Samstag, 22. Februar 2014

Zerrissene Ukraine.

aus NZZ, 22. 2. 2014

Ein zerrissenes Land  
Ohne einen Interessenausgleich zwischen den Regionen droht der Zerfall der Ukraine

von Cyrill Stieger

Die Ukraine ist ein heterogenes Staatsgebilde. Es besteht aus Regionen mit völlig unterschiedlichen historischen und kulturellen Traditionen. Die Einbindung des jeweils andern Landesteils ist eine der wichtigsten Aufgaben jeder künftigen Regierung. 

In einigen Städten im Westen der Ukraine scheint die Staatsführung die Kontrolle über die lokale Verwaltung und über Teile des Sicherheitsapparats verloren zu haben. Die Partei der Regionen, das Machtinstrument des in der Ostukraine verwurzelten Präsidenten Wiktor Janukowitsch, zeigt in den westlichen Landesteilen Auflösungserscheinungen. Sie war dort allerdings schon immer auf grosse Ablehnung gestossen. Zentrum des Widerstands ist die Stadt Lwiw (Lemberg), wo der Gouverneur vertrieben wurde. Ein aus Abgeordneten des lokalen Parlaments und aus Oppositionellen gebildeter sogenannter Volksrat erklärte, er habe die Macht übernommen.

Zwischen West und Ost


Kaum jemand in Lwiw will jedoch den Westteil vom Rest des Landes loslösen. Was die Regierungsgegner fordern, ist eine andere, demokratische Ukraine. Sollte sich das Chaos jedoch weiter ausbreiten und das Land in einen Bürgerkrieg abgleiten, wäre der Fortbestand des ukrainischen Staates gefährdet. Er ist ein künstliches Gebilde, das sich aus Regionen mit unterschiedlichen politischen, historischen und kulturellen Traditionen zusammensetzt.


Im Westen des Landes ist die ukrainische Identität, anders als im mehrheitlich russischsprachigen Osten, tief verwurzelt. Das gilt vor allem für Galizien, aber auch für die nördliche Bukowina und die Karpaten-Ukraine mit ihrer ungarischen Minderheit, die in der Zwischenkriegszeit zur Tschechoslowakei gehörte. Alle diese Regionen sind mitteleuropäisch geprägt. Galizien wurde nach der ersten Teilung Polens 1772 der Habsburger-Monarchie zugeschlagen. Drei Jahre später kam die nördliche Bukowina hinzu. Zuvor hatten alle von Ukrainern bewohnten Gebiete während dreier Jahrhunderte unter der Herrschaft von Polen-Litauen gestanden. Sie waren damit ein Teil Mitteleuropas und - zumindest die westlichen Regionen - offen für Einflüsse aus dem Westen des Kontinents.




Mit der Teilung Polens wurde auch die Ukraine gespalten. Nach dem Zerfall des Habsburgerreichs im Ersten Weltkrieg geriet auch der Westen der heutigen Ukraine unter sowjetische Herrschaft - mit Ausnahme der Karpaten-Ukraine und Galiziens, das in der Zwischenkriegszeit bis 1939 zur Republik Polen gehörte. Die galizischen Ukrainer spielten bei der ukrainischen Nationsbildung im 19. und im 20. Jahrhundert eine entscheidende Rolle. Die 1917/1918 gebildete Ukrainische Volksrepublik konnte sich allerdings nur wenige Jahre behaupten. Im Zweiten Weltkrieg und auch in den Jahren danach war in Galizien der Widerstand gegen das sowjetische Regime besonders gross. Bis zur Unabhängigkeit der Ukraine 1991 gab es, mit Ausnahme der kurzen Periode am Ende des Ersten Weltkriegs, kein durch Grenzen definiertes ukrainisches Staatsterritorium.


Regional definierte Identität


Anders verlief die Entwicklung in den östlichen und südlichen Teilen der Ukraine. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert gehörten sie alle zum russischen Zarenreich - und nach der Oktoberrevolution zur Sowjetunion. Im Osten und Süden dominiert noch heute, im Gegensatz zum Westen, die russische Sprache. Hier leben viele ethnische Russen oder russischsprachige Ukrainer. Zur Zeit der ukrainischen Nationsbildung im 19. Jahrhundert befand sich der grössere Teil der heutigen Ukraine unter der Herrschaft Russlands. Träger der Modernisierung waren hier die in die Städte und Industriegebiete des Ostens eingewanderten Russen. Das Zarenreich anerkannte die Ukrainer nicht als eine eigene Nation. Sie wurden offiziell als Kleinrussen bezeichnet.


Noch heute betrachten viele Russen die Ukraine als Teil der russischen Nation und als Wiege der eigenen Kultur. Die ukrainische Sprache ist für sie ein russischer Dialekt. Die Ukraine war für Moskau zweifellos der schmerzlichste Verlust beim Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums 1991.


Der Osten war länger unter sowjetischer Herrschaft als der Westen, und die Mentalität ist stärker sowjetisch geprägt. Zwar betrachten manche russischsprachige Ukrainer Russland noch immer als ihre emotionale Heimat. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie sich auch politisch zu Moskau hingezogen fühlen oder sich gar Russland anschliessen wollen. Hinzu kommt, dass die Identität im Osten heute oft regional und nicht national oder ethnisch definiert wird. Der ukrainische Staat hat sich in seinen bestehenden Grenzen konsolidiert. Das war nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion keineswegs selbstverständlich. Kein ukrainischer Politiker stellt heute die 1991 proklamierte Unabhängigkeit des Landes infrage, auch jene nicht, die sich nach Russland orientieren.


Der Sonderfall Krim


Was die ukrainische Nation spaltet, ist nicht nur die Frage der Ausrichtung nach Westen oder nach Russland, sondern vor allem auch die unvereinbare Erinnerungskultur. Das betrifft etwa den Zweiten Weltkrieg, der im Osten und im Westen des Landes völlig unterschiedlich interpretiert wird. Das gilt auch für die Deutung der Zeit der Zarenherrschaft oder des gescheiterten ukrainischen Nationalstaates nach dem Ersten Weltkrieg. Im Westen der Ukraine wird, anders als im Osten und ähnlich wie in den ostmitteleuropäischen Staaten, das russische und das sowjetische Erbe generell als Bedrohung empfunden, vor welcher die Westintegration Schutz bietet. Historische Figuren sind für die einen Helden, für die andern jedoch Verräter.


Eine Sonderstellung innerhalb der Ukraine nimmt die stark russisch geprägte Halbinsel Krim ein. Sie hat den Status einer autonomen Republik und ist die einzige Region in der Ukraine, in der die ethnischen Russen mit einem Anteil von rund 60 Prozent an der Gesamtbevölkerung die Mehrheit bilden. Die Halbinsel kam 1783 unter die Herrschaft Moskaus. Im Jahr 1954 hat der damalige sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschew, ein Ukrainer, die Krim in einem administrativen Willkürakt der Ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sprach sich im Dezember 1991 in einem Referendum auch eine Mehrheit der Bevölkerung der Krim für die Unabhängigkeit der Ukraine aus.


Eine Hinterlassenschaft aus sowjetischer Zeit ist die in Sewastopol stationierte russische Schwarzmeerflotte. Janukowitsch hat schon kurz nach seinem Amtsantritt 2010 im ukrainischen Parlament unter grossem Widerstand der Opposition die Verlängerung der Vereinbarung über die Präsenz der Flotte durchgesetzt. Der Vertrag gilt nun bis zum Jahre 2042. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass Janukowitsch im jüngsten Machtkampf nicht nur aus dem weitgehend russischsprachigen Osten, sondern auch von der Krim Rückendeckung erhielt. Russische Organisationen auf der Halbinsel haben sogar einen neuen Volksentscheid über die Zukunft der autonomen Republik gefordert und Moskau gebeten, als Garant für die Einhaltung der Rechte und Freiheiten der Bürger der Krim aufzutreten. Abgeordnete des lokalen Parlaments schlugen gar vor, die in ihren Augen von Kiew vernachlässigte Halbinsel wieder Russland anzugliedern.


Das grosse Land am südöstlichen Rande des Kontinents steht also seit Jahrhunderten im Spannungsfeld zwischen dem lateinisch-abendländisch geprägten Ostmitteleuropa und dem byzantinisch-orthodoxen östlichen Kulturraum. Die Ukraine ist zweigeteilt. Der westliche Landesteil will die Integration in die Europäische Union, der Osten blickt stärker nach Russland. Noch immer durchziehen tiefe politische Gräben das Land. Das zeigen auch die Präsidentenwahlen von 2010 (vergleiche Karte). Die Hochburgen von Janukowitsch und seiner Partei der Regionen liegen im Osten und im Süden, während der Westen die Opposition unterstützt. Allerdings sind die Übergänge fliessend, und in der Westukraine gibt es Bezirke, in denen Janukowitsch mehr Stimmen erhielt als seine damalige Konkurrentin Julia Timoschenko.


Suche nach Gleichgewicht


Die historisch bedingten Gegensätze sind auch eine Chance, denn sie zwingen die politischen Eliten zu einem Interessenausgleich. Noch überwiegt in allen Landesteilen der Wille zur Einheit. Wird die Dominanz des Ostens oder des Westens jedoch zu stark, könnte der Zusammenhalt bröckeln. Seit der «orangen Revolution» von 2004 verschärfen sich die Gegensätze. Bisher haben alle Machthaber in Kiew vor allem ein Ziel verfolgt: ihre Günstlinge in Machtpositionen zu hieven. Wer immer künftig regieren wird, eine der wichtigsten Aufgaben besteht darin, die Gräben zuzuschütten und die jeweils andere Seite in den politischen Prozess einzubinden.


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