Zivilisation und Barbarei Der Sommer 1914 als weltgeschichtliche Zäsur und die Deutungen der Intellektuellen.
Von Herfried Münkler
Wer sich an der Geschichte orientiert, um sich in seiner Gegenwart zurechtzufinden, kommt nicht ohne historische Interpunktionen aus: Man sucht nach Einschnitten in der Zeit, durch die sich Epochen voneinander trennen lassen und Neues gegen Altes abgegrenzt wird. Sicherlich gibt es fliessende Übergänge, bei denen die Zeitgenossen gar nicht merken, dass sich grundlegend etwas verändert. Wirklich sinnfällig sind nur die Zäsuren, die sich mit einem einschneidenden Ereignis oder einem Epochenjahr verbinden. 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Europas zwischen Ost und West, war ein solches Epochenjahr; 1989, der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks, war ein weiteres Epochenjahr. War auch 1914, der Beginn des Ersten Weltkriegs, ein solches Epochenjahr?
Von Herfried Münkler
Wer sich an der Geschichte orientiert, um sich in seiner Gegenwart zurechtzufinden, kommt nicht ohne historische Interpunktionen aus: Man sucht nach Einschnitten in der Zeit, durch die sich Epochen voneinander trennen lassen und Neues gegen Altes abgegrenzt wird. Sicherlich gibt es fliessende Übergänge, bei denen die Zeitgenossen gar nicht merken, dass sich grundlegend etwas verändert. Wirklich sinnfällig sind nur die Zäsuren, die sich mit einem einschneidenden Ereignis oder einem Epochenjahr verbinden. 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Europas zwischen Ost und West, war ein solches Epochenjahr; 1989, der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks, war ein weiteres Epochenjahr. War auch 1914, der Beginn des Ersten Weltkriegs, ein solches Epochenjahr?
Warum nicht 1917?
Es gibt viele, die das bezweifeln
und stattdessen die grosse weltgeschichtliche Zäsur auf das Jahr 1917
datieren, das Jahr, in dem die USA in den grossen europäischen Krieg
eintraten, während gleichzeitig in Russland zwei Revolutionen
stattfanden, deren zweite die weltpolitische Agenda für sieben
Jahrzehnte grundlegend verändern sollte. Der Kriegseintritt der USA, des
eigentlichen Siegers im Krieg von 1914 bis 1918, hat die weltpolitische
Dominanz Europas beendet, und der Sieg der Bolschewiki in Moskau und
Petrograd hat eine Epoche der revolutionären Heilserwartung eingeleitet,
in der die Politik sich wie nie zuvor als die alles entscheidende
Gestalterin des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens begreifen
konnte. Diese Epoche endete, als die zähe Macht der Verhältnisse sich
als dem gestalterischen Elan politischer Avantgarden überlegen erwies.
Sollten wir also nicht doch den Sommer 1914 als den Abgesang auf das
alte Europa und das Jahr 1917 als den Beginn einer neuen Epoche in der
Weltgeschichte ansehen?
Als der britische Historiker Eric
Hobsbawm die Formel vom «langen 19. Jahrhundert» prägte, hat er dessen
Beginn auf das Jahr 1789 und dessen Ende auf 1914 datiert, also eine
historische Einheit vom Beginn der Französischen Revolution bis zum
Ausbruch des Ersten Weltkriegs behauptet. Hobsbawms Epochenzäsuren sind
vom Feuilleton wie von der Wissenschaft bereitwillig übernommen worden.
Warum eigentlich? Hätte es nicht nähergelegen, das Ende dieser mit einer
bürgerlichen Revolution beginnenden Epoche auf den Erfolg einer
sozialistischen Revolution, also auf 1917, zu datieren? Oder wenn man
die Kriegsgeschichte zum Massstab der Epochenbrüche machen wollte: Wäre
dann nicht 1815, der Wiener Kongress und die dort geschaffene
Friedensordnung Europas, das angemessenere Datum für den Beginn einer
Epoche gewesen, die 1914 mit der Zerstörung dieser Ordnung endete?
Die Festlegung von Zäsuren und die
Behauptung von Ligaturen der Geschichte sind nicht zuletzt darum so
heikel, weil sich darin immer auch unser politisches Selbstverständnis
und damit unsere Zukunftserwartungen niederschlagen. Wir ordnen die
Geschichte gemäss unseren Erwartungen und Befürchtungen. Die von uns in
die Geschichte eingebrachten Interpunktionen sind nie bloss das Ergebnis
objektivierender Beobachtung, sondern reflektieren stets auch unsere
Enttäuschungen oder die dennoch aufrechterhaltene Hoffnung, dass sich
die Dinge doch noch in unserem Sinn entwickeln.
Ideenpolitische Frontstellung
Die zahllosen deutschen
Intellektuellen, die den Kriegsausbruch von 1914, kaum dass er sich
ereignet hatte, als eine welthistorische Zäsur feierten, von dem
Romancier und Essayisten Thomas Mann über den Philosophen Max Scheler
bis zu dem Soziologen Georg Simmel, taten das nicht zuletzt deswegen,
weil sie hofften, dass in der neuen Zeit die negativen Effekte der
zurückliegenden Jahrzehnte verschwänden: deren Materialismus, die
Dominanz des Geldes, das sich von einem Mittel zum Zweck des Lebens
gewandelt hatte, und nicht zuletzt die sich immer stärker bemerkbar
machende Erosion der sozialen Gemeinschaften. Sie haben sich in diesen
Hoffnungen und Erwartungen gründlich getäuscht, denn der Krieg hat all
das, was sie zum Verschwinden gebracht wissen wollten, nur noch
verstärkt - jedenfalls, wenn man die Entwicklung über einen längeren
Zeitraum betrachtet.
Im Unterschied dazu haben die
französischen und englischen Intellektuellen das Jahr 1914 weniger als
Bruch denn als Kontinuität der Geschichte dargestellt. Der
Lebensphilosoph Henri Bergson hat in einem Vortrag in der Académie
française gleich nach Kriegsausbruch die Argumentationsrichtung
vorgegeben: Es gehe darum, die Zivilisation gegen die Barbarei zu
verteidigen. Bergson stellte den Krieg damit in eine lange
Kontinuitätslinie der Geschichte, die mit der Verteidigung des Römischen
Reichs gegen die germanischen Völkerschaften ihren Anfang genommen
hatte. 1914 war für ihn keine Zäsur, sondern ein weiteres Kapitel im
endlosen Kampf um die Selbstbehauptung der lateinischen Zivilisation
gegen die aus dem Osten, den Steppen Asiens oder den Wäldern Germaniens,
andringenden Horden der Barbaren. Man kann Thomas Manns vieldiskutierte
Kontrastierung der «Tiefe» deutscher Kultur gegen die
«Oberflächlichkeit» französischer Zivilisation nicht verstehen, wenn man
sie nicht als Reaktion auf Bergsons Deutung des Krieges begreift.
Die Briten setzten der
Bergsonschen Deutung noch eins drauf, indem sie die Deutschen als
«Hunnen» bezeichneten, die man abwehren und zurückwerfen müsse. Zu
dieser Benennung hatte freilich Kaiser Wilhelm II. das Seine
beigetragen, als er im Jahre 1900 bei der Verabschiedung der zur
Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands entsandten
Marineinfanterie in Bremerhaven erklärte, die deutschen Soldaten sollten
sich in China Respekt verschaffen wie weiland die Hunnen unter ihrem
König Etzel. Auch das war eine Kontinuitätslinie, in der 1914 keine
Zäsur bedeutete.
Man kann die Bezeichnung der
Deutschen als Barbaren auf deren Einmarsch in das neutrale Belgien und
die Übergriffe deutschen Militärs auf die belgische Zivilbevölkerung
zurückführen - für Letzteres stand die Formel von der «Vergewaltigung
Belgiens». Man kann aber auch vermuten, dass die «westlichen»
Intellektuellen den Deutschen das Barbarische vor allem deswegen
zuschrieben, weil ihre eigenen Länder, Frankreich und Grossbritannien,
mit dem zaristischen Russland verbündet waren, das in der
Vorstellungswelt der Westeuropäer eigentlich der klassische Ort des
Barbarischen war. Ein gutes Jahrzehnt zuvor wäre ein solches Bündnis
noch undenkbar gewesen, als die liberalen, demokratischen und
revolutionären Traditionen des Westens als politische wie kulturelle
Antithese zu den repressiven und autoritären Strukturen Ost- und
Mitteleuropas mit dem russischen Zarentum als deren Verkörperung galten.
Durch die Identifikation der Deutschen als Barbaren wurde eine
Kontinuität imaginiert, die einen tiefen bündnispolitischen Bruch
verdecken sollte.
Warnende Stimmen
Von den konkurrierenden
Selbstdeutungen der europäischen Intellektuellen einmal abgesehen - in
welcher Hinsicht war das Jahr 1914 wirklich eine weltgeschichtliche
Zäsur? Immerhin hatte eine Reihe kluger Beobachter schon lange vor
Kriegsausbruch gemutmasst, dass ein grosser Krieg in Europa nicht nur
die politischen Verhältnisse des Kontinents umstürzen, sondern auch
dessen gesellschaftliche Ordnung und kulturelles Selbstverständnis von
Grund auf verändern werde: Kleinere Kriege, die lokal und zeitlich
begrenzt blieben, wie im Fall der italienischen und deutschen
Einigungskriege, könne Europa verkraften, aber nicht einen grossen
Krieg, der den gesamten Kontinent erfasse und sich über viele Jahre
hinziehe.
