Samstag, 22. März 2014

Vor zweihundert Jahren: der Wiener Kongress.


Im August jährt sich zum hundertsten Mal der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Zeitungen sind voll davon. Damals erinnerte sich wohl kaum jemand daran, dass sich im selben Moment zum hundertsten Mal der Wiener Kongress gejährt hatte - jenes diplomatische Großereignis, das das europäische Gleichgewicht geschaffen hatte, das der Weltkrieg ein für allemal zerstören sollte..


aus NZZ, 22. 3. 2014

Das Konzert der Grossen
Der Wiener Kongress, die Diplomatie und die Neugestaltung Europas vor zweihundert Jahren

von Paul Widmer

Von September 1814 bis Juni 1815 dauerte der Wiener Kongress. Die Bilanz des Versuches, Europa nach Napoleons Abtritt von der Bühne der Geschichte neu zu ordnen, fällt zwiespältig aus.

Vor hundert Jahren erschoss der jugoslawische Nationalist Gavrilo Princip in Sarajevo das österreichische Thronfolgerpaar. Diese Tat eines Gymnasiasten löste enorme Kettenreaktionen aus, die in den Ersten Weltkrieg mündeten. Die Millionen von Toten erschütterten das europäische Selbstverständnis und rissen die Vorherrschaft des alten Kontinents mit sich ins Grab. Zu Recht entsinnt man sich dieses Zentenariums. Aber man sollte den Blick auch zweihundert Jahre zurückwerfen, auf den Wiener Kongress. Die beiden Ereignisse stehen in einem inneren Zusammenhang. Damals wurde unter schwierigsten Bedingungen eine Friedensordnung errichtet, die Vorkommnisse wie den Grossen Krieg gerade hätte verhindern sollen. Rund fünfzig Jahre lang gelang dies recht gut. Doch dann versagte die Diplomatie zusehends. Die nationalistischen Kräfte gewannen die Oberhand, und die europäischen Staatsmänner schlitterten sehenden Auges in die Katastrophe.

Der Wiener Kongress war ein diplomatisches Grossereignis. Noch nie waren so viele Fürsten zusammengekommen, um direkt miteinander zu verhandeln. Alle folgten der Einladung des Gastgebers, des österreichischen Kaisers Franz I.: Zar Alexander I., der preussische König Friedrich Wilhelm III., der britische Aussenminister Lord Castlereagh, der doppelzüngige Talleyrand aus Paris; und es wimmelte von Fürsten und Gesandten aus den Mittel- und Kleinstaaten, die die tonangebenden Vertreter der Grossmächte umschwärmten. Die wichtigste Gestalt war indes nicht der Gastgeber, sondern dessen Aussenminister Clemens Fürst von Metternich. Er führte Regie - aus dem Büro, aber auch aus dem Boudoir.

Keine Konferenz wie heute

Der Wiener Kongress war keine Konferenz, wie wir sie uns heute vorstellen. Nichts von einer feierlichen Eröffnung mit allen Teilnehmerstaaten, nichts von geregelten Plenarsitzungen unter der Leitung eines Präsidenten. Eine Vollversammlung gab es nicht - ausser ganz am Schluss, als die meisten Delegationen schon abgereist waren. Dafür traf man sich ständig zu gesellschaftlichen Anlässen, schliesslich soll der Kongress ja ausgiebig getanzt haben, und man antichambrierte nach allen Seiten. Was die Knochenarbeit betraf, so delegierte man sie wie üblich an die Ausschüsse. Die Statistische Kommission beispielsweise erstellte die Grundlagen, welche zur Legitimation von Gebietsverschiebungen dienten.

