Der grosse Bruder und die kleine Schwester
Das imperiale Erbe prägt noch immer die russisch-ukrainischen Beziehungen
von Andreas Kappeler
Das imperiale Erbe prägt noch immer die russisch-ukrainischen Beziehungen
von Andreas Kappeler
Weite Teile der russischen Gesellschaft betrachten die Ukrainer nach wie vor als Teil der orthodoxen russischen Nation. Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern bleibt asymmetrisch. Russland beansprucht eine hegemoniale Stellung.
Die jüngsten Ereignisse haben zu einer dramatischen Konfrontation Russlands mit der Ukraine geführt. Dies ist ein neues Phänomen, denn beide Staaten bestehen erst seit dem Jahr 1991, als die 15 Sowjetrepubliken, unter ihnen die Russische und die Ukrainische, ihre Unabhängigkeit erklärten. Damals versetzten gerade die Präsidenten Russlands und der Ukraine, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, der Sowjetunion den Todesstoss. Allerdings beruft sich die Russische Föderation auf eine ungebrochene, bis ins Mittelalter zurückgehende Staatlichkeit, während die Ukraine nur auf kurzfristige Ansätze von Staatsbildung im 17. Jahrhundert und in den Jahren 1918 bis 1920 zurückgreifen kann. Der grösste Teil der Ukraine war während dreier beziehungsweise zweier Jahrhunderte Teil des Zarenreiches und der Sowjetunion, und dieses imperiale Erbe hatte eine Asymmetrie in den russisch-ukrainischen Beziehungen zur Folge, die bis heute anhält.
Historische Wurzeln
Bevor die Ukraine in das russische
Imperium eingegliedert wurde, gehörte sie während drei beziehungsweise
vier Jahrhunderten zum Königreich Polen-Litauen. Über Polen fanden
mitteleuropäische geistige Strömungen wie Humanismus, Renaissance,
Reformation, Gegenreformation und Barock sowie Institutionen wie das
Stadtrecht Eingang in die Ukraine. Diese war im 17. Jahrhundert der
wichtigste Kanal für die Verwestlichung Russlands. Nachdem sich die
ukrainischen Kosaken in der Mitte des 17. Jahrhunderts von der
Herrschaft Polens befreit hatten und einen unabhängigen
Herrschaftsverband, das Hetmanat, begründet hatten, unterstellten sie
sich 1654 dem russischen Zaren.
Das Hetmanat, das die Gebiete am
linken Ufer des Dnjepr (mit Kiew auf dem rechten Ufer) umfasste, war ein
mit einer weiten Autonomie ausgestatteter Bestandteil des Zarenreiches.
Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Hetmanat
aufgelöst, und in den Teilungen Polens fielen die meisten übrigen
ukrainischen Gebiete (mit Ausnahme Galiziens und der Bukowina) an
Russland, das jetzt eine Grossmacht geworden war. In derselben Zeit
wurde die heutige Ost- und Südukraine (mit der Krim) von ukrainischen
und russischen Bauern besiedelt und kam direkt unter russische
Herrschaft. Die stärkere Ausrichtung auf Russland im Osten und Süden und
die Westorientierung in den übrigen Teilen der Ukraine haben also tiefe
historische Wurzeln.
Im russischen Imperium wurde den
meisten neu erworbenen Gebieten wie dem Baltikum, Finnland und
ursprünglich auch Polen eine politische und kulturelle Autonomie
garantiert. Die Ukraine wurde dagegen direkt in die russische Verwaltung
eingegliedert, der ukrainische Adel wurde russifiziert, und die
ukrainische Sprache sank zu einer Bauernsprache ab. Die Regierung
anerkannte die Ukrainer nicht einmal als eigenständiges Volk, sondern
nur als Bestandteil einer «allrussischen Nation», die sich aus
Grossrussen, Kleinrussen (Ukrainern) und Weissrussen zusammensetzte. Als
sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts Anfänge einer ukrainischen
Nationalbewegung regten, reagierte man mit Repressionen, da die Einheit
der «allrussischen Nation» gefährdet schien. Der Druck
ukrainischsprachiger Schriften, ukrainische Schulen und sogar der
Gebrauch des Namens Ukraine wurden verboten. Als nach der russischen
Revolution das Zarenreich zerfiel, erklärte sich auch die Ukraine für
unabhängig, wurde jedoch bald von der Roten Armee besetzt. Die
Sowjetregierung anerkannte aber die Ukrainer als Nation, schuf eine
Ukrainische Sowjetrepublik und damit den Rahmen für den heutigen
ukrainischen Staat und förderte zunächst die ukrainische Sprache. Seit
den 1930er Jahren schlug das Pendel zurück, und die Ukraine wurde zur
kleinen Schwester degradiert, die vom grossen russischen Bruder
dominiert wurde und erneut einer Russifizierung unterlag.
Die Beziehungen zwischen Russland
und der Ukraine sind bis heute von diesem imperialen Erbe geprägt. Weite
Teile der russischen Gesellschaft haben sich nicht damit abgefunden,
dass die Ukraine ein eigenständiger Staat ist, und betrachten die
Ukrainer weiterhin als Teil einer orthodoxen russischen Nation und die
ukrainische Sprache als russischen Dialekt. Das Verhältnis bleibt
asymmetrisch, Russland beansprucht eine hegemoniale Stellung.
Verbreitete Zweisprachigkeit
Ein zentrales Element des
imperialen Erbes ist die starke Stellung der russischen Sprache in der
Ukraine. In der späten Sowjetunion war Russisch Umgangs- und
Verkehrssprache, während das Ukrainische nur in den westlichen Gebieten,
die erst im Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion annektiert worden
waren, unter der bäuerlichen Bevölkerung und bei den wenigen national
orientierten Ukrainern erhalten blieb. Der unabhängige Staat erklärte
das Ukrainische zur Staatssprache, um es aus seiner subalternen Position
zu befreien. Dies gelang nur zum Teil, und noch heute erklärt sich etwa
die Hälfte der Bevölkerung als russischsprachig, in den Städten der
Ost- und Südukraine dominiert weiter das Russische.
Allerdings ist Zweisprachigkeit,
die durch die Verwandtschaft der beiden Sprachen erleichtert wird,
verbreitet. Auf den Strassen Kiews hört man weiterhin ebenso viel
Russisch wie Ukrainisch. Die meisten russischsprachigen Ukrainer sind
loyale Staatsbürger, und nur eine Minderheit schielt nach Russland. So
hat sich etwa der bekannte Schriftsteller Andrei Kurkow, der ethnischer
Russe ist, selbst als ukrainischen Patrioten bezeichnet. Die von
Russland erhobenen und zur Legitimation der Annexion der Krim
herangezogenen Vorwürfe, dass in der Ukraine die russische Sprache und
die russischsprachige Bevölkerung diskriminiert würden, entbehren also
der Grundlage.
Ein zweites Element des imperialen
Erbes ist die orthodoxe Kirche. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts,
als die ukrainische orthodoxe Kirche dem Moskauer Patriarchat
unterstellt wurde, gehört die Mehrheit der ukrainischen Gläubigen dieser
Kirche an. Minderheiten sind in der national orientierten ukrainischen
orthodoxen Kirche (Kiewer Patriarchat), einer kleinen autokephalen
Kirche und in der in Galizien und der Karpato-Ukraine dominierenden
ukrainisch-katholischen Kirche organisiert. Die russische orthodoxe
Kirche arbeitete fast immer eng mit dem Staat zusammen und wurde in den
Dienst der imperialen Politik gestellt. Daran hat sich bis heute wenig
geändert. Der Moskauer Patriarch, der die Ukraine regelmässig besucht,
vertritt meist offizielle Positionen. Daraus ergibt sich für viele
Ukrainer ein Loyalitätskonflikt zwischen dem Kirchenoberhaupt und dem
ukrainischen Staat.
Divergierende Erinnerungen
Sprache, Religion und eine lange
gemeinsame Geschichte verbinden Russen und Ukrainer, so dass die
Abgrenzung der ukrainischen von der russischen Nation nicht einfach ist.
Deshalb spielen unterschiedliche und konkurrierende historische
Erinnerungen eine bedeutende Rolle. Man kann von einem Krieg der
Erinnerungen zwischen Russland und der Ukraine sprechen. Ich nenne drei
Beispiele. Umstritten ist das Erbe des ersten ostslawischen Reichs, der
mittelalterlichen Kiewer Rus. Im russischen Narrativ wird
selbstverständlich eine direkte Kontinuität vom Kiewer zum Moskauer und
Petersburger bis zum zweiten (sowjetischen und nachsowjetischen)
Moskauer Reich gezogen. In der ukrainischen kollektiven Erinnerung wird
die Kiewer Rus dagegen für die Ukraine beansprucht, während behauptet
wird, dass ein russischer Staat erst später entstanden sei. Seit der
Historiker und nationale Politiker Mychailo Hruschewsky diese These zu
Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestellt hat, ist sie ein wichtiger
nationaler Mythos. Der Streit um das Erbe der Kiewer Rus ist zwar
wissenschaftlich unergiebig, kann man doch für das Mittelalter noch
nicht von Russen und Ukrainern sprechen. Er wird jedoch bis heute
vehement weitergeführt. Im September 2013 schaltete sich sogar der
russische Präsident Wladimir Putin ein, indem er das Kiewer Reich als
«Grundlage des gewaltigen russischen Staates» herausstellte und daran
die Bemerkung anknüpfte, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien.
Eine besonders umstrittene Figur
ist der ukrainische Kosakenhetman Iwan Masepa, der sich im Jahre 1708
von Russland abwandte und mit dem schwedischen König Karl XII., der
gegen Peter den Grossen zu Felde zog, verbündete. Ein Jahr später
besiegte Russland bei Poltawa die schwedischen und kosakischen Truppen.
Masepa gilt deshalb in Russland als Prototyp des Verräters, gegen den
die orthodoxe Kirche ein Anathema verhängte, das bis heute nicht
widerrufen worden ist. Für viele Ukrainer ist Masepa dagegen ein
Freiheitsheld, der versuchte, die Ukraine aus der russischen
Umklammerung zu lösen. Wie lebendig die Figur Masepas geblieben ist,
zeigt die Tatsache, dass die Ukrainer auch heute wieder von russischer
Seite als «Masepisten» bezeichnet werden, die Russland verraten und
gemeinsam mit fremden Mächten (unter denen oft Schweden genannt wird)
gegen Russland zu Felde ziehen. Der Sieg gegen Hitlerdeutschland im
«Grossen Vaterländischer Krieg» ist der zentrale Erinnerungsort der
Russen und zahlreicher Ukrainer. In der Westukraine ist dagegen ein
konkurrierendes Narrativ verbreitet, das den Kampf der von Stepan
Bandera angeführten Organisation ukrainischer Nationalisten und der
ukrainischen Aufstandsarmee gegen die Sowjetunion als nationalen
Befreiungskrieg glorifiziert. Dass diese Organisationen zeitweise mit
den Nationalsozialisten kollaborierten und auch an der Ermordung von
Juden und zahlreichen Polen beteiligt waren, wird oft heruntergespielt.
Diese Erinnerung an den Zweiten
Weltkrieg, die von Mitgliedern der Partei Swoboda (Freiheit) gepflegt
wird, ist in der Ukraine nicht mehrheitsfähig, die überwiegende Mehrheit
der Ukrainer lehnt sie ab. So ist die Propagandakampagne Russlands (und
der Führung der Krim-Republik), in der die neue ukrainische Regierung
pauschal als Nazis verleumdet wird, nicht gerechtfertigt. Zwar waren
unter den Aktivisten auf dem Maidan aus der Westukraine stammende
Anhänger der nationalistischen Partei Swoboda, doch gehören etwa
Ministerpräsident Jazenjuk, der amtierende Staatspräsident Turtschinow
oder Witali Klitschko gemässigten Gruppierungen an.
Sowjetnostalgie
Es ist offensichtlich, dass
Wladimir Putin das Ziel verfolgt, das russische und sowjetische Imperium
zu erneuern und die Hegemonie über den postsowjetischen Raum zu
gewinnen. Dazu dienen die Projekte der Zollunion, der bisher nur
Weissrussland und Kasachstan beigetreten sind, und einer Eurasischen
Union, die der Europäischen Union entgegengestellt werden soll. In
dieser Strategie kommt der Ukraine eine zentrale Stelle zu. Laut einer
vielzitierten Äusserung des amerikanischen Politologen Zbigniew
Brzezinski aus dem Jahr 1997 verliert Russland ohne die Ukraine seinen
Status als Imperium. Ich würde allerdings meinen, dass eine von Russland
dominierte Eurasische Union mit Weissrussland und den
zentralasiatischen Staaten auch ohne die Ukraine einen imperialen
Charakter hätte.
Dieses neoimperiale Projekt
geniesst breite Unterstützung in der russischen Bevölkerung. Viele
Russen haben sich nicht damit abgefunden, dass ihr Land seine Stellung
als Supermacht verloren hat, und Sowjetnostalgie ist im Aufwind. Auch in
Teilen der ukrainischen Bevölkerung, vor allem im Osten des Landes, ist
das imperiale Erbe noch lebendig und wird von den russischen
Fernsehsendern genährt. Die Erinnerung an die guten alten Zeiten der
Sowjetunion, als die Bergleute des Donbass noch als Helden der Arbeit
gefeiert wurden, die Feindbilder des Westens, besonders der Nato und der
USA, sind hier lebendig, ebenso wie die Ablehnung der «faschistischen»
Westukrainer. Auch die Verbundenheit mit Russland und seiner Kultur ist
im Osten enger als in den anderen Regionen.
Solche Stimmungen dürfen nicht
einfach als reaktionär abgetan werden, sondern die neue Regierung in
Kiew muss sie in Rechnung ziehen. Handlungen wie die Ernennung Banderas
zum «Helden der Ukraine» durch den früheren Präsidenten Juschtschenko
und die - allerdings nicht in Kraft gesetzte - Aufhebung des
Sprachgesetzes, das die Stellung des Russischen in den Regionen
verbessert hatte, durch die neue Regierung waren wenig hilfreich. Es
gilt jetzt, den Bewohnern der Ost- und Südukraine zu signalisieren, dass
man ihre Sorgen und Bedürfnisse ernst nimmt. Ob dies mittelfristig die
Gewährung politischer Autonomie oder gar eine Föderalisierung der
Ukraine mit sich bringen könnte, lässt sich heute nicht abschätzen. Dies
wäre meines Erachtens eine Option, um den heterogenen ukrainischen
Staat nachhaltig zu stabilisieren und das imperiale Erbe zu überwinden.
Andreas Kappeler ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Nota.
Das Völkerrecht hat vor allem einen Zweck: den Frieden zwischen den Staaten zu erhalten; dafür ist es im 17. Jahrhundert entstanden. Frieden, das heißt, dass am besten alles so bleibt, wie es ist. Das Völkerrecht ist ursprünglich ein Sittenkodex der Herrschenden. Das hat sich im 20. Jahrhundert geändert, aber eine Stütze des Status quo ist es wie eh und je. Wie künstlich, wie willkürlich ein territoriales Gebilde auch zustandegekommen sein mag, das Glaubensbekentnis heißt Bloß nicht an den Grenzen rühren!
Dass die Ukraine erstmals in der Geschichte ein souveräner Staat wurde, verdankt sie einer ganz großen Erschütterung des Status quo, Putin leidet noch heut daran. Aber dass die Krim 1957 durch einen administrativen Federstrich der ukrainischen Sowjetrepublik angegliedert wurde, verdankt sie einem bürokratischen Willkürakt des gebürtigen Ukrainers Chruschtschow. Die weltpolitischen Pläne Putins, sofern er welche hat, mag man so oder anders beurteilen, und wie man sich dazu verhalten sollte, ebenfalls. Das Völkerrecht ist eine Sache, die Politiker zu bedenken haben. Aber die verständigen Köpfe unter denen, die von ihnen vertreten werden, sollten es nicht zu hoch veranschlagen. Ein Status quo, der von den Völkern nicht gewünscht wird, ist kein Friedensgarant, sondern eine Fallgrube.
JE
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