Vor einem solchen Krieg hatten
nicht nur Friedrich Engels und August Bebel aufseiten der Sozialisten
gewarnt, sondern auch der polnische Bankier Johann Bloch und der
englische Journalist Ralph Angell aus einer ökonomisch-liberalen
Perspektive sowie Helmuth von Moltke d. Ä., der Sieger von Königgrätz
und Sedan, als die überragende Autorität in militärischen Fragen.
Dementsprechend hatten sich die Generalstäbe aller Seiten darum bemüht,
ihre Pläne auf einen kurzen Krieg mit schnellen Entscheidungsschlachten
auszurichten. Als im Herbst 1914 diese Pläne gescheitert waren, war den
scharfsichtigeren unter den Akteuren und Beobachtern klar, dass dieser
Krieg Europa grundstürzend verändern würde. Intuitiv lagen die deutschen
Intellektuellen mit der Annahme einer Zäsur also richtiger als die
englischen und französischen Autoren, die eher von einer Kontinuität der
geschichtlichen Verläufe sprachen.
Politischer Mehrwert?
Man kann Krieg als eine Form
forcierten Ressourcenverbrauchs definieren, bei dem keine
wirtschaftlichen Werte geschaffen werden, sondern auf einen politischen
Mehrwert gehofft wird, den man später einkassieren will. Mit der
Industrialisierung des Krieges ist dieser Ressourcenverbrauch noch
einmal gesteigert worden, und das heisst, dass immer mehr an
öffentlichem und privatem Vermögen durch den Krieg aufgezehrt wurde.
1914 und die ihm folgenden vier Kriegsjahre wurden zur politischen
Tragödie des europäischen Bürgertums, das den Krieg als Chance zur
Erlangung politischer Hegemonie gesehen und sich bei dem Versuch, diese
Chance wahrzunehmen, wirtschaftlich ruiniert hat. Vor allem aber hat
dieses Bürgertum seinen politischen Kompass verloren, und statt die
gesellschaftliche und politische Mitte zu besetzen, hat es sich
politisch nach rechts bewegt. Damit hat es eine Polarisierung in Gang
gesetzt, der in vielen europäischen Ländern während der 1920er und
1930er Jahre nicht nur die Demokratie, sondern auch der Rechtsstaat zum
Opfer gefallen ist. Aber diese Zäsur war reversibel, insofern es den
Europäern nach etlichen Jahrzehnten gelungen ist, die politischen
Optionen wieder zu eröffnen, die 1914 verschlossen oder verschüttet
worden waren.
Die Zäsur von 1914 war das
Ergebnis politischer Entscheidungen, bei deren Zustandekommen fast immer
der Zufall seine Hand im Spiel hatte. Alles hätte, wenn das eine oder
andere Ereignis nicht stattgefunden hätte, auch ganz anders kommen
können. Kann man einer Ereigniskette, bei deren Zustandekommen der
Zufall eine solche Rolle gespielt hat, tatsächlich den Charakter einer
weltgeschichtlichen Zäsur zusprechen? Tatsächlich endet 1914 aber auch
eine Ära des Fortschrittsoptimismus, die unter anderem darin ihren
Ausdruck gefunden hatte, dass sie den Krieg als eine immer
bedeutungsloser werdende Form von Konfliktregelung und
Ressourcenverteilung ansah. Die Gewalt, so die vorherrschende Erwartung,
würde immer mehr durch Arbeit abgelöst werden. Diese Vorstellung ist
1914 folgenreich zerstört worden, und es hat ein knappes Jahrhundert
gedauert, bis die Europäer wieder an dem Punkt angekommen sind, an dem
sie sich vor 1914 schon einmal befunden haben. 1914 war eine tiefe Zäsur
- aber eine mit Chancen zur Reversibilität.
Prof. Dr. Herfried Münkler lehrt Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kürzlich ist sein Werk «Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918» (bei Rowohlt, Berlin) erschienen.
Nota.
Der Historiker nimmt zum Gegenstand seiner Wissenschaft das, was passiert ist. Das hat die Bedingungen geschaffen, von denen die Nachgeborenen wohl oder übel ausgehen.
Es hat aber auch Möglichkeiten verworfen, die es vorher noch gab. Insofern ist auch das, was nicht geschah, was ausgeblieben ist, Gegenstand historischer Betrachtung, allerdings einer politischen, 'pragmatischen' eher als einer historistischen.
Mit andern Worten: Stelle ich die Frage, ob es eine Epoche der Weltrevolution gab - und warum sie dann doch ausgeblieben ist -, dann ist es egal, ob ich die Zäsur 1914 oder 1917 ansetze; der Weltkrieg selbst war die Zäsur. Viel interessanter ist der zweite Teil der Frage. Warum hat sie dann doch nicht stattgefunden? Und, was das Heikelste, aber vielleicht auch Überflüssigste daran ist: Wann und wo ist der Würfel gefallen?
JE
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