Ein zerrissenes Land
Ohne einen Interessenausgleich zwischen den Regionen droht der Zerfall der Ukraine
Ohne einen Interessenausgleich zwischen den Regionen droht der Zerfall der Ukraine
von Cyrill Stieger
Die Ukraine ist ein heterogenes Staatsgebilde. Es besteht aus Regionen mit völlig unterschiedlichen historischen und kulturellen Traditionen. Die Einbindung des jeweils andern Landesteils ist eine der wichtigsten Aufgaben jeder künftigen Regierung.
In einigen Städten im Westen der
Ukraine scheint die Staatsführung die Kontrolle über die lokale
Verwaltung und über Teile des Sicherheitsapparats verloren zu haben. Die
Partei der Regionen, das Machtinstrument des in der Ostukraine
verwurzelten Präsidenten Wiktor Janukowitsch, zeigt in den westlichen
Landesteilen Auflösungserscheinungen. Sie war dort allerdings schon
immer auf grosse Ablehnung gestossen. Zentrum des Widerstands ist die
Stadt Lwiw (Lemberg), wo der Gouverneur vertrieben wurde. Ein aus
Abgeordneten des lokalen Parlaments und aus Oppositionellen gebildeter
sogenannter Volksrat erklärte, er habe die Macht übernommen.
Zwischen West und Ost
Kaum jemand in Lwiw will jedoch
den Westteil vom Rest des Landes loslösen. Was die Regierungsgegner
fordern, ist eine andere, demokratische Ukraine. Sollte sich das Chaos
jedoch weiter ausbreiten und das Land in einen Bürgerkrieg abgleiten,
wäre der Fortbestand des ukrainischen Staates gefährdet. Er ist ein
künstliches Gebilde, das sich aus Regionen mit unterschiedlichen
politischen, historischen und kulturellen Traditionen zusammensetzt.
Im Westen des Landes ist die
ukrainische Identität, anders als im mehrheitlich russischsprachigen
Osten, tief verwurzelt. Das gilt vor allem für Galizien, aber auch für
die nördliche Bukowina und die Karpaten-Ukraine mit ihrer ungarischen
Minderheit, die in der Zwischenkriegszeit zur Tschechoslowakei gehörte.
Alle diese Regionen sind mitteleuropäisch geprägt. Galizien wurde nach
der ersten Teilung Polens 1772 der Habsburger-Monarchie zugeschlagen.
Drei Jahre später kam die nördliche Bukowina hinzu. Zuvor hatten alle
von Ukrainern bewohnten Gebiete während dreier Jahrhunderte unter der
Herrschaft von Polen-Litauen gestanden. Sie waren damit ein Teil
Mitteleuropas und - zumindest die westlichen Regionen - offen für
Einflüsse aus dem Westen des Kontinents.
Mit der Teilung Polens wurde auch
die Ukraine gespalten. Nach dem Zerfall des Habsburgerreichs im Ersten
Weltkrieg geriet auch der Westen der heutigen Ukraine unter sowjetische
Herrschaft - mit Ausnahme der Karpaten-Ukraine und Galiziens, das in der
Zwischenkriegszeit bis 1939 zur Republik Polen gehörte. Die galizischen
Ukrainer spielten bei der ukrainischen Nationsbildung im 19. und im 20.
Jahrhundert eine entscheidende Rolle. Die 1917/1918 gebildete
Ukrainische Volksrepublik konnte sich allerdings nur wenige Jahre
behaupten. Im Zweiten Weltkrieg und auch in den Jahren danach war in
Galizien der Widerstand gegen das sowjetische Regime besonders gross.
Bis zur Unabhängigkeit der Ukraine 1991 gab es, mit Ausnahme der kurzen
Periode am Ende des Ersten Weltkriegs, kein durch Grenzen definiertes
ukrainisches Staatsterritorium.
Regional definierte Identität
Anders verlief die Entwicklung in
den östlichen und südlichen Teilen der Ukraine. Spätestens seit dem 18.
Jahrhundert gehörten sie alle zum russischen Zarenreich - und nach der
Oktoberrevolution zur Sowjetunion. Im Osten und Süden dominiert noch
heute, im Gegensatz zum Westen, die russische Sprache. Hier leben viele
ethnische Russen oder russischsprachige Ukrainer. Zur Zeit der
ukrainischen Nationsbildung im 19. Jahrhundert befand sich der grössere
Teil der heutigen Ukraine unter der Herrschaft Russlands. Träger der
Modernisierung waren hier die in die Städte und Industriegebiete des
Ostens eingewanderten Russen. Das Zarenreich anerkannte die Ukrainer
nicht als eine eigene Nation. Sie wurden offiziell als Kleinrussen
bezeichnet.
Noch heute betrachten viele Russen
die Ukraine als Teil der russischen Nation und als Wiege der eigenen
Kultur. Die ukrainische Sprache ist für sie ein russischer Dialekt. Die
Ukraine war für Moskau zweifellos der schmerzlichste Verlust beim
Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums 1991.
Der Osten war länger unter
sowjetischer Herrschaft als der Westen, und die Mentalität ist stärker
sowjetisch geprägt. Zwar betrachten manche russischsprachige Ukrainer
Russland noch immer als ihre emotionale Heimat. Das heisst aber noch
lange nicht, dass sie sich auch politisch zu Moskau hingezogen fühlen
oder sich gar Russland anschliessen wollen. Hinzu kommt, dass die
Identität im Osten heute oft regional und nicht national oder ethnisch
definiert wird. Der ukrainische Staat hat sich in seinen bestehenden
Grenzen konsolidiert. Das war nach dem Auseinanderbrechen der
Sowjetunion keineswegs selbstverständlich. Kein ukrainischer Politiker
stellt heute die 1991 proklamierte Unabhängigkeit des Landes infrage,
auch jene nicht, die sich nach Russland orientieren.
Der Sonderfall Krim
Was die ukrainische Nation
spaltet, ist nicht nur die Frage der Ausrichtung nach Westen oder nach
Russland, sondern vor allem auch die unvereinbare Erinnerungskultur. Das
betrifft etwa den Zweiten Weltkrieg, der im Osten und im Westen des
Landes völlig unterschiedlich interpretiert wird. Das gilt auch für die
Deutung der Zeit der Zarenherrschaft oder des gescheiterten ukrainischen
Nationalstaates nach dem Ersten Weltkrieg. Im Westen der Ukraine wird,
anders als im Osten und ähnlich wie in den ostmitteleuropäischen
Staaten, das russische und das sowjetische Erbe generell als Bedrohung
empfunden, vor welcher die Westintegration Schutz bietet. Historische
Figuren sind für die einen Helden, für die andern jedoch Verräter.
Eine Sonderstellung innerhalb der
Ukraine nimmt die stark russisch geprägte Halbinsel Krim ein. Sie hat
den Status einer autonomen Republik und ist die einzige Region in der
Ukraine, in der die ethnischen Russen mit einem Anteil von rund 60
Prozent an der Gesamtbevölkerung die Mehrheit bilden. Die Halbinsel kam
1783 unter die Herrschaft Moskaus. Im Jahr 1954 hat der damalige
sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschew, ein Ukrainer, die Krim in
einem administrativen Willkürakt der Ukrainischen Sowjetrepublik
zugeschlagen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sprach sich im Dezember
1991 in einem Referendum auch eine Mehrheit der Bevölkerung der Krim für
die Unabhängigkeit der Ukraine aus.
Eine Hinterlassenschaft aus
sowjetischer Zeit ist die in Sewastopol stationierte russische
Schwarzmeerflotte. Janukowitsch hat schon kurz nach seinem Amtsantritt
2010 im ukrainischen Parlament unter grossem Widerstand der Opposition
die Verlängerung der Vereinbarung über die Präsenz der Flotte
durchgesetzt. Der Vertrag gilt nun bis zum Jahre 2042. So ist es denn
auch nicht verwunderlich, dass Janukowitsch im jüngsten Machtkampf nicht
nur aus dem weitgehend russischsprachigen Osten, sondern auch von der
Krim Rückendeckung erhielt. Russische Organisationen auf der Halbinsel
haben sogar einen neuen Volksentscheid über die Zukunft der autonomen
Republik gefordert und Moskau gebeten, als Garant für die Einhaltung der
Rechte und Freiheiten der Bürger der Krim aufzutreten. Abgeordnete des
lokalen Parlaments schlugen gar vor, die in ihren Augen von Kiew
vernachlässigte Halbinsel wieder Russland anzugliedern.
Das grosse Land am südöstlichen
Rande des Kontinents steht also seit Jahrhunderten im Spannungsfeld
zwischen dem lateinisch-abendländisch geprägten Ostmitteleuropa und dem
byzantinisch-orthodoxen östlichen Kulturraum. Die Ukraine ist
zweigeteilt. Der westliche Landesteil will die Integration in die
Europäische Union, der Osten blickt stärker nach Russland. Noch immer
durchziehen tiefe politische Gräben das Land. Das zeigen auch die
Präsidentenwahlen von 2010 (vergleiche Karte). Die Hochburgen von
Janukowitsch und seiner Partei der Regionen liegen im Osten und im
Süden, während der Westen die Opposition unterstützt. Allerdings sind
die Übergänge fliessend, und in der Westukraine gibt es Bezirke, in
denen Janukowitsch mehr Stimmen erhielt als seine damalige Konkurrentin
Julia Timoschenko.
Suche nach Gleichgewicht
Die historisch bedingten
Gegensätze sind auch eine Chance, denn sie zwingen die politischen
Eliten zu einem Interessenausgleich. Noch überwiegt in allen
Landesteilen der Wille zur Einheit. Wird die Dominanz des Ostens oder
des Westens jedoch zu stark, könnte der Zusammenhalt bröckeln. Seit der
«orangen Revolution» von 2004 verschärfen sich die Gegensätze. Bisher
haben alle Machthaber in Kiew vor allem ein Ziel verfolgt: ihre
Günstlinge in Machtpositionen zu hieven. Wer immer künftig regieren
wird, eine der wichtigsten Aufgaben besteht darin, die Gräben
zuzuschütten und die jeweils andere Seite in den politischen Prozess
einzubinden.
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