Freitag, 7. Februar 2014

Karl der Große.

aus NZZ, 27. 1. 2014

Weltpolitik am Mittelmeer
Der vor 1200 Jahren gestorbene Karl der Grosse kann als früher Vorreiter des interkulturellen Austauschs gelten 

von Johannes Fried 

Karl der Grosse war als Herrscher überaus erfolgreich. Doch nicht seine militärische Fortune, sondern sein Wirken als geistiger Erneuerer sorgte für Folgen, die bis in die Gegenwart Bestand haben. 

In diesen Tagen vor 1200 Jahren, genauer am 28. Januar, einem Samstag, morgens gegen neun Uhr, starb nach gut 45 Jahren auf dem Königsthron und 13 Jahren und 4 Wochen unter der Kaiserkrone Karl der Grosse. Er war knapp 66 Jahre alt geworden, geboren wohl am 2. April 748, vielleicht in Ver, einer königlichen Pfalz auf halbem Weg zwischen Paris und Reims. Seine Herrschaft war ungewöhnlich erfolgreich. Möglich wurde dies durch eine effiziente Militärorganisation, eine leistungskräftige Wirtschaft und nicht zuletzt durch die geistige Wiedergeburt antiken Wissens, die Karl inszenierte. Er verstand es, den fränkischen Adel durch Beteiligung an der Herrschaft und durch reiche Gaben an sich zu binden. Er dehnte die Grenzen seines Reiches weit nach Süden, Norden und Osten aus; doch seien die neun Kriege, die sein Biograf Einhard erwähnte, nicht weiterverfolgt. Die eroberten Länder wurden fränkischer Ordnung unterworfen. Sie hatten neben einem kräftigen Personenschub landfremder Leute - Franken, Alemannen, später auch Baiern - die Einführung der fränkischen Grafschaftsverfassung und die Anfänge des Lehenswesens hinzunehmen. Das alles verlieh mit der Zeit dem Westen Europas ein eigenes Gepräge.

Reformen für die Stabilität

Ohne göttlichen Segen - so wusste Karl - war nichts zu erreichen. Rückschläge nahm er deshalb stets zum Anlass für umfassende kirchliche, rechtliche und soziale Reformen. Sie galten der Glaubensstärkung im Volk, der Kirchenordnung, der Wahrung von Gerechtigkeit, Frieden und Eintracht und förderten aufs Ganze gesehen die Stabilität seiner Herrschaft. Gottesdienst aber verlangte Korrektheit in jeder Hinsicht, in Leben, Tun und Glauben. Die heiligen Texte mussten recht verstanden werden, die Gebete und Liturgien fehlerfrei über die Lippen fliessen. Die im Frühmittelalter einem schleichenden Niedergang erlegene lateinische Kultur war zu erneuern, um Gott recht dienen zu können. Die Kirche erhielt jene Ordnung, die sie in der Spätantike angestrebt hatte und die nun durch Karl erneuert und verwirklicht wurde: Pfarrsprengel auf dem Land, Bistümer mit einer Stadt als Bischofssitz und regelmässige Diözesansynoden, Erzbistümer mit entsprechenden Synoden und über allem der Apostolische Stuhl, über den - Karl hat es eigens bestätigt - von keiner menschlichen Instanz zu richten sei. Des Königs Bemühen fand Gnade: «Der Schöpfer aller Dinge hatte ihn für immer zum Triumphator bestimmt», so kommentierte ein Zeitgenosse seine Siege.

Die Kriegszüge besassen nicht nur eine militärische Seite. Sie hatten symbolischen Wert, trugen, wenn man so will, kulturelles Kapital ein. Mit Sachsen fügte der König ein Land seinem Imperium ein, das der grosse Augustus vergebens zu erobern getrachtet hatte, mit dem Langobardenreich in Italien gewann er eine Quelle materiellen und geistigen Wohlstands, mit Rom den symbolträchtigsten Ort des Okzidents und überhaupt mit der Gesamtheit der antiken Kaisersitze des Westens - Trier, Arles, Mailand, Ravenna und Rom - einen überköniglichen Anspruch.

