Donnerstag, 6. März 2014

Jedem dasselbe.

aus NZZ, 5. 2. 2014                                                                                                                Thomas Max Müller  / pixelio.de

Die Lust am Umverteilen
Französischer Wirtschaftsprofessor profiliert sich als Marx der Moderne


Der Kapitalismus bringt starke und steigende Ungleichheiten, Steuern auf Einkommen und Vermögen müssen dies korrigieren. Dies ist die Sicht eines französischen Wirtschaftsprofessors.

hus. · Auch als Wirtschaftsprofessor darf man Sozialist sein - erst recht in Frankreich. Den französischen Professor Thomas Piketty (Wirtschaftshochschule Paris) beschäftigen die Ungleichheiten der Einkommen und Vermögen seit langem, ebenso die Lust, diese Ungleichheiten einzuebnen. Im vergangenen Herbst legte Piketty seine Erkenntnisse in einem fast 1000-seitigen Buch vor. Es hat in der internationalen Ökonomenzunft schon einiges Aufsehen erregt und wird es wohl noch mehr tun, wenn es diesen Monat auf Englisch und im Frühling 2015 auf Deutsch erscheint.

Ungleichheit und Kapital

Das Buch ist lesenswert und gut verständlich, enthält aber zu viele Wiederholungen. Ein Kernstück bildet das umfangreiche Datenmaterial zur Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in führenden Industrieländern und zum Verhältnis von Kapital- zu Arbeitseinkommen. Demnach sind die Ungleichheiten von etwa 1910 bis 1970 deutlich gesunken, seither aber vielerorts stark gestiegen und haben sich nun zum Teil wieder dem vor dem Ersten Weltkrieg beobachteten Niveau genähert. Ein Zahlenbeispiel aus den USA illustriert dies: Demnach vereinigte das oberste Prozent der Einkommensbezüger 1910 etwa 18% aller Einkommen auf sich, bis 1970 fiel dieser Anteil auf 8%, 2010 waren es wieder fast 18%. In Kontinentaleuropa, auch in der Schweiz, haben die Spitzeneinkommen in den letzten Jahrzehnten allerdings deutlich weniger stark zugelegt.

Thomas Piketty:
Le capital au XXIe siècle.

Editions du Seuil, Paris. 2013. 970 S.

Laut Piketty reduzierten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts namentlich Kriege und Finanzkrisen die Vermögensungleichheiten. Hohe Steuern und starkes Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg hätten auch Einkommensungleichheiten gedrückt. Die Abschwächung von Wachstum und Steuersenkungen brachten laut Piketty dann in den achtziger Jahren eine Trendwende.

Eine Kernbotschaft des Autors lautet: Wenn die Kapitalrendite über dem Wirtschaftswachstum liegt (was meistens der Fall sei), wird der Kapitalstock im Verhältnis zur Arbeit laufend wichtiger, und die Ungleichheiten nehmen zu. Der weltweite Kapitalstock fiel laut Piketty ab 1910 von 500% der Wirtschaftsleistung auf unter 300% bis 1950, überstieg bis 2010 wieder die 400% und werde bis 2060 wohl auf über 600% steigen. Wie einst Marx sieht Piketty im Kapitalismus fast eine inhärente Tendenz zu wachsenden Ungleichheiten. Die 30 Jahre mit dem hohen Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet er als Sonderfall.

Debatte zur Steuerprogression

Umstritten sind vor allem Pikettys Prognosen und Folgerungen. Wer Voraussagen für 2060 wagt, ist auf wackligem Grund. So wäre es gut möglich, dass bei weiter wachsendem Kapitalstock die Kapitalrenditen entgegen der Prognose sinken. Pikettys politische Forderungen erfreuen die Linke und stossen die Rechte ab: hohe Spitzensteuersätze auf Einkommen (über 80%) und Vermögen (10% für Milliardäre), hohe Erbschaftssteuern und in stark verschuldeten Staaten zusätzlich eine einmalige Vermögenssteuer zum Schuldenabbau (beispielsweise 20% ab 5 Mio. € Vermögen).

Ist das Ausmass der Ungleichheiten politisch unerwünscht, kann die Steuerprogression als Korrekturwerkzeug dienen. Zum Ausmass der Progression gibt es nicht «richtig» oder «falsch», sondern politische Wertungen. Doch wie vieles im Leben sind auch Steuerbelastungen eine Frage des Masses, wie sogar Frankreichs Präsident François Hollande jüngst anerkennen musste. Buchautor Piketty scheint vor allem vom Ziel einer maximalen Steuerabschöpfung bei Grossverdienern getrieben zu sein. Andere Überlegungen - etwa, dass der Staat Gelder verschwenden könnte oder dass liberale Prinzipien und Anreizprobleme gegen konfiskatorische Steuersätze sprechen - spielen bei ihm kaum eine Rolle.


aus NZZ, 5. 2. 2014

Die Religion der Gleichheit Thilo Sarrazin zur «Medienklasse»

Gerd Habermann · Thilo Sarrazin, Ökonom, Politiker und anti-egalitärer Publizist, hat nach «Deutschland schafft sich ab» (2010) und «Europa braucht den Euro nicht» (2012) mit «Tugendterror» ein weiteres «politisch unkorrektes» Buch lanciert. Diesmal geht es um den Kern dessen, was hinter der umlaufenden Gleichheitsideologie steckt: ihre Träger, deren Ideenwelt und politische Strategien. Der Autor erkennt eine meinungsprägende «Medienklasse», der eine geistig unsichere Politikerklasse fast widerstandslos folgt.

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror -
 Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland.
DVA, München 2014, 397 S., € 22.99

Nach dem Ende des Marxismus ist als dessen Residuum ein unbedingter Gleichheitsglaube übrig blieben, der im Westen einen Siegeszug angetreten hat. Gleichheit wird da nicht mehr als die liberale Gleichheit und Gleichbehandlung vor dem Gesetz verstanden, sondern als faktische Gleichheit in sozialökonomischer Hinsicht und vor allem in sozialer Geltung. Der Autor schreibt: «Ungleiches wird verneint, heruntergespielt oder ins Bedeutungslose verschoben. Für alles Ungleiche sind entweder Ungerechtigkeiten oder äussere Umstände ursächlich, die niemand zu verantworten hat.» Als Diskriminierung wird hier nicht mehr nur die Ungleichbehandlung durch das Gesetz (im öffentlichrechtlichen Bereich) verstanden, sondern jede gruppenbezogene Bewertung und Präferenz im Privatleben - betreffe dies Geschlecht, Alter, Glauben, Kultur, Völker, soziale Stellung, auch Schönheit oder Intelligenz.

Durch die «Medienklasse» wurde mehr und mehr erfolgreich ein neuer sprachlicher Code errichtet, der nichtegalitäre Bewertungen brandmarkt und deren Träger sozial zu isolieren sucht. Menschen, die Loyalität zu traditionellen Lebensformen, zur eigenen Kultur oder Nationalität äussern, geraten in die Defensive. Die Formel heisse mit Saint-Just: Freiheit ist Gleichheit, und diese ist mit Gerechtigkeit identisch; Gerechtigkeit wiederum mit einer unfassbaren Verteilungsgerechtigkeit, die Sarrazin ähnlich wie F. A. von Hayek aufs Korn nimmt. Er sieht diese Gedanken in einer geistesgeschichtlichen Linie, die mit dem Wohlfahrtsausschuss der Französischen Revolution und seinem «Tugendterror» beginnt und in Totalitarismen des 20. Jahrhunderts (vorläufig) führt.

Verbunden mit dieser Bewegung ist eine Sprachkorrektur - die Elimination von als diskriminierend vermuteten, bis dahin wertfrei gebrauchten Begriffen, eine Art Sprachreinigung selbst in der Literatur, erinnernd an Orwells «Neusprech». Am Ende steht das Ideal einer Weltgesellschaft der entindividualisierten Gleichen - die «inclusive Gesellschaft» ohne Differenzen, ohne Wettbewerb in spannungsloser Harmonie.

Vor diesem Kernteil des Buches befasst sich der Autor zunächst mit der Reaktion der Medien auf seine ersten «unkorrekten» Bücher, dies als Beleg für die herrschsüchtige Unduldsamkeit der Egalitären. Im letzten, didaktisch besonders eindrücklichen Teil stellt er 14 Axiomen der Gleichheitsbewegung die Wirklichkeit gegenüber. Neben Kenneth Minogues «Die demokratische Sklavenmentalität» (2012) ist Sarrazins Buch ein weiterer präziser und nüchterner liberaler Beitrag zu einer verwirrenden Debatte, die wohl erst am Anfang steht, aber dringend auch von liberaler Seite geführt werden muss. Das Buch ist eine Schatzkammer an klugen Argumenten und Analysen und von erstaunlichem intellektuellem Mut.

Gerd Habermann, Vorsitzender der F.-A.-von-Hayek-Stiftung, lehrt als Honorarprofessor an der Universität Potsdam.

Nota.

Der Ordnung halber sei angemerkt, dass Gleichheit oder gar Verteilungsgerechtigkeit bei Marx kein Thema ist. Marx schreibt über die Geschichte und die Zukunft von Klassenverhältnissen.
JE  

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