Das ausschlaggebende Gremium war ein Vierer- und später ein Fünferausschuss. Ihm gehörten die Grossmächte Russland, Österreich, Preussen und England an, später auch Frankreich. Obschon Kriegsverlierer, hatte es Talleyrand mit geschicktem Lavieren verstanden, Frankreich schon nach drei Jahren auf dem Kongress zu Aachen (1818) den Zugang zu diesem exklusiven Klub zu verschaffen. Niemand kam - so der Altmeister der Geschichte der Neuzeit, Heinz Duchhardt, in seinem vorzüglichen Buch «Der Wiener Kongress» (München 2013) - um dieses «Entscheidungskartell» herum. Wer ein Anliegen hatte, musste jemanden aus dem Kreis der Grossmächte gewinnen, damit dieser dort als sein Anwalt auftrat. Die Vertreter der mittleren und kleineren Staaten hatten höflichst vor der Tür zu warten.

Besonders erfolgreich im Lobbyieren war die Genfer Delegation mit Charles Pictet de Rochemont an der Spitze. Dieser Gentleman traf sich jeden Morgen um fünf mit Johannes Graf Capo d'Istria, einem einflussreichen Berater des Zaren - was übrigens auch beweist, dass einige Abgesandte nicht tanzten, sondern hart arbeiteten. Dank den guten Beziehungen zur russischen Delegation gelang es, die internationale Zustimmung zum Beitritt Genfs zur Eidgenossenschaft zu erwirken, das Genfer Territorium auf Kosten Frankreichs und Savoyens zu arrondieren und die Schweizer Neutralität problemlos bestätigen zu lassen. Pictet verrichtete seine Arbeit so gut, dass ihn die Tagsatzung, sobald Genf dem Bund beigetreten war, als ihren Vertreter an die Zweite Pariser Friedenskonferenz entsandte. Unschätzbare Dienste leistete auch der Waadtländer Gesandte Frédéric César de Laharpe. Zar Alexander begegnete seinem ehemaligen Erzieher immer noch mit Hochachtung und hegte für dessen Heimat eine unerschütterliche Zuneigung.

Der Wiener Kongress verfolgte einen Hauptzweck: Nach den Wirren der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen sollte Europa wieder eine stabile Ordnung erhalten. Die Fürsten wollten das vorrevolutionäre Europa auf der Grundlage der Legitimität restaurieren. Das kam vornehmlich Frankreich zustatten. Es wurde grosszügig behandelt. Ludwig XVIII. als legitimer Herrscher über jene Nation, die Europa mit Kriegen überzogen hatte, musste keine nennenswerten Gebiete abtreten, nicht einmal das Elsass. Was für ein Unterschied zu den vom Geist der Revanche erfüllten Versailler Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg!

Aber überall nahm man es mit dem Prinzip der Legitimität nicht so genau. Viele deutsche Kleinststaaten mussten über die Klinge springen. Auch die säkularisierten Territorien wurden der Kirche nicht mehr zurückerstattet. Selbst so grosse Republiken wie Venedig und Genua fanden keine Gnade. Über der polnischen Frage gar entzweite sich der Kongress dermassen, dass man einen neuen Waffengang befürchten musste. Je länger sich die Verhandlungen hinzogen, umso mehr drohten die Teilnehmer das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren und sich in Teilfragen zu verheddern - ein typisch multilaterales Syndrom. Doch da kam Hilfe von unerwarteter Seite. Napoleon entfloh aus seiner Verbannung auf Elba, eroberte Frankreich erneut im Sturm und versetzte die Diplomaten in Wien in Angst und Schrecken. Angesichts der eminenten Gefahr verabschiedeten diese in Windeseile im Juni 1815 die Kongressakte. Was man in der Hast nicht mehr erledigen konnte, nahm man mit nach Paris und regelte es im Zweiten Pariser Friedensvertrag (November 1815).

Grosses Pensum

Was die Diplomaten in Wien in neun Monaten zustande brachten, ist erstaunlich. Die politische Landkarte bekam ein neues Gesicht, vor allem in Deutschland und Norditalien sowie im Osten mit den russischen, preussischen und österreichischen Gebietserweiterungen. Dann machte der Kongress ein für alle Mal mit der deutschen Kleinstaaterei Schluss. Nebenbei anerkannte er auch die Neutralität der Schweiz. Und mit dem Deutschen Bund entstand an der Grenze zu Frankreich ein Staatswesen, das genügend stark war, um französischen Angriffen zu widerstehen, und genügend schwach, um selber keinen Angriffskrieg führen zu können. Allerdings war der Bund ein recht artifizielles Gebilde. Er besass nur geringe Autorität, da die wichtigeren Staaten wie Österreich, Preussen und Bayern ihn an kurzer Leine hielten. Aber er war ein eigenes Völkerrechtssubjekt und besass einige supranationale Kompetenzen, nicht unähnlich der Europäischen Union - freilich wird auf diesen Vorläufer heute kaum je Bezug genommen, wahrscheinlich weil er nur gerade ein halbes Jahrhundert überdauert hat.

Die massgeblichen Akteure auf dem Kongress waren sich bewusst, dass man nach zwanzig Jahren Krieg und Revolution nicht unbesehen die alten Verhältnisse wiederherstellen konnte. Die Beziehungen unter den Staaten sollten mehr auf rechtlichen Grundsätzen beruhen. So verbot der Kongress auf Betreiben von Grossbritannien den Sklavenhandel generell. Oder er regelte erstmals die Schifffahrt auf den Flüssen. Er schuf die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt und damit die erste internationale oder regionale Organisation. Auch stellte er das ewige Gezänk unter Diplomaten um Rang und Vorrang ab, indem er ein einfaches Reglement erliess, das den protokollarischen Umgang bis heute bestimmt. Es besagt: Der Vorrang kommt jenem Diplomaten zu, der innerhalb seiner Kategorie, zum Beispiel Botschafter oder Geschäftsträger, länger am Dienstort ist. Die Grösse und die Bedeutung einer Nation, auf die sich die Streithähne bisher immer wieder berufen hatten, spielten keine Rolle mehr. Insgesamt schneidet der Wiener Kongresses in puncto Effizienz im Vergleich zum heutigen multilateralen Konferenzbetrieb recht vorteilhaft ab.

Das «Ungeheuer Gleichgewicht»

Vor allem erkannten die wichtigeren Kongressteilnehmer, dass die im 18. Jahrhundert vielgepriesene Doktrin des Gleichgewichts gescheitert war. Das «Ungeheuer Gleichgewicht», wie der pfiffige Toggenburger Ulrich Bräker spottete, diente ja meistens ohnehin nur dazu, die ruchlose Machtpolitik rivalisierender Herrscherhäuser zu kaschieren. Wenn es dessen noch bedurft hätte, so bewies gerade die Schreckensnachricht von der Rückkehr Napoleons, dass die Grossmächte nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander handeln mussten. In Wien kam die Idee von einer kollektiven Sicherheit auf. Mit dem Zweiten Pariser Frieden wurde sie konkretisiert. Castlereagh drängte darauf, dass die Monarchen der Quadrupelallianz oder deren Gesandte periodisch zusammenkamen, um gemeinsame Probleme zu beraten. Und Zar Alexander träumte von einer «Heiligen Allianz», die alle christlichen Staaten zur Verteidigung einer auf christlichen Grundsätzen errichteten Ordnung vereinen sollte.

Tatsächlich kam die Allianz zustande. Ausser Grossbritannien und dem Kirchenstaat traten ihr alle christlichen Staaten Europas bei. Aber Metternich hatte die Stossrichtung der Vereinigung geändert. Nicht mehr die Verteidigung von christlichen Werten sollte sie bezwecken, sondern die bestehende Ordnung vor bürgerlichen und nationalstaatlichen Umwälzungen schützen. Die Quadrupelallianz beziehungsweise, nach Frankreichs Beitritt, die Pentarchie sah sich als operativer Arm der Heiligen Allianz. Sie beanspruchte für sich ein Interventionsrecht. Die Kleinen, ohnehin in die Kulissen abgedrängt, waren bereit, die Autorität der Grossen zu respektieren, solange diese ihre Unabhängigkeit gewährleisteten. Man schickte sich ins Biedermeier.

