Donnerstag, 20. März 2014

Der Orientalist Julius Wellhausen.

aus NZZ, 19. 3. 2014
 
Der Verlust des Heiligen
Der protestantische Theologe und Orientalist Julius Wellhausen (1844-1918) in seinen Briefen

von Friedrich Wilhelm Graf · Am 5. April 1882 schreibt Julius Wellhausen, damals Ordinarius für Altes Testament in der theologischen Fakultät der Universität Greifswald, an den preussischen Kultusminister Gustav von Gossler. Er erinnert ihn daran, schon Ostern 1880 die Bitte vorgetragen zu haben, «wo möglich in die Philosophische Fakultät versetzt zu werden». «Ich bin Theologe geworden, weil mich die wissenschaftliche Behandlung der Bibel interessirte; es ist mir erst allmählich aufgegangen, dass ein Professor der Theologie zugleich die praktische Aufgabe hat, die Studenten für den Dienst in der evangelischen Kirche vorzubereiten, und dass ich dieser praktischen Aufgabe nicht genüge, vielmehr, trotz aller Zurückhaltung meinerseits, meine Zuhörer für ihr Amt eher untüchtig mache. Seitdem liegt mir meine theologische Professur schwer auf dem Gewissen.» Er wolle nun sein Amt niederlegen und sich in Göttingen oder Halle für semitische Philologie habilitieren. Nach einigem Zögern versetzte das preussische Kultusministerium Wellhausen dann als Extraordinarius für semitische Sprachen in die philosophische Fakultät der Universität Halle. So wurde der bedeutendste deutschsprachige Alttestamentler des 19. und 20. Jahrhunderts auch zu einem Gründervater der deutschsprachigen Islamwissenschaft und Arabistik.

Eine glänzende Edition

Diesen und 1091 andere gewichtige Briefe an Kollegen, Freunde, Familienmitglieder und Verleger kann man nun in einer glänzend gelungenen Edition lesen, die zahlreiche überraschende, auch sensationelle Funde bietet. Der Herausgeber Rudolf Smend, der grosse alte Mann der protestantischen Alttestamentler in Deutschland, konnte auch auf sein Privatarchiv zurückgreifen, war sein Grossvater gleichen Namens (1851-1913), Alttestamentler in Basel und Göttingen, doch der engste Freund Wellhausens. In den 1960er Jahren hatte Smend damit begonnen, für eine geplante Biografie Wellhausens in allen möglichen Archiven und bei den Nachkommen potenzieller Korrespondenzpartner nach Briefen seines Helden zu fahnden. Der Nachlass des Gelehrten selbst war nach dem Tod Wellhausens am 7. Januar 1918 von dessen Witwe vernichtet worden, so dass keine Briefe an Wellhausen überliefert sind. Auch kam eine von der Witwe geplante Sammlung von Erinnerungen und Memorabilien nicht zustande. Desto mehr überrascht, was Rudolf Smend in gut fünfzigjähriger akribischer Suche hat entdecken können. 

Julius Wellhausen: Briefe. Herausgegeben von Rudolf Smend in Zusammenarbeit mit Peter Porzig und Reinhard Müller. Mohr Siebeck, Tübingen 2013. 887 S., Fr. 104.90. 

Gewiss, man konnte damit rechnen, dass sich in den öffentlich zugänglichen Nachlässen des bedeutenden holländischen Alttestamentlers Abraham Kuenen, des Kirchenhistorikers Adolf von Harnack, des Orientalisten Carl Heinrich Becker, des klassischen Philologen Eduard Schwartz und des Islamwissenschafters Ignaz Goldziher Spuren der zum Teil sehr dichten Kontakte zu Wellhausen finden lassen. Aber es überrascht die Intensität, mit der der seit 1885 in Marburg lehrende Wellhausen sich mit dem Theologen Wilhelm Herrmann, dem Göttinger Religionsgelehrten Paul de Lagarde (dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Orientalia er 1892 wurde), dem Iranisten Ferdinand Justi und dem grossen Althistoriker Theodor Mommsen brieflich austauschte. Wer hätte geahnt, dass Max Reger Marie Wellhausen, der Ehefrau, Klavierunterricht erteilte und bisweilen im Hause Wellhausen zu Gast war? Wer wusste vom Besuch Wellhausens bei Franz Overbeck in Basel und von seiner Nietzsche-Lektüre? Wer kannte die starken Gefühle der Sympathie, die er für Albert Schweitzer hegte?

In Greifswald schrieb Wellhausen die beiden Bücher, die in der Wissenschaftsgeschichte der alttestamentlichen Theologie Epoche machten: «Die Composition des Hexateuch» (1876/77) und «Geschichte Israels I». 1894 folgte eine dem Freund Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff gewidmete «Israelitische und jüdische Geschichte». Das bis dahin tradierte Bild der Geschichte Israels destruierte Wellhausen mit dem Nachweis, dass weder Moses ein Gesetzgeber gewesen sei noch das alte, vorexilische Israel eine Tora, ein von Gott gegebenes Gesetz, gekannt habe. Pflichttreue zur Tora habe erst die nachexilische religiöse Kultgemeinschaft geprägt, die das von Assyrern und Chaldäern vernichtete Jahwe-Volk Israel überlebte.

Die durch prägnante literarkritische Quellenscheidung gewonnene Einsicht in den fundamentalen historischen Gegensatz zwischen altem Israel und späterem Judentum spiegelt auch eine modernitätsskeptische Sehnsucht nach dem Reinen, Klaren, Einfachen. In seiner neuen Meistererzählung vom erst späten Gesetz erkannte Wellhausen dem Ursprünglichen, Lebendigen, Konkreten, Echten einen höheren religiösen wie sittlichen Rang zu als dem Späteren, Epigonalen, durch Mischung Verunreinigten, so dass sein Judentum oft als steril, blass und lebensfeindlich erscheint. Aber der von Franz Overbeck erhobene Vorwurf des Antijudaismus oder gar Antisemitismus trifft nicht zu. Denn Wellhausen, ein enger Freund des deutschjüdischen Neukantianers Hermann Cohen, deutete auch die frühe Historie von Christentum und Islam im verfallsgeschichtlichen Schema einer Erstarrung ursprünglich reiner Frömmigkeit. Seiner entschiedenen Absage an jüdische Theokratie entsprach eine radikale Polemik gegen Kirchenchristentum und klerikalen Gesinnungszwang. Gewiss ist kein Antijudaist, wer immer wieder betont: «Jesus war kein Christ, sondern Jude.» Hermann Cohen hat in einem «Abschiedsgruss» an den Freund betont, dass Wellhausen «Menschenhass auch in der historisch-nationalen Form des Judenhasses innerlich zuwider war».

Schon die gelehrten Zeitgenossen priesen Wellhausen als einen Autor mit aussergewöhnlicher sprachlicher Brillanz. Auch die vielen gefundenen Briefe zeigen ihn nun als einen glänzenden Stilisten mit lapidarer, nicht selten selbstironischer Sachlichkeit. Eitelkeit ist ihm fremd, und so lehnt er jede Verehrung durch ihn bewundernde Jüngere damit ab, dass er kein «Ölgötze» sein möchte. Theologen und Historiker, die nur «sich vortragen», nicht aber ruhig und gründlich «die Sache» verfolgen, mag er nicht. Selbst sehr viel jüngeren Kollegen schreibt er mit ausgesuchter Höflichkeit. Bereitwillig teilt er Kollegen sie wohl interessierende Quellenzitate mit, schickt Korrekturvorschläge für die nächste Auflage ihrer Bücher, erinnert sie nüchtern an «die Individualität der Sachen» und streut, zunächst ein überzeugter Anhänger von Bismarcks Machtstaat, dann ein Kritiker des wilhelminischen Zwangs zum «Uniformieren», immer wieder Anmerkungen zur politischen Lage ein. Auch geht es, wie könnte es anders sein, um Berufungs- und überhaupt Bildungspolitik.

«Ich werde immer radikaler . . .»

Pathos und Phrasen mag Wellhausen nicht, und schon im September 1914 widert ihn die kriegsbedingte «Cultursalbaderei» an, «dass wir es dank Schiller und Goethe so herrlich weit gebracht haben und in der Wissenschaft und der allgemeinen Bildung alle andern Nationen übertreffen». «Ich misstraue aller Völkerpsychologie», schreibt Wellhausen im April 1915 an Wilhelm Herrmann. Grosse internationale Kongresse hält er für «Schwindel» - «wie alles Internationale», pflegt aber ganz engen Kontakt zu seinem in der englischsprachigen Welt bis heute berühmten schottischen Freund William Robertson Smith, der nach einer Art Ketzergericht 1881 seinen Lehrstuhl am Free Church College in Aberdeen verlor. Man muss nur Wellhausens 26 Briefe an Theodor Mommsen lesen, um die feinfühlige Eleganz zu spüren, in der hier ein bescheidenes Genie unter den Historikern der Alten Welt einem anderen grossen Althistoriker sich nähert - in der Absicht, ihn durch Quellenhinweise zu stützen und zu stärken.

Julius Wellhausens Lust daran, seine Kollegen in den theologischen Fakultäten mit steilen Thesen zu ärgern, bereitet grosses intellektuelles Vergnügen. Er will sich nicht anpassen. «Ich werde immer radikaler je älter ich werde; es fehlt mir wenig zum Sozialdemokraten. Nur möchte ich vom Individualismus retten, was irgend zu retten ist.» In einer ganz individuellen Weise gebildeter Persönlichkeitsspaltung bewahrte Wellhausen sich in aller scharfen Kirchenkritik einen einfachen Kinderglauben an einen gütigen Gott. Tief beeindruckt auch von Jacob Burckhardt, blieb er skeptisch gegenüber allem Fortschrittsoptimismus. «Was uns verloren ist, ein Heiliges das alle gleichmässig verbindet, lässt sich nicht machen. Aus der Wissenschaft, und gar aus der Philosophie, entsteht es gewiss nicht.»

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