Gewiss, der Zug über die Pyrenäen, der einst christliches Land bis zum Ebro zurückgewinnen sollte, endete mit einem Fiasko. Er war trotz einleitendem Austausch von Gesandtschaften mit muslimischen Machthabern ohne zureichende Kenntnis des Gegners begonnen worden. Um doch noch einen Sieg an seine Fahnen zu heften, überfiel Karl die Stadt Pamplona, die unlängst christlich geworden war. Ihre Mauern wurden geschleift, und damit wurde einer Rückeroberung durch Muslime der Weg geebnet. Die Basken aber rächten sich. Sie überfielen im Tal von Roncevaux die Nachhut des fränkischen Heeres mit Roland an der Spitze und rieben sie auf, ein heroisches Ende, dessen sich alsbald das Heldenlied annahm.

Dennoch kann der Feldzug trotz seinem Scheitern als Hinweis darauf verstanden werden, dass der König der Franken und Langobarden und Patricius der Römer, ein vom Papst verliehener Ehrentitel, auf die Mächte am Mittelmeer blickte, dass er mit ihnen zu konkurrieren begann, ja dass er sich anschickte, nicht nur von Italien, Rom und Byzanz, dem Hort antik geschulter Diplomatie, zu lernen, sondern auch von den «Sarazenen» in Ost und West, bei denen antikes Wissen und Können fortwirkten. Sichtbar wurden derartige Intentionen etwa in der geplanten Eheverbindung mit dem byzantinischen Kaiserhaus. Karls Tochter Rotrud, die Braut, lernte schon Griechisch. Da liess die Kaiserin Irene, die erste Frau auf dem römischen Kaiserthron, die Verhandlungen platzen. Sie verordnete ihrem Sohn Konstantin VI., für den sie regierte, eine heimische Gattin. Die Fränkin königlichen Geblüts sah sich verschmäht. Der gedemütigte Vater machte stolze Miene zum bösen Spiel. Er hatte zu realisieren, dass Töchter in den «internationalen» Machtspielen symbolisches Kapital darstellten, das besonders gehütet werden musste.

Übergangene Franken

Das Ehedebakel war begleitet von einem Vorstoss gegen den langobardischen Herzog von Benevent. Er sollte gleich seinem König unterworfen werden. Auch dieses Unternehmen scheiterte. Der Herzog konnte nicht zuletzt mit byzantinischer Hilfe seine Selbständigkeit retten. Karl sah sich zwar nicht militärisch, wohl aber diplomatisch besiegt. Eine weitere Demütigung trat hinzu. Denn damals lud die Kaiserin Irene, um den leidigen Streit um den Bilderkult zu beenden, der Byzanz erschütterte, die Patriarchen und Bischöfe des Orients, auch den Papst, zu einem Konzil nach Nicäa. Die Franken sahen sich übergangen. Hielt man sie in Konstantinopel für theologisch ungebildet, für inkompetent und bedeutungslos? Wie immer, Karls Zorn appellierte an die Waffen. Das Awarenreich, den Rhomäern direkt benachbart, wurde bald erobert. Byzanz bekam nun den Druck zu spüren.

Mehr noch! Karl liess seine Theologen die «Griechen» mit der Feder attackieren. Theodulf, der künftige Bischof von Orléans, ein Emigrant aus dem arabischen Spanien, wohl der scharfsinnigste Kopf in des Königs Umgebung, wetzte seine Gänsekiele zu dem «Werk des Königs Karl gegen das Konzil». Die interkulturelle Kampfschrift geriet zu einer bösen Abrechnung. Arroganz, Gotteslästerung, Häresie wurden den «Griechen» unterstellt. Sie verstünden in ihrer Verblendung die einfachsten logischen Regeln nicht.

Welcher Wahn liess die rhomäischen Kaiser anmassend «Gott mit ihnen mitregieren» und Kaiserbilder zur Adoration aufstellen? Das dem Barbarentum kaum entwachsene Ritual des fränkischen Königshofes schied sich von dem in hellenistischer Tradition orientalischem Gottkönigtum nachgeformten byzantinischen Hofzeremoniell. Der Völkerapostel Paulus (1. Kor. 11, 1) habe doch gemahnt, ihm, dem Apostel, zu folgen, so wie er Christus. Die gesamte byzantinische Kaiser- und Reichstheologie sah sich verworfen. Karl wird sie zu keiner Zeit, auch nicht als Kaiser, imitieren. Er war und blieb der mächtige, zugleich schlichte und demütige «Diener Gottes»: ein tiefer Einschnitt in der Selbstdeutung westlichen Königtums und von nachhaltiger Wirkung. Die Schelte erreichte ihr Ziel freilich nie, zeugte dennoch von dem mithilfe der Fremden erworbenen kulturellen Kapital und hallte in ihrer Tendenz im Westen bis zum Jahr 1453 nach, bis zum Aufgang Istanbuls unter Mehmed dem Eroberer.