Das Kongress-System vermochte die internationale Sicherheit nicht langfristig zu garantieren. Nachdem sich die napoleonische Gefahr endgültig verzogen hatte, schwand der Fundus an Gemeinsamkeiten. Die Heilige Allianz zerbrach schon bald an Meinungsverschiedenheiten über den Freiheitskampf der Griechen. Doch das Konzert der Mächte brachte eine wesentliche Neuerung in der Arbeitsweise der Diplomatie. Der angestrebte Wechsel von Machtrivalität hin zu vermehrter zwischenstaatlicher Zusammenarbeit erforderte eine quasi permanente multilaterale Diplomatie. Die Grossmächte etablierten diese mit einer Folge von Fürstenkongressen. Vorher hatte es nichts dergleichen gegeben. Nicht zufällig studierte das britische Foreign Office nach dem Ersten Weltkrieg den Wiener Kongress. Ein Historiker hatte Elemente zu identifizieren, die man zum Aufbau des Völkerbunds übernehmen konnte.

Die Spuren des Kongresses sind über den Völkerbund bis zu den Vereinten Nationen im Institutionellen deutlich ablesbar. Alle drei kollektiven Sicherheitsorganisationen strebten bzw. streben eine möglichst breit abgestützte Mitgliedschaft von Staaten an, sahen bzw. sehen ein Führungsorgan für die wichtigsten Entscheide vor (Fünferausschuss, Völkerbundrat, Uno-Sicherheitsrat), hielten bzw. halten periodische Versammlungen ab (Kongresse und Botschafterkonferenzen, Völkerbundversammlung, Uno-Vollversammlung), und zwischen den Tagungen betreute bzw. betreut ein Sekretariat die Geschäfte. Jede der drei Organisationen verlor auch, so muss man wohl anfügen, rasch ihren Elan. Von der Anlage her sind Konferenzen besser geeignet, Meinungsdifferenzen auszutragen, als sich zu gemeinsamen Aktionen aufzuraffen.

Wie jede Grosskonferenz erledigte auch der Wiener Kongress vieles von dem nicht, was er sich vorgenommen hatte. Kein Wort zu den Verhältnissen auf dem Apennin, kein Wort zur Neuordnung auf dem Balkan. Die Zeit dazu reichte nicht. Das sollte sich rächen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts schlitterte der Balkan von einer Krise in die andere. Dieser Brandherd löste schliesslich den Ersten Weltkrieg aus. Die Ursache freilich lag anderswo. Die in der Heiligen Allianz beschworene Solidarität unter den Fürstenhäusern war zusehends abgebröckelt und nach dem Krimkrieg (1853-1856) reiner Machtrivalität gewichen.

Stabilität und Intervention

Anderes wollte der Kongress gar nicht erledigen. Für die bürgerlichen und nationalstaatlichen Forderungen hatte er kein Gehör. Vielmehr war es sein Ziel, solche Bewegungen in Schach zu halten. Er erkannte die Zeichen der Zeit nicht und verpasste folglich, die staatliche Neuordnung Europas mit Anpassungen an den gesellschaftlichen Wandel zu verbinden. Das sollte sich mit zahlreichen Aufständen und namentlich den Revolutionen von 1830 und 1848 rächen. Das Verdienst des Wiener Kongresses besteht darin, nach mehr als zwanzig Jahren Krieg und Zerstörung eine lang dauernde Friedensordnung geschaffen zu haben. Diese funktionierte fünfzig Jahre lang gut und nachher nochmals fünfzig Jahre lang schlecht und recht, ehe sie im Ersten Weltkrieg unterging. 
Die Stabilität wurde freilich durch ein massives Interventionsrecht für die Grossmächte erkauft. Das missfiel schon damals allen ausser den Monarchisten. Die Bilanz ist somit durchaus zwiespältig. Den Zwiespalt zwischen Stabilität und Intervention, zwischen Durchsetzung von Prinzipien und der Respektierung souveräner Staatlichkeit, haben wir bis heute nicht befriedigend gelöst.

Paul Widmer, alt Botschafter, ist Lehrbeauftragter für internationale Beziehungen an der Universität St. Gallen. Neueste Buchveröffentlichung: «Minister Hans Frölicher. Der umstrittenste Schweizer Diplomat» (NZZ-Libro, Zürich 2012)

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