Donnerstag, 13. März 2014

Ukrainischer Nationalismus.

aus NZZ, 13. 3. 2014                                                                                    Lenin-Statue im Stadtzentrum von Simferopol © AFP.jpg
  
Mit oder gegen Russland?
Die schwierige Geschichte des ukrainischen Nationalismus

von Ulrich M. Schmid

Als Land in der kontinentalen Zwischenzone fiel es der Ukraine nicht leicht, zu sich selbst zu finden. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich alternativ zur weitverbreiteten «kleinrussischen» Identität die «ukrainische» Identität herauszukristallisieren. 

Als sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der ukrainische Nationalismus zu formieren begann, wagte noch niemand, von einem eigenen Staat zu träumen. Das Zarenreich befand sich nach dem Sieg über Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht. Der polnische Novemberaufstand 1830 war blutig niedergeschlagen worden - wenig später wollte der Zar die Ukrainer gegen die unzuverlässigen Polen ausspielen und gründete in Kiew eine Universität.

Eine russische Kulturnation im engeren Sinne gab es ebenfalls noch nicht lange: Sie hatte sich erst seit den Napoleonischen Kriegen herausgebildet. Zuvor definierten sich Adlige über ihren sozialen Status und hatten viel mehr mit den französischen Aristokraten gemein als mit ihren russischen Dienern. Das Russische war - wie auch das Ukrainische - zunächst die Rede des einfachen Mannes, die erst durch die romantischen Institutionen eines Nationalepos und eines Nationaldichters zur nationalen Literatursprache geadelt wurde. Im Falle Russlands war beides schnell zur Hand: Im Jahr 1797 wurde das angeblich altrussische «Igorlied» entdeckt, dessen Authentizität bis heute umstritten ist. Und mit Alexander Puschkin (1799-1837) erschien auch bald jenes Genie, das bis heute den innersten Kern der russischen Nationalkultur bildet. Puschkin rechtfertigte in seinen Gedichten die imperiale Machtausübung und wurde gleichzeitig zum Urheber des Klischees der «singenden und tanzenden» Ukraine.

Die russische Kultur als Folie

In der Ukraine war nicht die französische, sondern die russische Kultur jene Folie, vor deren Hintergrund sich ein autonomes Nationalbewusstsein herausbilden musste. Eine zentrale Rolle spielte die Kyrill-Methodius-Bruderschaft, die vom Historiker Mykola Kostomarow (1817-1885), vom Kritiker Pantelejmon Kulisch (1819-1897) und vom Dichter Taras Schewtschenko (1814-1861) ins Leben gerufen wurde. 1847 entstand in diesem Kreis eine pathetische Programmschrift mit dem Titel «Die Bücher des Werdens des ukrainischen Volkes». Dabei lehnte man sich stark an den polnischen Nationalismus an, der kurz zuvor Adam Mickiewicz (1798-1855) zum Nationaldichter erkoren hatte. Mickiewicz lieferte mit seinen antikisierenden «Büchern des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft» (1832) auch das Modell für die Konstruktion des ukrainischen Ursprungsmythos.

Der Kyrill-Methodius-Bruderschaft schwebte eine panslawische Vereinigung von Russen, Polen, Tschechen, Kroaten, Serben und Bulgaren unter der Führung der Ukraine vor. Bei dieser utopischen Vision schwangen auch starke sozialistische Untertöne mit. Nach einer Denunziation flog der romantische Zirkel auf - von ihm war indes keine ernsthafte Bedrohung für die Zarenherrschaft ausgegangen. Vor allem Taras Schewtschenko wurde hart bestraft, weil er einige respektlose Gedichte auf den Petersburger Hof geschrieben hatte. Beispielhaft zeigt sich an dieser Stelle eine prekäre Eigenschaft vieler russischer Intellektueller: Der sozial engagierte und durchaus regierungskritische Literaturkritiker Wissarion Belinski (1811-1848) konnte gar kein Verständnis für die nationalen Aspirationen des ukrainischen Dichters aufbringen und schrieb in einem Privatbrief, er hätte Schewtschenko noch länger in die Verbannung geschickt.

Schewtschenkos Festungshaft erhöhte ihn jedoch in den Augen der Ukrainer zu einem Märtyrer, der durch seine russische Prosa und seine ukrainische Lyrik als ideale Integrationsfigur und neuer Nationaldichter erschien. Kostomarow und Kulisch, seine ehemaligen Weggefährten, gaben in den Jahren 1861 und 1862 in der Hauptstadt die literarische Zeitschrift «Osnowa» heraus, mit der sie das russische Publikum für die ukrainische Sache sensibilisieren wollten. Sowohl Schewtschenkos Leben als auch sein Werk wurden hier zu einem kulturellen Ereignis aufgebaut.

