Der Verlust des Heiligen
Der protestantische Theologe und Orientalist Julius Wellhausen (1844-1918) in seinen Briefen
Der protestantische Theologe und Orientalist Julius Wellhausen (1844-1918) in seinen Briefen
von Friedrich Wilhelm Graf · Am 5. April 1882 schreibt Julius Wellhausen, damals Ordinarius für Altes Testament in der theologischen Fakultät der Universität Greifswald, an den preussischen Kultusminister Gustav von Gossler. Er erinnert ihn daran, schon Ostern 1880 die Bitte vorgetragen zu haben, «wo möglich in die Philosophische Fakultät versetzt zu werden». «Ich bin Theologe geworden, weil mich die wissenschaftliche Behandlung der Bibel interessirte; es ist mir erst allmählich aufgegangen, dass ein Professor der Theologie zugleich die praktische Aufgabe hat, die Studenten für den Dienst in der evangelischen Kirche vorzubereiten, und dass ich dieser praktischen Aufgabe nicht genüge, vielmehr, trotz aller Zurückhaltung meinerseits, meine Zuhörer für ihr Amt eher untüchtig mache. Seitdem liegt mir meine theologische Professur schwer auf dem Gewissen.» Er wolle nun sein Amt niederlegen und sich in Göttingen oder Halle für semitische Philologie habilitieren. Nach einigem Zögern versetzte das preussische Kultusministerium Wellhausen dann als Extraordinarius für semitische Sprachen in die philosophische Fakultät der Universität Halle. So wurde der bedeutendste deutschsprachige Alttestamentler des 19. und 20. Jahrhunderts auch zu einem Gründervater der deutschsprachigen Islamwissenschaft und Arabistik.
Eine glänzende Edition
Diesen und 1091 andere gewichtige
Briefe an Kollegen, Freunde, Familienmitglieder und Verleger kann man
nun in einer glänzend gelungenen Edition lesen, die zahlreiche
überraschende, auch sensationelle Funde bietet. Der Herausgeber Rudolf
Smend, der grosse alte Mann der protestantischen Alttestamentler in
Deutschland, konnte auch auf sein Privatarchiv zurückgreifen, war sein
Grossvater gleichen Namens (1851-1913), Alttestamentler in Basel und
Göttingen, doch der engste Freund Wellhausens. In den 1960er Jahren
hatte Smend damit begonnen, für eine geplante Biografie Wellhausens in
allen möglichen Archiven und bei den Nachkommen potenzieller
Korrespondenzpartner nach Briefen seines Helden zu fahnden. Der Nachlass
des Gelehrten selbst war nach dem Tod Wellhausens am 7. Januar 1918
von dessen Witwe vernichtet worden, so dass keine Briefe an Wellhausen
überliefert sind. Auch kam eine von der Witwe geplante Sammlung von
Erinnerungen und Memorabilien nicht zustande. Desto mehr überrascht, was
Rudolf Smend in gut fünfzigjähriger akribischer Suche hat entdecken
können.
Julius Wellhausen: Briefe. Herausgegeben von Rudolf Smend in Zusammenarbeit mit Peter Porzig und Reinhard Müller. Mohr Siebeck, Tübingen 2013. 887 S., Fr. 104.90.
Julius Wellhausen: Briefe. Herausgegeben von Rudolf Smend in Zusammenarbeit mit Peter Porzig und Reinhard Müller. Mohr Siebeck, Tübingen 2013. 887 S., Fr. 104.90.
Gewiss, man konnte damit rechnen, dass sich in den öffentlich zugänglichen Nachlässen des bedeutenden holländischen Alttestamentlers Abraham Kuenen, des Kirchenhistorikers Adolf von Harnack, des Orientalisten Carl Heinrich Becker, des klassischen Philologen Eduard Schwartz und des Islamwissenschafters Ignaz Goldziher Spuren der zum Teil sehr dichten Kontakte zu Wellhausen finden lassen. Aber es überrascht die Intensität, mit der der seit 1885 in Marburg lehrende Wellhausen sich mit dem Theologen Wilhelm Herrmann, dem Göttinger Religionsgelehrten Paul de Lagarde (dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Orientalia er 1892 wurde), dem Iranisten Ferdinand Justi und dem grossen Althistoriker Theodor Mommsen brieflich austauschte. Wer hätte geahnt, dass Max Reger Marie Wellhausen, der Ehefrau, Klavierunterricht erteilte und bisweilen im Hause Wellhausen zu Gast war? Wer wusste vom Besuch Wellhausens bei Franz Overbeck in Basel und von seiner Nietzsche-Lektüre? Wer kannte die starken Gefühle der Sympathie, die er für Albert Schweitzer hegte?
In Greifswald schrieb Wellhausen
die beiden Bücher, die in der Wissenschaftsgeschichte der
alttestamentlichen Theologie Epoche machten: «Die Composition des
Hexateuch» (1876/77) und «Geschichte Israels I». 1894 folgte eine dem
Freund Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff gewidmete «Israelitische und
jüdische Geschichte». Das bis dahin tradierte Bild der Geschichte
Israels destruierte Wellhausen mit dem Nachweis, dass weder Moses ein
Gesetzgeber gewesen sei noch das alte, vorexilische Israel eine Tora,
ein von Gott gegebenes Gesetz, gekannt habe. Pflichttreue zur Tora habe
erst die nachexilische religiöse Kultgemeinschaft geprägt, die das von
Assyrern und Chaldäern vernichtete Jahwe-Volk Israel überlebte.
