Nicht jede Schlacht ein Triumph.
Das British Museum präsentiert neue Fakten und Funde in einer grossen Schau über die Wikinger. Allzu Erklärendes und Folkloristisches wird dabei vermieden. Der zusätzlich angestrebte Versuch, das Image der kriegerischen Seefahrer zu verändern, überzeugt allerdings weniger.
von Marion Löhndorf
Angeblich will die Wikinger-Ausstellung im British Museum mit dem Mythos aufräumen, laut dem die Wikinger eine mordende und brandschatzende Horde von Plünderern und blutrünstigen Kriegern waren. Tatsächlich aber zeigt die Ausstellung vor allem Belege dieser Aktivitäten, die ihre Zeitgenossen – mit jahrhundertelangem literarischem Nachhall – in Schrecken versetzten. Zu besichtigen sind jede Menge Helme, Schwerter und andere Kampfwerkzeuge. Leidenschaftliche Aufrufe zum Töten in der Schlacht sind an den Museumswänden zu lesen und entsetzte Beschreibungen derer, die den Weg der Invasoren kreuzten. Auch Beutestücke glänzen als Beweis ihrer Raubzüge, Gold und Silber und exotische Objekte, von den Seefahrern aus der ganzen Welt zusammengetragen. In einer Vitrine lagern geköpfte Skelette, die erst vor wenigen Jahren in Dorset gefunden wurden. An ihnen lassen sich zahlreiche Schwertwunden ausmachen: Bei den Toten handelt es sich um Wikinger. Den Kuratoren war die Erkenntnis wichtig, dass die skandinavischen Angreifer und Marodeure nicht immer die Gewinner waren, auch wenn sie den Krieg glorifizierten. Aber das hätte man sich ohnedies denken können.
Lewis-Schachfiguren, 1150-1145. Uig, Lewis, Schottland
Piraten, Bauern, Händler
Den angepeilten Imagewandel führt die Ausstellung also nicht herbei. Doch lehrt sie den Uneingeweihten einiges. Zum Beispiel, dass der Name Wikinger keine ethnische Zuordnung, sondern eher ein Tätigkeitsprofil ist: So genannt wurden Piraten oder Brandschatzer, die zwischen 800 und 1050 aus skandinavischen Ländern kamen. Ein Volk namens Wikinger gab es nicht; über den Ursprung der Bezeichnung existieren unterschiedliche Theorien. Viele Wikinger machten saisonal – manche nur in ihrer Jugend – die Meere unsicher, um sich dann als Bauern oder Kaufleute niederzulassen, oft in den zuvor überfallenen Gebieten. Im Handel übten sie sich auch schon unterwegs und schufen dabei, nach den Worten des Kurators Gareth Williams, «ein beispielloses globales Netzwerk von Kontakten und Einflüssen». Auf ihren Schiffen transportierten sie Sklaven, mit denen sie regen Handel trieben, und Güter wie Hölzer, Felle, Seide und Bernstein.
Ein Mythos sind auch die Hörner an den Helmen der Wikinger: Es gibt sie nicht, jegliche Hinweise darauf fehlen. Stattdessen trugen die Wikinger, Männer so gut wie Frauen, Augen-Make-up, weil sie der Meinung waren, es erhöhe und erhalte ihre Schönheit. Die wildesten Krieger tätowierten sich und feilten tiefe, horizontale Furchen in ihre Vorderzähne, um ihre Gegner einzuschüchtern und die Verachtung sozialer Normen anzudeuten. Bei den Arrivierten stand Schmuck hoch im Kurs: Im British Museum ist beispielsweise ein massiver Goldreif von so enormem Durchmesser zu sehen, dass kaum vorstellbar ist, wie er um den Hals getragen werden konnte – aber dafür war er gedacht. Selbst auf der Hinweistafel an der Vitrine klingt das Staunen darüber an. Doch wer den grössten, teuersten und meisten Schmuck trug, hatte es am weitesten gebracht. Die Wikinger waren zudem, wie die gezeigten Objekte belegen, hochbegabte Goldschmiede mit viel Feingefühl für filigrane Detailgestaltung.
Silbermünze von Anlaf (Olaf) Guthfrithsson von Northumbria, von 939 bis 941 König von Jorvik, England.
Langsam geleitet die Schau durch dunkelgrau ausgestaltete und mit dramatischen Spotlights ausgeleuchtete Gänge auf ihr Herzstück zu, das bedeutendste Statussymbol der Wikinger: ein Schiff, ein königliches dazu. Um mit einem Superlativ prunken zu können, bietet die Ausstellung das mit 37 Metern längste noch erhaltene Wikingerschiff der Welt auf – oder das, was davon übrig geblieben ist. Nur ein paar Planken des Schiffes aus dem Jahr 1025 gibt es noch – nach viel sieht das nicht aus. Um das Ganze vorstellbar zu machen, wurde ein Metallskelett in den Museumsraum gebaut, das die Form des Bootes nachempfindet, welches Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im dänischen Roskilde gefunden wurde. Die Holzstücke wurden an dem Metallgestell angebracht, wo man ihren ursprünglichen Platz vermutete.
Ohne Schiffe keine Wikinger
Ein Schiff so spektakulär ins Zentrum der Ausstellung zu rücken, ist fraglos naheliegend. Denn das Fortbewegungsmittel war das A und O des Wikinger-Lebens und -Todes: Ihre Boote waren derart wendig und mit solch handwerklicher Meisterschaft erdacht und erbaut, dass sie nicht nur die Meere, sondern auch Flüsse befahren und so tief ins Innere fremder Länder eindringen konnten. Hochrangige oder besonders angesehene Personen wurden in Schiffen beerdigt. Das Schiff war in der Kunst, in der Religion und in Symbolen gegenwärtig. Ohne Schiffe keine Wikinger – so schreibt es die dänische Königin im Vorwort des Ausstellungskatalogs. Mit ihren wendigen Fortbewegungsmitteln waren die Wikinger die Ersten, die vier Kontinente erreichten. Sie kamen bis Neufundland, Kanada, Nordafrika und nach Asien. Auch in Russland und Byzanz hinterliessen sie Spuren: In der Hagia Sophia im heutigen Istanbul finden sich Wikinger-Runen.
Penrith Silberbrosche, ca. 900, aus der Nähe von Penrith in der Grafschaft Cumbria, England
Was die Besucher im British Museum vielleicht besonders interessiert, ist das Erbe der Wikinger in ihrem eigenen Land. So hinterliessen die skandinavischen Eindringlinge, um nur ein Beispiel zu nennen, zahlreiche Spuren in der englischen Sprache: Aus «vindauga» wurde «window», aus «systir» wurde «sister» und aus «husbondi» wurde «husband» – die Liste ist lang. Auch viele Ortsnamen erinnern an die Wikinger, alle, die auf «-by», «-thorpe» oder «-thwaite» enden zum Beispiel. Die Wikinger mischten sich mit den Einheimischen. Ihre DNA ist heute nicht nur in England, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt zu finden.
Die Schau zieht auch an Wochentagen drängelnde Zuschauermassen an, denn hier handelt es sich nicht um ein obskures, untergegangenes Volk, sondern um ein evokatives, scheinbar vertrautes Sujet. Vielleicht, um dem Thema den Folkloreton zu nehmen, verzichteten die Kuratoren auf besondere Veranschaulichung, anders als die stärker erklärenden Ausstellungen des Hauses in der jüngeren Vergangenheit, etwa diejenige über Pompeji oder über den altägyptischen Glauben. Die Fundstücke ruhen säuberlich kategorisiert und getrennt in den Vitrinen – Schmuck gesellt sich hier zu Schmuck, Schwert zu Schwert. Wie die Dinge im Kontext ausgesehen haben mögen, bleibt der Phantasie der Besucher überlassen. Ein paar skandinavische Landschaftspanoramen an der Wand helfen da nicht viel weiter.
Neue Ausstellungshalle
Der Stil der Darbietung ist puristisch, abgesehen von einem melodramatischen, aber ziemlich überflüssigen Soundtrack aus Meeresrauschen, der die Zuschauer auf den Eintritt in den grossen Saal vorbereitet, in dem das Schiff zum Staunen einladen soll. Wer tiefer in das Leben und die Geschichte der Wikinger eintauchen will, kann auf den umfangreichen Katalog zurückgreifen, der sich in fünf übersichtliche Kapitel von «Glauben und Rituale» bis hin zu «Kriegsführung und militärische Expansion» gliedert. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem dänischen Nationalmuseum und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin, wo sie ab September im Martin-Gropius-Bau gezeigt wird. In London wird mit dem gross aufgezogenen Thema zugleich übrigens eine neue Ausstellungshalle des British Museum eingeweiht. Die sogenannte Sainsbury Exhibitions Gallery bietet auf 1100 Quadratmetern Fläche üppigen Platz für weitere Grossausstellungen in der Zukunft.
Bis 22. Juni 2014. Publikation: Gareth Williams, Peter Pentz, Matthias Wemhoff: Vikings – Life and Legend. British Museum, London 2014. 288 S., 350 Illustrationen, £ 25.–.
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