Mit oder gegen Russland?
Die schwierige Geschichte des ukrainischen Nationalismus
Die schwierige Geschichte des ukrainischen Nationalismus
von Ulrich M. Schmid
Als Land in der kontinentalen Zwischenzone fiel es der Ukraine nicht leicht, zu sich selbst zu finden. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich alternativ zur weitverbreiteten «kleinrussischen» Identität die «ukrainische» Identität herauszukristallisieren.
Als sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der ukrainische Nationalismus zu formieren begann, wagte noch niemand, von einem eigenen Staat zu träumen. Das Zarenreich befand sich nach dem Sieg über Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht. Der polnische Novemberaufstand 1830 war blutig niedergeschlagen worden - wenig später wollte der Zar die Ukrainer gegen die unzuverlässigen Polen ausspielen und gründete in Kiew eine Universität.
Eine russische Kulturnation im
engeren Sinne gab es ebenfalls noch nicht lange: Sie hatte sich erst
seit den Napoleonischen Kriegen herausgebildet. Zuvor definierten sich
Adlige über ihren sozialen Status und hatten viel mehr mit den
französischen Aristokraten gemein als mit ihren russischen Dienern. Das
Russische war - wie auch das Ukrainische - zunächst die Rede des
einfachen Mannes, die erst durch die romantischen Institutionen eines
Nationalepos und eines Nationaldichters zur nationalen Literatursprache
geadelt wurde. Im Falle Russlands war beides schnell zur Hand: Im Jahr
1797 wurde das angeblich altrussische «Igorlied» entdeckt, dessen
Authentizität bis heute umstritten ist. Und mit Alexander Puschkin
(1799-1837) erschien auch bald jenes Genie, das bis heute den innersten
Kern der russischen Nationalkultur bildet. Puschkin rechtfertigte in
seinen Gedichten die imperiale Machtausübung und wurde gleichzeitig zum
Urheber des Klischees der «singenden und tanzenden» Ukraine.
Die russische Kultur als Folie
In der Ukraine war nicht die
französische, sondern die russische Kultur jene Folie, vor deren
Hintergrund sich ein autonomes Nationalbewusstsein herausbilden musste.
Eine zentrale Rolle spielte die Kyrill-Methodius-Bruderschaft, die vom
Historiker Mykola Kostomarow (1817-1885), vom Kritiker Pantelejmon
Kulisch (1819-1897) und vom Dichter Taras Schewtschenko (1814-1861) ins
Leben gerufen wurde. 1847 entstand in diesem Kreis eine pathetische
Programmschrift mit dem Titel «Die Bücher des Werdens des ukrainischen
Volkes». Dabei lehnte man sich stark an den polnischen Nationalismus an,
der kurz zuvor Adam Mickiewicz (1798-1855) zum Nationaldichter erkoren
hatte. Mickiewicz lieferte mit seinen antikisierenden «Büchern des
polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft» (1832) auch das
Modell für die Konstruktion des ukrainischen Ursprungsmythos.
Der Kyrill-Methodius-Bruderschaft
schwebte eine panslawische Vereinigung von Russen, Polen, Tschechen,
Kroaten, Serben und Bulgaren unter der Führung der Ukraine vor. Bei
dieser utopischen Vision schwangen auch starke sozialistische Untertöne
mit. Nach einer Denunziation flog der romantische Zirkel auf - von ihm
war indes keine ernsthafte Bedrohung für die Zarenherrschaft
ausgegangen. Vor allem Taras Schewtschenko wurde hart bestraft, weil er
einige respektlose Gedichte auf den Petersburger Hof geschrieben hatte.
Beispielhaft zeigt sich an dieser Stelle eine prekäre Eigenschaft vieler
russischer Intellektueller: Der sozial engagierte und durchaus
regierungskritische Literaturkritiker Wissarion Belinski (1811-1848)
konnte gar kein Verständnis für die nationalen Aspirationen des
ukrainischen Dichters aufbringen und schrieb in einem Privatbrief, er
hätte Schewtschenko noch länger in die Verbannung geschickt.
Schewtschenkos Festungshaft
erhöhte ihn jedoch in den Augen der Ukrainer zu einem Märtyrer, der
durch seine russische Prosa und seine ukrainische Lyrik als ideale
Integrationsfigur und neuer Nationaldichter erschien. Kostomarow und
Kulisch, seine ehemaligen Weggefährten, gaben in den Jahren 1861 und
1862 in der Hauptstadt die literarische Zeitschrift «Osnowa» heraus, mit
der sie das russische Publikum für die ukrainische Sache
sensibilisieren wollten. Sowohl Schewtschenkos Leben als auch sein Werk
wurden hier zu einem kulturellen Ereignis aufgebaut.
Die meisten politischen und
ethnografischen Beiträge erschienen in russischer Sprache, literarische
Texte wurden hingegen auf Ukrainisch veröffentlicht. Die Herausgeber
gingen davon aus, dass ein russischer Leser Ukrainisch verstehen konnte.
Allerdings musste der Begriff «Ukraine» vermieden werden - die
Zeitschrift «Osnowa» verwendete daher konsequent die Bezeichnungen
«Kleinrussland» oder «Südrussland». Damit folgte sie der offiziellen
Nomenklatur: Noch in der massgeblichen Enzyklopädie des späten
Zarenreichs wurde der Eintrag über die ukrainische Literatur unter dem
Lemm«Südrussische Literatur» geführt.
Ideale Ergänzung
In diesem harmonisierenden Sinne
äusserte sich auch Kostomarow in der «Osnowa» mit dem Essay «Zwei
russische Nationalitäten»: Das Russentum trete in einer grossrussischen
und einer kleinrussischen Variante auf. Die erste sei staatsbildend, die
zweite kulturtragend, deshalb seien beide Völker aufeinander angewiesen
und ergänzten sich auf ideale Weise. Allerdings machten die politischen
Ereignisse Kostomarow alsbald einen Strich durch die Rechnung: 1863
erhoben sich die Polen abermals. Die russischen Behörden reagierten
scharf und verboten im Zarenreich nicht nur das Polnische, sondern auch
das Ukrainische, das es laut dem russischen Innenminister als Sprache
«nicht gibt, nicht gab und auch nicht geben kann». Trotz dieser
Repression blieb die Idee einer ukrainisch-russischen Föderation weiter
in der Debatte.
Als prominentester Vertreter
dieser Position darf Mychailo Drahomanow (1841-1895) gelten, der noch im
europäischen Exil für einen Ausgleich zwischen der Ukraine und Russland
plädierte. Drahomanow war auch der Erste, der eine regionale
Differenzierung der ukrainischen Kultur vornahm: Er unterschied zwischen
einer ukrainischen Literatur in Russland und einer galizischen
Literatur in Österreich. Letztlich befand sich Drahomanow aber schon auf
verlorenem Posten. Das Verbot der ukrainischen Sprache befeuerte
natürlich den Nationalismus in der Ukraine erst recht. In der Folge
erhielten irredentistische Positionen Auftrieb, die in Forderungen nach
Autonomie und Abspaltung mündeten. Auf der russischen Seite hielt sich
die Vorstellung, dass das Ukrainische ein russischer Dialekt sei, auch
nach der offiziellen Anerkennung des Ukrainischen durch die Akademie der
Wissenschaften 1905 hartnäckig. So sprach noch der weisse General
Wrangel, der sich im russischen Bürgerkrieg mit dem Hetman Skoropadski
gegen die Bolschewiki verbündet hatte, verächtlich vom «sogenannten»
Ukrainischen.
Auch der Faschismus hinterliess im
ukrainischen Nationalismus seine Spuren. Der Publizist Dmytro Doncow
(1893-1973), der von 1919 bis 1921 Botschafter der kurzlebigen
Ukrainischen Volksrepublik in Bern war, zeigte sich von Mussolini
begeistert und wandte die Nazi-Rassenlehre auf die Ukraine an. Er
bedauerte, dass dort leider mittlerweile durch russischen Einfluss der
«ostische Typ» überwiege. Es gelte nun, dem durch «Demokratisierung» und
«Verbäuerlichung» verdorbenen Kosakenblut seine ursprüngliche Kraft
durch ein hohes Ideal zurückzugeben. Doncows Gedanken sind heute jedoch
in der Ukraine nur noch in der rechtsradikalen Szene populär.
Während der Sowjetzeit wurde der
ukrainische Nationalismus bestenfalls zur Folklore degradiert und
schlimmstenfalls ausgemerzt. Die Bolschewiken betrieben zwar zunächst
eine recht milde Nationalitätenpolitik. Lenin wollte die Sowjetunion als
genaues Gegenbild zum «Völkergefängnis» des Zarenreichs aufbauen.
Deshalb wurde 1922 die Sowjetunion als Föderation gegründet. Bis heute
verehren viele ältere Ukrainer Lenin als Gründungsvater der Ukraine.
Dabei verkennen sie jedoch, dass der Revolutionsführer den
sozialistischen Nationalstaat nur als provisorische Übergangslösung für
den Weg zum Kommunismus betrachtete. Bald zeigte der Sowjetkommunismus
in der Ukraine sein wahres Gesicht. Zu Beginn der dreissiger Jahre
wurden führende Kommissare der ukrainischen KP verhaftet oder in den
Selbstmord getrieben.
Nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion entfaltete ein neues Selbstbeschreibungsmodell seine
Wirkung. Viele Ukrainer sehen sich in einer postkolonialen Situation:
Russland ist zwar als imperiale Macht aus dem Land abgezogen, hält die
Ukraine aber weiterhin in einer politischen und militärischen
Abhängigkeit gefangen. Diese Deutung ist sowohl falsch als auch
zutreffend. Sie verkennt insbesondere die führende Rolle, die Ukrainer
wie Nikita Chruschtschew oder Leonid Breschnew im Moskauer
Repressionsapparat gespielt haben. Sie unterstreicht aber zu Recht die
politisch motivierte Dominanz Russlands im Sowjetimperium. Die jüngsten
Ereignisse auf der Krim bestätigten diesen Befund.
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