Die meisten politischen und ethnografischen Beiträge erschienen in russischer Sprache, literarische Texte wurden hingegen auf Ukrainisch veröffentlicht. Die Herausgeber gingen davon aus, dass ein russischer Leser Ukrainisch verstehen konnte. Allerdings musste der Begriff «Ukraine» vermieden werden - die Zeitschrift «Osnowa» verwendete daher konsequent die Bezeichnungen «Kleinrussland» oder «Südrussland». Damit folgte sie der offiziellen Nomenklatur: Noch in der massgeblichen Enzyklopädie des späten Zarenreichs wurde der Eintrag über die ukrainische Literatur unter dem Lemm«Südrussische Literatur» geführt.

Ideale Ergänzung

In diesem harmonisierenden Sinne äusserte sich auch Kostomarow in der «Osnowa» mit dem Essay «Zwei russische Nationalitäten»: Das Russentum trete in einer grossrussischen und einer kleinrussischen Variante auf. Die erste sei staatsbildend, die zweite kulturtragend, deshalb seien beide Völker aufeinander angewiesen und ergänzten sich auf ideale Weise. Allerdings machten die politischen Ereignisse Kostomarow alsbald einen Strich durch die Rechnung: 1863 erhoben sich die Polen abermals. Die russischen Behörden reagierten scharf und verboten im Zarenreich nicht nur das Polnische, sondern auch das Ukrainische, das es laut dem russischen Innenminister als Sprache «nicht gibt, nicht gab und auch nicht geben kann». Trotz dieser Repression blieb die Idee einer ukrainisch-russischen Föderation weiter in der Debatte.

Als prominentester Vertreter dieser Position darf Mychailo Drahomanow (1841-1895) gelten, der noch im europäischen Exil für einen Ausgleich zwischen der Ukraine und Russland plädierte. Drahomanow war auch der Erste, der eine regionale Differenzierung der ukrainischen Kultur vornahm: Er unterschied zwischen einer ukrainischen Literatur in Russland und einer galizischen Literatur in Österreich. Letztlich befand sich Drahomanow aber schon auf verlorenem Posten. Das Verbot der ukrainischen Sprache befeuerte natürlich den Nationalismus in der Ukraine erst recht. In der Folge erhielten irredentistische Positionen Auftrieb, die in Forderungen nach Autonomie und Abspaltung mündeten. Auf der russischen Seite hielt sich die Vorstellung, dass das Ukrainische ein russischer Dialekt sei, auch nach der offiziellen Anerkennung des Ukrainischen durch die Akademie der Wissenschaften 1905 hartnäckig. So sprach noch der weisse General Wrangel, der sich im russischen Bürgerkrieg mit dem Hetman Skoropadski gegen die Bolschewiki verbündet hatte, verächtlich vom «sogenannten» Ukrainischen.

Auch der Faschismus hinterliess im ukrainischen Nationalismus seine Spuren. Der Publizist Dmytro Doncow (1893-1973), der von 1919 bis 1921 Botschafter der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik in Bern war, zeigte sich von Mussolini begeistert und wandte die Nazi-Rassenlehre auf die Ukraine an. Er bedauerte, dass dort leider mittlerweile durch russischen Einfluss der «ostische Typ» überwiege. Es gelte nun, dem durch «Demokratisierung» und «Verbäuerlichung» verdorbenen Kosakenblut seine ursprüngliche Kraft durch ein hohes Ideal zurückzugeben. Doncows Gedanken sind heute jedoch in der Ukraine nur noch in der rechtsradikalen Szene populär.

Während der Sowjetzeit wurde der ukrainische Nationalismus bestenfalls zur Folklore degradiert und schlimmstenfalls ausgemerzt. Die Bolschewiken betrieben zwar zunächst eine recht milde Nationalitätenpolitik. Lenin wollte die Sowjetunion als genaues Gegenbild zum «Völkergefängnis» des Zarenreichs aufbauen. Deshalb wurde 1922 die Sowjetunion als Föderation gegründet. Bis heute verehren viele ältere Ukrainer Lenin als Gründungsvater der Ukraine. Dabei verkennen sie jedoch, dass der Revolutionsführer den sozialistischen Nationalstaat nur als provisorische Übergangslösung für den Weg zum Kommunismus betrachtete. Bald zeigte der Sowjetkommunismus in der Ukraine sein wahres Gesicht. Zu Beginn der dreissiger Jahre wurden führende Kommissare der ukrainischen KP verhaftet oder in den Selbstmord getrieben.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entfaltete ein neues Selbstbeschreibungsmodell seine Wirkung. Viele Ukrainer sehen sich in einer postkolonialen Situation: Russland ist zwar als imperiale Macht aus dem Land abgezogen, hält die Ukraine aber weiterhin in einer politischen und militärischen Abhängigkeit gefangen. Diese Deutung ist sowohl falsch als auch zutreffend. Sie verkennt insbesondere die führende Rolle, die Ukrainer wie Nikita Chruschtschew oder Leonid Breschnew im Moskauer Repressionsapparat gespielt haben. Sie unterstreicht aber zu Recht die politisch motivierte Dominanz Russlands im Sowjetimperium. Die jüngsten Ereignisse auf der Krim bestätigten diesen Befund.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen