Mittwoch, 19. März 2014

Die Ukraine und Russland.

aus NZZ, 19. 3. 2014                                                                                                                    Delacroix, Mazeppa

Der grosse Bruder und die kleine Schwester
Das imperiale Erbe prägt noch immer die russisch-ukrainischen Beziehungen
 


von Andreas Kappeler 

Weite Teile der russischen Gesellschaft betrachten die Ukrainer nach wie vor als Teil der orthodoxen russischen Nation. Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern bleibt asymmetrisch. Russland beansprucht eine hegemoniale Stellung. 

Die jüngsten Ereignisse haben zu einer dramatischen Konfrontation Russlands mit der Ukraine geführt. Dies ist ein neues Phänomen, denn beide Staaten bestehen erst seit dem Jahr 1991, als die 15 Sowjetrepubliken, unter ihnen die Russische und die Ukrainische, ihre Unabhängigkeit erklärten. Damals versetzten gerade die Präsidenten Russlands und der Ukraine, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, der Sowjetunion den Todesstoss. Allerdings beruft sich die Russische Föderation auf eine ungebrochene, bis ins Mittelalter zurückgehende Staatlichkeit, während die Ukraine nur auf kurzfristige Ansätze von Staatsbildung im 17. Jahrhundert und in den Jahren 1918 bis 1920 zurückgreifen kann. Der grösste Teil der Ukraine war während dreier beziehungsweise zweier Jahrhunderte Teil des Zarenreiches und der Sowjetunion, und dieses imperiale Erbe hatte eine Asymmetrie in den russisch-ukrainischen Beziehungen zur Folge, die bis heute anhält.

Historische Wurzeln

Bevor die Ukraine in das russische Imperium eingegliedert wurde, gehörte sie während drei beziehungsweise vier Jahrhunderten zum Königreich Polen-Litauen. Über Polen fanden mitteleuropäische geistige Strömungen wie Humanismus, Renaissance, Reformation, Gegenreformation und Barock sowie Institutionen wie das Stadtrecht Eingang in die Ukraine. Diese war im 17. Jahrhundert der wichtigste Kanal für die Verwestlichung Russlands. Nachdem sich die ukrainischen Kosaken in der Mitte des 17. Jahrhunderts von der Herrschaft Polens befreit hatten und einen unabhängigen Herrschaftsverband, das Hetmanat, begründet hatten, unterstellten sie sich 1654 dem russischen Zaren.

Das Hetmanat, das die Gebiete am linken Ufer des Dnjepr (mit Kiew auf dem rechten Ufer) umfasste, war ein mit einer weiten Autonomie ausgestatteter Bestandteil des Zarenreiches. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Hetmanat aufgelöst, und in den Teilungen Polens fielen die meisten übrigen ukrainischen Gebiete (mit Ausnahme Galiziens und der Bukowina) an Russland, das jetzt eine Grossmacht geworden war. In derselben Zeit wurde die heutige Ost- und Südukraine (mit der Krim) von ukrainischen und russischen Bauern besiedelt und kam direkt unter russische Herrschaft. Die stärkere Ausrichtung auf Russland im Osten und Süden und die Westorientierung in den übrigen Teilen der Ukraine haben also tiefe historische Wurzeln.

Im russischen Imperium wurde den meisten neu erworbenen Gebieten wie dem Baltikum, Finnland und ursprünglich auch Polen eine politische und kulturelle Autonomie garantiert. Die Ukraine wurde dagegen direkt in die russische Verwaltung eingegliedert, der ukrainische Adel wurde russifiziert, und die ukrainische Sprache sank zu einer Bauernsprache ab. Die Regierung anerkannte die Ukrainer nicht einmal als eigenständiges Volk, sondern nur als Bestandteil einer «allrussischen Nation», die sich aus Grossrussen, Kleinrussen (Ukrainern) und Weissrussen zusammensetzte. Als sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts Anfänge einer ukrainischen Nationalbewegung regten, reagierte man mit Repressionen, da die Einheit der «allrussischen Nation» gefährdet schien. Der Druck ukrainischsprachiger Schriften, ukrainische Schulen und sogar der Gebrauch des Namens Ukraine wurden verboten. Als nach der russischen Revolution das Zarenreich zerfiel, erklärte sich auch die Ukraine für unabhängig, wurde jedoch bald von der Roten Armee besetzt. Die Sowjetregierung anerkannte aber die Ukrainer als Nation, schuf eine Ukrainische Sowjetrepublik und damit den Rahmen für den heutigen ukrainischen Staat und förderte zunächst die ukrainische Sprache. Seit den 1930er Jahren schlug das Pendel zurück, und die Ukraine wurde zur kleinen Schwester degradiert, die vom grossen russischen Bruder dominiert wurde und erneut einer Russifizierung unterlag.

Die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sind bis heute von diesem imperialen Erbe geprägt. Weite Teile der russischen Gesellschaft haben sich nicht damit abgefunden, dass die Ukraine ein eigenständiger Staat ist, und betrachten die Ukrainer weiterhin als Teil einer orthodoxen russischen Nation und die ukrainische Sprache als russischen Dialekt. Das Verhältnis bleibt asymmetrisch, Russland beansprucht eine hegemoniale Stellung.

Verbreitete Zweisprachigkeit

Ein zentrales Element des imperialen Erbes ist die starke Stellung der russischen Sprache in der Ukraine. In der späten Sowjetunion war Russisch Umgangs- und Verkehrssprache, während das Ukrainische nur in den westlichen Gebieten, die erst im Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion annektiert worden waren, unter der bäuerlichen Bevölkerung und bei den wenigen national orientierten Ukrainern erhalten blieb. Der unabhängige Staat erklärte das Ukrainische zur Staatssprache, um es aus seiner subalternen Position zu befreien. Dies gelang nur zum Teil, und noch heute erklärt sich etwa die Hälfte der Bevölkerung als russischsprachig, in den Städten der Ost- und Südukraine dominiert weiter das Russische.

Allerdings ist Zweisprachigkeit, die durch die Verwandtschaft der beiden Sprachen erleichtert wird, verbreitet. Auf den Strassen Kiews hört man weiterhin ebenso viel Russisch wie Ukrainisch. Die meisten russischsprachigen Ukrainer sind loyale Staatsbürger, und nur eine Minderheit schielt nach Russland. So hat sich etwa der bekannte Schriftsteller Andrei Kurkow, der ethnischer Russe ist, selbst als ukrainischen Patrioten bezeichnet. Die von Russland erhobenen und zur Legitimation der Annexion der Krim herangezogenen Vorwürfe, dass in der Ukraine die russische Sprache und die russischsprachige Bevölkerung diskriminiert würden, entbehren also der Grundlage.

Ein zweites Element des imperialen Erbes ist die orthodoxe Kirche. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, als die ukrainische orthodoxe Kirche dem Moskauer Patriarchat unterstellt wurde, gehört die Mehrheit der ukrainischen Gläubigen dieser Kirche an. Minderheiten sind in der national orientierten ukrainischen orthodoxen Kirche (Kiewer Patriarchat), einer kleinen autokephalen Kirche und in der in Galizien und der Karpato-Ukraine dominierenden ukrainisch-katholischen Kirche organisiert. Die russische orthodoxe Kirche arbeitete fast immer eng mit dem Staat zusammen und wurde in den Dienst der imperialen Politik gestellt. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Der Moskauer Patriarch, der die Ukraine regelmässig besucht, vertritt meist offizielle Positionen. Daraus ergibt sich für viele Ukrainer ein Loyalitätskonflikt zwischen dem Kirchenoberhaupt und dem ukrainischen Staat.

Divergierende Erinnerungen

Sprache, Religion und eine lange gemeinsame Geschichte verbinden Russen und Ukrainer, so dass die Abgrenzung der ukrainischen von der russischen Nation nicht einfach ist. Deshalb spielen unterschiedliche und konkurrierende historische Erinnerungen eine bedeutende Rolle. Man kann von einem Krieg der Erinnerungen zwischen Russland und der Ukraine sprechen. Ich nenne drei Beispiele. Umstritten ist das Erbe des ersten ostslawischen Reichs, der mittelalterlichen Kiewer Rus. Im russischen Narrativ wird selbstverständlich eine direkte Kontinuität vom Kiewer zum Moskauer und Petersburger bis zum zweiten (sowjetischen und nachsowjetischen) Moskauer Reich gezogen. In der ukrainischen kollektiven Erinnerung wird die Kiewer Rus dagegen für die Ukraine beansprucht, während behauptet wird, dass ein russischer Staat erst später entstanden sei. Seit der Historiker und nationale Politiker Mychailo Hruschewsky diese These zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestellt hat, ist sie ein wichtiger nationaler Mythos. Der Streit um das Erbe der Kiewer Rus ist zwar wissenschaftlich unergiebig, kann man doch für das Mittelalter noch nicht von Russen und Ukrainern sprechen. Er wird jedoch bis heute vehement weitergeführt. Im September 2013 schaltete sich sogar der russische Präsident Wladimir Putin ein, indem er das Kiewer Reich als «Grundlage des gewaltigen russischen Staates» herausstellte und daran die Bemerkung anknüpfte, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien.

Eine besonders umstrittene Figur ist der ukrainische Kosakenhetman Iwan Masepa, der sich im Jahre 1708 von Russland abwandte und mit dem schwedischen König Karl XII., der gegen Peter den Grossen zu Felde zog, verbündete. Ein Jahr später besiegte Russland bei Poltawa die schwedischen und kosakischen Truppen. Masepa gilt deshalb in Russland als Prototyp des Verräters, gegen den die orthodoxe Kirche ein Anathema verhängte, das bis heute nicht widerrufen worden ist. Für viele Ukrainer ist Masepa dagegen ein Freiheitsheld, der versuchte, die Ukraine aus der russischen Umklammerung zu lösen. Wie lebendig die Figur Masepas geblieben ist, zeigt die Tatsache, dass die Ukrainer auch heute wieder von russischer Seite als «Masepisten» bezeichnet werden, die Russland verraten und gemeinsam mit fremden Mächten (unter denen oft Schweden genannt wird) gegen Russland zu Felde ziehen. Der Sieg gegen Hitlerdeutschland im «Grossen Vaterländischer Krieg» ist der zentrale Erinnerungsort der Russen und zahlreicher Ukrainer. In der Westukraine ist dagegen ein konkurrierendes Narrativ verbreitet, das den Kampf der von Stepan Bandera angeführten Organisation ukrainischer Nationalisten und der ukrainischen Aufstandsarmee gegen die Sowjetunion als nationalen Befreiungskrieg glorifiziert. Dass diese Organisationen zeitweise mit den Nationalsozialisten kollaborierten und auch an der Ermordung von Juden und zahlreichen Polen beteiligt waren, wird oft heruntergespielt.

Diese Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die von Mitgliedern der Partei Swoboda (Freiheit) gepflegt wird, ist in der Ukraine nicht mehrheitsfähig, die überwiegende Mehrheit der Ukrainer lehnt sie ab. So ist die Propagandakampagne Russlands (und der Führung der Krim-Republik), in der die neue ukrainische Regierung pauschal als Nazis verleumdet wird, nicht gerechtfertigt. Zwar waren unter den Aktivisten auf dem Maidan aus der Westukraine stammende Anhänger der nationalistischen Partei Swoboda, doch gehören etwa Ministerpräsident Jazenjuk, der amtierende Staatspräsident Turtschinow oder Witali Klitschko gemässigten Gruppierungen an.

Sowjetnostalgie

Es ist offensichtlich, dass Wladimir Putin das Ziel verfolgt, das russische und sowjetische Imperium zu erneuern und die Hegemonie über den postsowjetischen Raum zu gewinnen. Dazu dienen die Projekte der Zollunion, der bisher nur Weissrussland und Kasachstan beigetreten sind, und einer Eurasischen Union, die der Europäischen Union entgegengestellt werden soll. In dieser Strategie kommt der Ukraine eine zentrale Stelle zu. Laut einer vielzitierten Äusserung des amerikanischen Politologen Zbigniew Brzezinski aus dem Jahr 1997 verliert Russland ohne die Ukraine seinen Status als Imperium. Ich würde allerdings meinen, dass eine von Russland dominierte Eurasische Union mit Weissrussland und den zentralasiatischen Staaten auch ohne die Ukraine einen imperialen Charakter hätte.

Dieses neoimperiale Projekt geniesst breite Unterstützung in der russischen Bevölkerung. Viele Russen haben sich nicht damit abgefunden, dass ihr Land seine Stellung als Supermacht verloren hat, und Sowjetnostalgie ist im Aufwind. Auch in Teilen der ukrainischen Bevölkerung, vor allem im Osten des Landes, ist das imperiale Erbe noch lebendig und wird von den russischen Fernsehsendern genährt. Die Erinnerung an die guten alten Zeiten der Sowjetunion, als die Bergleute des Donbass noch als Helden der Arbeit gefeiert wurden, die Feindbilder des Westens, besonders der Nato und der USA, sind hier lebendig, ebenso wie die Ablehnung der «faschistischen» Westukrainer. Auch die Verbundenheit mit Russland und seiner Kultur ist im Osten enger als in den anderen Regionen.

Solche Stimmungen dürfen nicht einfach als reaktionär abgetan werden, sondern die neue Regierung in Kiew muss sie in Rechnung ziehen. Handlungen wie die Ernennung Banderas zum «Helden der Ukraine» durch den früheren Präsidenten Juschtschenko und die - allerdings nicht in Kraft gesetzte - Aufhebung des Sprachgesetzes, das die Stellung des Russischen in den Regionen verbessert hatte, durch die neue Regierung waren wenig hilfreich. Es gilt jetzt, den Bewohnern der Ost- und Südukraine zu signalisieren, dass man ihre Sorgen und Bedürfnisse ernst nimmt. Ob dies mittelfristig die Gewährung politischer Autonomie oder gar eine Föderalisierung der Ukraine mit sich bringen könnte, lässt sich heute nicht abschätzen. Dies wäre meines Erachtens eine Option, um den heterogenen ukrainischen Staat nachhaltig zu stabilisieren und das imperiale Erbe zu überwinden.

Andreas Kappeler ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Nota.

Das Völkerrecht hat vor allem einen Zweck: den Frieden zwischen den Staaten zu erhalten; dafür ist es im 17. Jahrhundert entstanden. Frieden, das heißt, dass am besten alles so bleibt, wie es ist.  Das Völkerrecht ist ursprünglich ein Sittenkodex der Herrschenden. Das hat sich im 20. Jahrhundert geändert, aber eine Stütze des Status quo ist es wie eh und je. Wie künstlich, wie willkürlich ein territoriales Gebilde auch zustandegekommen sein mag, das Glaubensbekentnis heißt Bloß nicht an den Grenzen rühren!

Dass die Ukraine erstmals in der Geschichte ein souveräner Staat wurde, verdankt sie einer ganz großen Erschütterung des Status quo, Putin leidet noch heut daran. Aber dass die Krim 1957 durch einen administrativen Federstrich der ukrainischen Sowjetrepublik angegliedert wurde, verdankt sie einem bürokratischen Willkürakt des gebürtigen Ukrainers Chruschtschow. Die weltpolitischen Pläne Putins, sofern er welche hat, mag man so oder anders beurteilen, und wie man sich dazu verhalten sollte, ebenfalls. Das Völkerrecht ist eine Sache, die Politiker zu bedenken haben. Aber die verständigen Köpfe unter denen, die von ihnen vertreten werden, sollten es nicht zu hoch veranschlagen. Ein Status quo, der von den Völkern nicht gewünscht wird, ist kein Friedensgarant, sondern eine Fallgrube.
JE 

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