Die Lust am Umverteilen
Französischer Wirtschaftsprofessor profiliert sich als Marx der Moderne
Der Kapitalismus bringt starke und steigende
Ungleichheiten, Steuern auf Einkommen und Vermögen müssen dies
korrigieren. Dies ist die Sicht eines französischen
Wirtschaftsprofessors.
hus. · Auch als
Wirtschaftsprofessor darf man Sozialist sein - erst recht in Frankreich.
Den französischen Professor Thomas Piketty (Wirtschaftshochschule
Paris) beschäftigen die Ungleichheiten der Einkommen und Vermögen seit
langem, ebenso die Lust, diese Ungleichheiten einzuebnen. Im vergangenen
Herbst legte Piketty seine Erkenntnisse in einem fast 1000-seitigen
Buch vor. Es hat in der internationalen Ökonomenzunft schon einiges
Aufsehen erregt und wird es wohl noch mehr tun, wenn es diesen Monat auf
Englisch und im Frühling 2015 auf Deutsch erscheint.
Ungleichheit und Kapital
Das Buch ist lesenswert und gut
verständlich, enthält aber zu viele Wiederholungen. Ein Kernstück bildet
das umfangreiche Datenmaterial zur Entwicklung der Einkommens- und
Vermögensverteilung in führenden Industrieländern und zum Verhältnis von
Kapital- zu Arbeitseinkommen. Demnach sind die Ungleichheiten von etwa
1910 bis 1970 deutlich gesunken, seither aber vielerorts stark gestiegen
und haben sich nun zum Teil wieder dem vor dem Ersten Weltkrieg
beobachteten Niveau genähert. Ein Zahlenbeispiel aus den USA illustriert
dies: Demnach vereinigte das oberste Prozent der Einkommensbezüger 1910
etwa 18% aller Einkommen auf sich, bis 1970 fiel dieser Anteil auf 8%,
2010 waren es wieder fast 18%. In Kontinentaleuropa, auch in der
Schweiz, haben die Spitzeneinkommen in den letzten Jahrzehnten
allerdings deutlich weniger stark zugelegt.
Le capital au XXIe siècle.
Editions du Seuil, Paris. 2013. 970 S.
Laut Piketty reduzierten in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts namentlich Kriege und Finanzkrisen
die Vermögensungleichheiten. Hohe Steuern und starkes
Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg hätten auch
Einkommensungleichheiten gedrückt. Die Abschwächung von Wachstum und
Steuersenkungen brachten laut Piketty dann in den achtziger Jahren eine
Trendwende.
Eine Kernbotschaft des Autors
lautet: Wenn die Kapitalrendite über dem Wirtschaftswachstum liegt (was
meistens der Fall sei), wird der Kapitalstock im Verhältnis zur Arbeit
laufend wichtiger, und die Ungleichheiten nehmen zu. Der weltweite
Kapitalstock fiel laut Piketty ab 1910 von 500% der Wirtschaftsleistung
auf unter 300% bis 1950, überstieg bis 2010 wieder die 400% und werde
bis 2060 wohl auf über 600% steigen. Wie einst Marx sieht Piketty im
Kapitalismus fast eine inhärente Tendenz zu wachsenden Ungleichheiten.
Die 30 Jahre mit dem hohen Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten
Weltkrieg betrachtet er als Sonderfall.
Debatte zur Steuerprogression
Umstritten sind vor allem Pikettys
Prognosen und Folgerungen. Wer Voraussagen für 2060 wagt, ist auf
wackligem Grund. So wäre es gut möglich, dass bei weiter wachsendem
Kapitalstock die Kapitalrenditen entgegen der Prognose sinken. Pikettys
politische Forderungen erfreuen die Linke und stossen die Rechte ab:
hohe Spitzensteuersätze auf Einkommen (über 80%) und Vermögen (10% für
Milliardäre), hohe Erbschaftssteuern und in stark verschuldeten Staaten
zusätzlich eine einmalige Vermögenssteuer zum Schuldenabbau
(beispielsweise 20% ab 5 Mio. € Vermögen).
Ist das Ausmass der Ungleichheiten
politisch unerwünscht, kann die Steuerprogression als Korrekturwerkzeug
dienen. Zum Ausmass der Progression gibt es nicht «richtig» oder
«falsch», sondern politische Wertungen. Doch wie vieles im Leben sind
auch Steuerbelastungen eine Frage des Masses, wie sogar Frankreichs
Präsident François Hollande jüngst anerkennen musste. Buchautor Piketty
scheint vor allem vom Ziel einer maximalen Steuerabschöpfung bei
Grossverdienern getrieben zu sein. Andere Überlegungen - etwa, dass der
Staat Gelder verschwenden könnte oder dass liberale Prinzipien und
Anreizprobleme gegen konfiskatorische Steuersätze sprechen - spielen bei
ihm kaum eine Rolle.
aus NZZ, 5. 2. 2014
Die Religion der Gleichheit Thilo Sarrazin zur «Medienklasse»
Gerd Habermann ·
Thilo Sarrazin, Ökonom, Politiker und anti-egalitärer Publizist, hat
nach «Deutschland schafft sich ab» (2010) und «Europa braucht den Euro
nicht» (2012) mit «Tugendterror» ein weiteres «politisch unkorrektes»
Buch lanciert. Diesmal geht es um den Kern dessen, was hinter der
umlaufenden Gleichheitsideologie steckt: ihre Träger, deren Ideenwelt
und politische Strategien. Der Autor erkennt eine meinungsprägende
«Medienklasse», der eine geistig unsichere Politikerklasse fast
widerstandslos folgt.
Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland.
DVA, München 2014, 397 S., € 22.99
Nach dem Ende des Marxismus ist als dessen Residuum ein unbedingter Gleichheitsglaube übrig blieben, der im Westen einen Siegeszug angetreten hat. Gleichheit wird da nicht mehr als die liberale Gleichheit und Gleichbehandlung vor dem Gesetz verstanden, sondern als faktische Gleichheit in sozialökonomischer Hinsicht und vor allem in sozialer Geltung. Der Autor schreibt: «Ungleiches wird verneint, heruntergespielt oder ins Bedeutungslose verschoben. Für alles Ungleiche sind entweder Ungerechtigkeiten oder äussere Umstände ursächlich, die niemand zu verantworten hat.» Als Diskriminierung wird hier nicht mehr nur die Ungleichbehandlung durch das Gesetz (im öffentlichrechtlichen Bereich) verstanden, sondern jede gruppenbezogene Bewertung und Präferenz im Privatleben - betreffe dies Geschlecht, Alter, Glauben, Kultur, Völker, soziale Stellung, auch Schönheit oder Intelligenz.
Durch die «Medienklasse» wurde
mehr und mehr erfolgreich ein neuer sprachlicher Code errichtet, der
nichtegalitäre Bewertungen brandmarkt und deren Träger sozial zu
isolieren sucht. Menschen, die Loyalität zu traditionellen Lebensformen,
zur eigenen Kultur oder Nationalität äussern, geraten in die Defensive.
Die Formel heisse mit Saint-Just: Freiheit ist Gleichheit, und diese
ist mit Gerechtigkeit identisch; Gerechtigkeit wiederum mit einer
unfassbaren Verteilungsgerechtigkeit, die Sarrazin ähnlich wie F. A.
von Hayek aufs Korn nimmt. Er sieht diese Gedanken in einer
geistesgeschichtlichen Linie, die mit dem Wohlfahrtsausschuss der
Französischen Revolution und seinem «Tugendterror» beginnt und in
Totalitarismen des 20. Jahrhunderts (vorläufig) führt.
Verbunden mit dieser Bewegung ist
eine Sprachkorrektur - die Elimination von als diskriminierend
vermuteten, bis dahin wertfrei gebrauchten Begriffen, eine Art
Sprachreinigung selbst in der Literatur, erinnernd an Orwells
«Neusprech». Am Ende steht das Ideal einer Weltgesellschaft der
entindividualisierten Gleichen - die «inclusive Gesellschaft» ohne
Differenzen, ohne Wettbewerb in spannungsloser Harmonie.
Vor diesem Kernteil des Buches
befasst sich der Autor zunächst mit der Reaktion der Medien auf seine
ersten «unkorrekten» Bücher, dies als Beleg für die herrschsüchtige
Unduldsamkeit der Egalitären. Im letzten, didaktisch besonders
eindrücklichen Teil stellt er 14 Axiomen der Gleichheitsbewegung die
Wirklichkeit gegenüber. Neben Kenneth Minogues «Die demokratische
Sklavenmentalität» (2012) ist Sarrazins Buch ein weiterer präziser und
nüchterner liberaler Beitrag zu einer verwirrenden Debatte, die wohl
erst am Anfang steht, aber dringend auch von liberaler Seite geführt
werden muss. Das Buch ist eine Schatzkammer an klugen Argumenten und
Analysen und von erstaunlichem intellektuellem Mut.
Gerd Habermann, Vorsitzender der F.-A.-von-Hayek-Stiftung, lehrt als Honorarprofessor an der Universität Potsdam.
Nota.
Der Ordnung halber sei angemerkt, dass Gleichheit oder gar Verteilungsgerechtigkeit bei Marx kein Thema ist. Marx schreibt über die Geschichte und die Zukunft von Klassenverhältnissen.
JE
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