Die Kontakte zu den grossen Mächten mehrten sich. Zielstrebig verhandelte Karl in den Jahren vor 800 mit ihnen. Gesandtschaften eilten nach Britannien, zu den Kaisern in Konstantinopel, nach Bagdad bzw. Rakka (wo Harun al-Rasid zumeist residierte), nach Jerusalem, Kairouan und Córdoba. Juden, Griechen und Muslime begegneten sich immer häufiger am Königshof. Gerade gegenüber dem Kalifen, der in anspielungsreich antikisierender Diktion als «König der Perser» angesprochen wurde, ergriff der Frankenkönig die Initiative. Wusste er, dass Harun, der Kalif von «1001 Nacht», fremdes Wissen adaptierte, Bücher sammelte und an Gelehrsamkeit Gefallen fand? Folgte der Lieder- und Büchersammler Karl gar dessen Vorbild?

Harun antwortete mit kostbaren Geschenken, darunter eine Wasseruhr und die wahrhaft imperiale Gabe eines Elefanten. Er trug den Namen des Gründers der Dynastie des Kalifen, Abul Abbas (nach Abu l-Abbas as-Saffah), eine wahre «Elefantendiplomatie». Der technische, wissenschaftliche, weltläufige und allgemein kulturelle Nutzen, der dem Westen aus solchen Beziehungen erwuchs, lässt sich kaum hoch genug einschätzen. Die beiden Herrscher besassen neben Byzanz auch im Umayyaden-Emirat von Córdoba einen gemeinsamen Gegner. Karls Handelsbeziehungen zum Abbasidenreich betrafen denn auch kriegswichtige Güter wie Kupfer, Stahl und Schwerter; sie verschärften die Drohgebärde gegenüber Konstantinopel. Irene suchte ihr Heil in der Diplomatie. Sie bot Karl die Kaiserwürde an. Es war der Auftakt zu ihrem Sturz.

In Rom überschlugen sich derweil die Ereignisse. Sie mündeten in Karls Kaiserkrönung durch den zuvor umstrittenen Papst Leo III. Über 1100 Jahre sollte dies nachwirken. Ein neues Kapitel der Geschichte war aufgeschlagen, eine neue Weltstellung des Westens kündigte sich an. Die Krönung glich sich den Vorgaben aus Ostrom an. Der Designation durch Heer, Senat und Volk oder deren Repräsentanten folgten dort Akklamationen sowie die Benediktion durch den Patriarchen. Bischöfe, Grafen, weitere Grosse und Römer ersetzten nun das Heer oder den Senat. Sie wünschten Karl zum Kaiser, er entsprach dem Wunsch und liess sich am Weihnachtstag des Jahres 800 krönen, während die Römer akklamierten. Der Franke trug dazu nicht nur römische Zeremonialkleidung, er überwand dafür die Schranken seines heimischen Rechts und folgte fremden Usanzen. Interkulturelle Lernprozesse auch hier.

Byzanz freilich zögerte mit der Anerkennung. Karl drohte, empfing schon Haruns Gegengesandtschaft inmitten seines Heeres, liess seine Truppen dann in byzantinisches Gebiet einrücken, nach Venedig und Dalmatien, verwickelte den Basileus, so der Titel des byzantinischen Kaisers, in einen tödlichen Dreifrontenkrieg, gegen Bulgaren, Araber und nun gegen die Franken, bevor Ostrom - nach einem Herrscherwechsel - nachgab und Karls Kaiserwürde anzuerkennen sich bequemte. Die Beziehungsnetze waren noch dichter verknotet. Da fragte Karl «Was ist Zeit?» und liess - interkultureller Austausch auch dies, zudem eschatologisch bedeutsam - das Weltalter nach dem heiligen Hieronymus, den Byzantinern und den Juden kritisch vergleichen, um die jüdische Lösung zu präferieren, ohne sie zu verabsolutieren. Sie machte die Welt, die insgesamt ein Alter von 6000 Jahren erreichen sollte, knapp anderthalb Jahrtausende jünger als der Kirchenvater. Doch Ungewissheit blieb.

Politisch, kulturell und wirtschaftlich zeichneten sich glänzende Aussichten ab. Barcelona wurde 801/803 tatsächlich erobert und die spanische Mark errichtet. Die wichtigsten Häfen des nordwestlichen Mittelmeeres von Civitavecchia über Genua, Marseille, Narbonne nach Barcelona, über die der Handel an den Bosporus und in die Länder der Muslime - auch ins Emirat von Córdoba - lief, unterstanden nun Karls Herrschaft. Der Fernhandel bescherte Zolleinkünfte. In Arles wurden Goldmünzen unter Karls Namen geprägt, das Handelsgeld für den Orient. Zur Abwehr arabischer Attacken rüstete der König Kriegsschiffe aus. Er drängte in die Weltpolitik am Mittelmeer.

Der freundschaftliche Austausch mit Harun al-Rasid eröffnete Karl Einfluss in Jerusalem und machte ihn - schmeichelhaft für sein kaiserliches Selbstverständnis - zu einer Art Schutzvogt des Heiligen Grabes. Karl liess sich das viel kosten. Seine Agenten prüften den jährlichen Finanzbedarf der Kirchen des Heiligen Landes. 2000 Solidi, eine ungeheure Summe, betrug allein der Etat des Patriarchen. Der Franke sandte reichlich Geld, gemünztes Silber, nach dem Orient und an «Christen in Afrika». Die Münzen trugen auf dem Avers sein eine Goldmünze Konstantins des Grossen imitierendes Bild und auf dem Revers ein unschwer als stilisiertes Heiliges Grab zu erkennendes Gebäude, dazu - teilweise in griechischen Lettern - die Inschrift ???S??ANA RELIGIO, «Christliche Gottesverehrung».

Weitreichende Folgen

Solches Vorgehen offenbart im Vergleich zu dem Debakel des Jahres 778 die Lernerfolge des Franken auf dem Feld der Diplomatie und der Propaganda. In der Tat, nicht die militärischen Triumphe überdauerten die Zeiten. Nachhaltiger als alle Kriege wirkten die geistige Erneuerung, der interkulturelle Austausch, die strukturellen Massnahmen, die Karl in die Wege leitete und mit allem Nachdruck förderte: die Ordnung der römischen Kirche, der Kalender, die Schrift, die Rezeption und Einübung der aristotelischen Dialektik und der ciceronianischen Rhetorik, die rettenden Abschriften lateinischer heidnischer Autoren neben den christlichen Vätern, der rationale Denkstil und eben auch die Öffnung des Frankenreiches in die Länder des Islam.

Die Fernwirkung dieser Renaissance reicht bis in unsere Gegenwart. Sie beschleunigt den Globalisierungseffekt. Kein internationaler Flugplan operiert mit dem Jahr der Schlange oder des Pferdes, keiner rechnet nach der Hedschra, dem Ausgangspunkt der islamischen Zeitrechnung - alle mit der durch Karls Kalenderreform etablierten, wenn auch weiterentwickelten christlichen Jahreszählung. Alle Internationalität bedient sich in unterschiedlichen Spielarten der karolingischen Minuskel. Chinesen, Araber oder Inder passen sich an. Alle Politik, alle Wirtschaft folgt seit Jahrhunderten dem rationalen, rechenhaften Denkstil, der sich mit der Rezeption der aristotelischen Dialektik im lateinischen Westen etablierte. Gewiss, die 1200 Jahre seit Karls Tod haben viel verändert, verbessert, effizienter, kritikoffener, dem Fremden geneigter werden lassen, vieles säkularisiert, was Karl heilig war. Aber die Wurzeln dieser Kultur lassen sich freilegen und geben die Intentionen Karls des Grossen und seinen Hof als ihren tiefsten Grund zu erkennen.

Johannes Fried lehrte bis zu seiner Emeritierung Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt.

Nota.

Europa ist im Mittelater entstanden, das beginnt sich langsam herumzusprechen.
Aber im Mittelalter vor Karl.
JE 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen