des Horrors den stereoskopischen Blick von aussen und im Kern die Rationalität zu bewahren. Ohne den Anker des Logos hätte ihn das Absurde verschlungen.
Nur schon der erste Teil, wo
Margolin schildert, wie er als Heimatbesucher in Lodz bei Kriegsausbruch
am 1. September 1939 in die Zange zwischen der Wehrmacht und der Roten
Armee gerät, lohnt die Lektüre. So dramatisch und drastisch, so
aufwühlend und anschaulich hat man noch nie gelesen, was der
Hitler-Stalin-Pakt für den nichtsahnenden Einzelnen bedeutete, zumal
dann, wenn er jüdisch war. Margolins Flucht geht nach Osten, vorbei an
endlosen Flüchtlingszügen. Doch ist Rumäniens Grenze gesperrt und bleibt
der Hafen von Constanza, wo er sich nach Haifa zu seiner Familie
einschiffen will, unerreichbar.
Als die Rote Armee am 17.
September in Ostpolen eindringt, kennt die Verwirrung kein Ende. Wo die
Juden von Pinsk die Sowjets zunächst als Befreier bejubeln, macht sich
bald Entsetzen breit, als die Sowjetisierung mit politischer und
ethnischer «Säuberung» zu greifen beginnt. Die neuen Herren, die sich
als Befreier geben, zeigen ihr wahres Gesicht, denn der Totalitarismus
ihrer Weltanschauung lässt sich nur mit Terror durchsetzen. Margolin,
als Brillenträger per se verdächtig, wird 1941 verhaftet, weil er sich
ohne gültige Papiere auf sowjetischem Staatsgebiet (!) befindet, und in
ein Straflager am Weissmeerkanal deportiert. Er ahnt nicht, dass die
Welt seiner Kindheit, die er zurücklässt, der Vernichtung geweiht ist.
Da, wo der «rollende Sarg» mit
seiner Menschenfracht zum Stehen kommt, leben die «Waldbewohner».
Spätestens hier verwandelt sich das Buch in einen Schwarz-Weiss-Film von
so dämonisch-tragisch-grotesker Art, als hätten Dante und Tarkowski
gemeinsam Regie geführt. Die Seiten quellen über von Episoden und
Figuren, von denen jede auf ihre Weise signifikant ist. Margolin
entwirft eine detaillierte Phänomenologie der «Staatssklaverei» - vom
Holzschlag über die Bewachung bis zum Strafwesen, vom Essen über die
Hygiene bis zur Bürokratie, von den Arbeitsnormen, den Formen des
Widerstands und den Arten des Sterbens. Aller Würde entkleidet, werden
die Gefangenen zu gierigen Agenten ihres nackten Überlebens. Anstrengung
und Hunger, Kälte und Hoffnungslosigkeit zehren an ihnen - und sie
selber etablieren eine brutale Hackordnung. Anfangs sind die Polen als
fremde Gruppe noch geschützt, doch dann verschwinden sie in der
«mausgrauen» Masse.
Funken von Humanität
Mit stockendem Atem liest man
dieses Buch, das nicht nur den Schleier vom obszönen innersten Geheimnis
des Sowjetkommunismus reisst, sondern auch ein sprachliches und
erzählerisches Meisterwerk darstellt. Margolin hat auf seinem Weg durch
die Lagerwelt unglaubliches Glück, denn kaum einer überlebt auf Dauer
Hunger und Kälte, Demütigung und Schinderei. Bis zur Selbstverleugnung
sucht er der eigenen Entmenschlichung zu widerstehen - und immer wieder
helfen ihm Leute, die sich Funken von Humanität bewahrt haben.
Julius Margolin mit seinem Wissen,
seiner Weisheit und seinem Witz ist der Richtige, sich der Absurdität
anzunähern, dass hier der Preis für eine bessere Welt gezahlt wird. 1900
in Pinsk geboren, vielsprachig sozialisiert und hoch gebildet, war er
einer jener selbstbewussten jungen Juden, die sich vom religiösen
Herkunftsmilieu im Osten emanzipierten und in den europäischen
Metropolen den aufgeklärt-säkularen Weg gingen. Seine Aufzeichnungen
gehören fortan zusammen mit jenen von Alexander Solschenizyn und Gustav
Herling, aber auch von Primo Levi und Imre Kertész genannt. «Reise in
das Land der Lager» ist eines der grossen Erinnerungsbücher des
totalitären 20. Jahrhunderts. Der Vergleich von Gulag und Holocaust ist
problematisch, doch stellt er sich hier auf dämonisch-ironische Weise
von alleine ein: Es war am Ende der Horror des Gulag, der den Autor vor
dem Tod in einem NS-Vernichtungslager bewahrte.
Workuta
Workuta
Ich bin die Tochter eines Workuta-Häftlings und versuch gerade, das Leben meines Vaters und speziell auch die Gulag-Zeit für meine Enkelkinder anschaulich darzustellen. Ich finde nicht viele Fotos, die die extreme Situation illustrieren.
AntwortenLöschenDas Bild aber von dem trostlosen Lager in der winterlichen Einöde würde ich gerne einfügen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir dies gestatten würden.
Mit freundlichen Grüßen aus Berlin
Barbara Hecht
Das Bild gehört mir gar nicht. Es stammt aus dem Internet, die REchte dürften verfallen sein.
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