Die durch prägnante
literarkritische Quellenscheidung gewonnene Einsicht in den
fundamentalen historischen Gegensatz zwischen altem Israel und späterem
Judentum spiegelt auch eine modernitätsskeptische Sehnsucht nach dem
Reinen, Klaren, Einfachen. In seiner neuen Meistererzählung vom erst
späten Gesetz erkannte Wellhausen dem Ursprünglichen, Lebendigen,
Konkreten, Echten einen höheren religiösen wie sittlichen Rang zu als
dem Späteren, Epigonalen, durch Mischung Verunreinigten, so dass sein
Judentum oft als steril, blass und lebensfeindlich erscheint. Aber der
von Franz Overbeck erhobene Vorwurf des Antijudaismus oder gar
Antisemitismus trifft nicht zu. Denn Wellhausen, ein enger Freund des
deutschjüdischen Neukantianers Hermann Cohen, deutete auch die frühe
Historie von Christentum und Islam im verfallsgeschichtlichen Schema
einer Erstarrung ursprünglich reiner Frömmigkeit. Seiner entschiedenen
Absage an jüdische Theokratie entsprach eine radikale Polemik gegen
Kirchenchristentum und klerikalen Gesinnungszwang. Gewiss ist kein
Antijudaist, wer immer wieder betont: «Jesus war kein Christ, sondern
Jude.» Hermann Cohen hat in einem «Abschiedsgruss» an den Freund betont,
dass Wellhausen «Menschenhass auch in der historisch-nationalen Form
des Judenhasses innerlich zuwider war».
Schon die gelehrten Zeitgenossen
priesen Wellhausen als einen Autor mit aussergewöhnlicher sprachlicher
Brillanz. Auch die vielen gefundenen Briefe zeigen ihn nun als einen
glänzenden Stilisten mit lapidarer, nicht selten selbstironischer
Sachlichkeit. Eitelkeit ist ihm fremd, und so lehnt er jede Verehrung
durch ihn bewundernde Jüngere damit ab, dass er kein «Ölgötze» sein
möchte. Theologen und Historiker, die nur «sich vortragen», nicht aber
ruhig und gründlich «die Sache» verfolgen, mag er nicht. Selbst sehr
viel jüngeren Kollegen schreibt er mit ausgesuchter Höflichkeit.
Bereitwillig teilt er Kollegen sie wohl interessierende Quellenzitate
mit, schickt Korrekturvorschläge für die nächste Auflage ihrer Bücher,
erinnert sie nüchtern an «die Individualität der Sachen» und streut,
zunächst ein überzeugter Anhänger von Bismarcks Machtstaat, dann ein
Kritiker des wilhelminischen Zwangs zum «Uniformieren», immer wieder
Anmerkungen zur politischen Lage ein. Auch geht es, wie könnte es anders
sein, um Berufungs- und überhaupt Bildungspolitik.
«Ich werde immer radikaler . . .»
Pathos und Phrasen mag Wellhausen
nicht, und schon im September 1914 widert ihn die kriegsbedingte
«Cultursalbaderei» an, «dass wir es dank Schiller und Goethe so herrlich
weit gebracht haben und in der Wissenschaft und der allgemeinen Bildung
alle andern Nationen übertreffen». «Ich misstraue aller
Völkerpsychologie», schreibt Wellhausen im April 1915 an Wilhelm
Herrmann. Grosse internationale Kongresse hält er für «Schwindel» - «wie
alles Internationale», pflegt aber ganz engen Kontakt zu seinem in der
englischsprachigen Welt bis heute berühmten schottischen Freund William
Robertson Smith, der nach einer Art Ketzergericht 1881 seinen Lehrstuhl
am Free Church College in Aberdeen verlor. Man muss nur Wellhausens 26
Briefe an Theodor Mommsen lesen, um die feinfühlige Eleganz zu spüren,
in der hier ein bescheidenes Genie unter den Historikern der Alten Welt
einem anderen grossen Althistoriker sich nähert - in der Absicht, ihn
durch Quellenhinweise zu stützen und zu stärken.
Julius Wellhausens Lust daran,
seine Kollegen in den theologischen Fakultäten mit steilen Thesen zu
ärgern, bereitet grosses intellektuelles Vergnügen. Er will sich nicht
anpassen. «Ich werde immer radikaler je älter ich werde; es fehlt mir
wenig zum Sozialdemokraten. Nur möchte ich vom Individualismus retten,
was irgend zu retten ist.» In einer ganz individuellen Weise gebildeter
Persönlichkeitsspaltung bewahrte Wellhausen sich in aller scharfen
Kirchenkritik einen einfachen Kinderglauben an einen gütigen Gott. Tief
beeindruckt auch von Jacob Burckhardt, blieb er skeptisch gegenüber
allem Fortschrittsoptimismus. «Was uns verloren ist, ein Heiliges das
alle gleichmässig verbindet, lässt sich nicht machen. Aus der
Wissenschaft, und gar aus der Philosophie, entsteht es gewiss nicht.»
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