Der manipulierte Mensch
«Nudges» - oder die diskrete Erziehungsarbeit der «sanften Paternalisten»
«Nudges» - oder die diskrete Erziehungsarbeit der «sanften Paternalisten»
von Claudia Wirz
Bessere Steuermoral, brave Autofahrer, bilderbuchartige Frauenkarrieren: Mit Erkenntnissen aus Psychologie und Verhaltensökonomie versuchen Staaten und Organisationen, Menschen gezielt zu «guten» Entscheidungen zu lenken.
Es ist eine Szene wie aus einem
futuristischen Roman: Ein Bürger, nennen wir ihn Edmund, hat es
versäumt, seine Steuern pünktlich zu bezahlen. Das gefällt dem Staat
verständlicherweise nicht. Eine Mahnung ist Edmund gewiss. Doch das
Mahnschreiben, das alsbald in seinem Briefkasten liegt, ist anders, als
man sich das gemeinhin vorstellt. Weil ein Bild bekanntlich mehr als
tausend Worte sagt, erhält Edmund zusammen mit der Mahnung eine Foto,
die der Staat in der Zwischenzeit von seinem Auto gemacht hat. Im
Begleittext wird erklärt, dass das Gefährt eingezogen werden könnte,
sollte die Steuerschuld nicht beglichen werden.
Nachhilfe für Erwachsene
Die Episode ist nicht aus einem Roman. Vielmehr hat die Realität sie geschrieben. Der Trick mit der Auto-Foto ist eine der Massnahmen, die der britische Premier David Cameron im Rahmen eines Testprogramms eingeführt hat. Dieses Programm arbeitet mit «Schubsern», auch «Nudges» genannt. Mit diesen wohlwollenden Nachhilfen, so die Grundidee, soll der von Natur aus träge und zu irrationalem Verhalten neigende Mensch zu besseren Entscheidungen geführt werden. Sanfter (oder libertärer) Paternalismus nennt sich diese Art der Lenkung, die nichts verbietet oder befiehlt, aber gleichwohl lenkt. Es gibt berechtigte Hoffnung, dass sich Edmund nun bessert. Die Tilgungsraten jedenfalls haben sich seit der Einführung des Foto-Tricks verdreifacht.
Es ist die relativ junge Disziplin der Verhaltensökonomie, die versucht, mit solchen «Nudges» eine bessere Gesellschaft zu bauen. Unser Edmund kann durch «Nudges» nicht nur zum besseren Steuerzahler werden, sondern auch zum braven Autofahrer, zum Energiesparer oder zum Organspender. Und das geht so: Auf einer Fahrt ins Blaue wird Edmund bei einer Ortseinfahrt von einem lachenden «Smiley» begrüsst, wenn er nicht schneller als mit den erlaubten 30 Kilometern pro Stunde unterwegs ist. Hat er aber mehr auf dem Tacho, blinkt «Smiley» traurig oder gar böse von der elektronischen Tafel und zeigt das ungebührliche Tempo an. Edmund wird in diesem Fall mit grosser Wahrscheinlichkeit instinktiv abbremsen. «Diese Massnahme funktioniert nachweislich besser als der Blechpolizist», sagt der Verhaltensökonom Gerhard Fehr, der mit seinem Beratungsunternehmen mit Sitz in Zürich solche Anreizsysteme für Staaten und Unternehmen entwickelt (s. Interview). «Smiley» wirkt, obwohl er keine gesalzenen Bussen, sondern einzig und allein die Gunst seines kalten elektronischen Lächelns verteilt.
Wieder zu Hause, findet Edmund einen Flyer der örtlichen Behörde in seinem Briefkasten, der darüber Auskunft gibt, wie viel Energie jeder seiner Nachbarn verbraucht hat. Auch Edmunds Energieverbrauch wird darin öffentlich bekanntgegeben. Diese Praxis wird im australischen New South Wales angewendet und setzt auf die Wirkung des Gruppendrucks. Wehe dem, der vor versammelter Nachbarschaft als antisozialer Energieverschwender geoutet wird! So etwas mag niemand. Edmund wird sich also tunlichst an die gewünschten sozialen Normen anpassen. Schliesslich wird unser Edmund auch noch zum Organspender. Er hat sich zwar noch nie damit auseinandergesetzt, aber er wohnt jetzt in einem Land, zum Beispiel in Österreich oder Spanien, in dem die Widerspruchslösung gilt, die jeden stillschweigend zum Organspender macht, der nicht aktiv widerspricht. Im Jargon spricht man in all diesen Fällen ganz im Stil der Ingenieurspädagogik von Entscheidungsdesign. Über kurz oder lang wird Edmund zum Musterbürger erzogen.
Mit «Nudges» lassen sich zwar nicht alle, aber doch alle möglichen Entscheidungen im Sinne eines höheren Zieles beeinflussen. Ein Unternehmen, das keine Frauenquoten einführen, aber dennoch mehr Frauen in Führungspositionen haben will, kann mit «Nudges» typisch weibliche Schwächen wie den im Vergleich zu Männern schwächeren Kampf- und Wettbewerbsgeist kompensieren. Oder Menschen können zu mehr Bewegung angeregt werden, wenn grüne Pfeile auf dem Fussboden direkt zu den Treppen statt zu den Aufzügen führen. Es gibt auch «Nudges», die dafür sorgen, dass unser Edmund regelmässig zur Zahnkontrolle geht. Für den Ökonomen Fehr ist der sanfte Paternalismus dort, wo er tatsächlich Wirkung entfalten kann, allemal die bessere Lösung, ein gesellschaftlich erwünschtes Ziel zu erreichen, als ein hartes Verbot oder Gebot. Deshalb wird diese Form der Steuerung gerne mit dem Prädikat «liberal» apostrophiert.
Ganz anders sieht dies der Ökonom Jan Schnellenbach, Geschäftsleiter am Walter-Eucken-Institut in Freiburg i. Br., das sich mit ordnungspolitischen Fragen beschäftigt. Schnellenbach kritisiert die subtile, manipulative Natur des sanften Paternalismus. «Das Verhalten der Menschen wird gesteuert, ohne dass die Menschen es merken», sagt Schnellenbach und verweist auf einen aus seiner Sicht problematischen Charakterzug dieses Steuerungsinstruments: «Der sanfte Paternalismus funktioniert vor allem dann gut, wenn die Begleitumstände intransparent sind.» Das hingegen passe nur schlecht zum Setting einer modernen, aufgeklärten und demokratischen Ordnung. Im Sinne der Transparenz ist Schnellenbach ein klares Verbot deshalb lieber als undurchsichtige «Nudges».
Alles Spiesser
Schnellenbach sieht eine Reihe weiterer Gefahren im sanften Paternalismus. Wenn Staat oder Organisationen den Menschen systematisch Entscheidungen abnehmen oder in eine bestimmte Richtung hin «erleichtern», kann eine auf Eigenverantwortung basierende Entscheidungsroutine nur schlecht gedeihen. Wer per Geburt automatisch zum Organspender wird, ohne sich dessen bewusst zu sein, wird sich kaum je mit Fragen über Hirntod, Organmangel oder Organ-Allokation auseinandersetzen - im Gegensatz zu demjenigen, der aus eigenem Antrieb einen Spenderausweis ausfüllt. Und auch der auf persönlichen Erwägungen basierende Altruismus-Gedanke wird durch den obrigkeitlichen «Nudge» obsolet. Solche Mechanismen können eine Gesellschaft laut Schnellenbach grundlegend prägen. «Eigenverantwortlichkeit ist wie ein Muskel», sagt der Ökonom. «Wird sie nicht trainiert, verkümmert sie oder bildet sich gar nicht erst aus.»
Aus der Sicht von Schnellenbach steht der sanfte Paternalismus quer zur Idee der individuellen Freiheit, die erst dort aufhört, wo sie die Freiheit des anderen beschneidet, und er steht auch quer zum Prinzip des persönlichen «Strebens nach Glück». Der sanfte Paternalismus schaffe soziale Konventionen und erzeuge Konformitätsdruck. Dass die Politik dabei die gesellschaftlichen Ziele vorgibt, ist für Schnellenbach ein klassischer Fall von «Anmassung von Wissen» durch den Staat.
Im Staat existiert der sanfte Paternalismus heute vorab als Theorie oder Experiment. Dass er ins breite politische Denken finden wird, darf man laut Schnellenbach aber erwarten. Und was würde dann geschehen? Eine solchermassen gesteuerte Gesellschaft, meint er, wäre schlicht unerträglich brav, fad, konformistisch und spiessig.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen