aus SZ
aus NZZ, 5. 2. 2014
Von Ökotopia zu Datatopia 
Pervertierung libertärer Ideale
Pervertierung libertärer Ideale
von Eduard Kaeser · Man 
sieht in den Tausendsassas vom Silicon Valley gerne die Nachfahren der 
kalifornischen Gegenkultur. Die radikalen Hippies waren liberal im 
sozialen Sinne des Wortes. Sie befürworteten universalistische, 
rationale und progressive Ideale wie Demokratie, Toleranz, 
Gerechtigkeit. Zwanzig Jahre Nachkriegs-Wirtschaftswachstum lieferte 
ihnen den historischen Rückenwind der Nutzung von Technik und 
Wissenschaft zu humanen Zwecken. Der damalige Kultroman «Ecotopia» von 
Ernest Callenbach (1975) zeichnete ein künftiges Hippie-Kalifornien, wo 
das Auto verschwunden, die Industrie ökologisch war; eine Gegenkultur 
aus freizügiger Sexualität, basisdemokratischem Alltag, mit ein paar 
Kühen auf der Weide und Marihuana im Garten.
Aber schon damals zeichneten sich 
zwei grundsätzlich verschiedene Technikauffassungen ab. Es gab die 
Anhänger von Herbert Marcuse und die Anhänger von Marshal McLuhan. 
Erstere sahen in Wissenschaft und Technik primär Instrumente des 
unternehmerischen und unterdrückerischen Wirtschafts-Individualismus. 
Letztere sahen im Zusammenfluss der neuen Technologien und der Medien 
den Anbruch einer durch Technik befreiten Gesellschaft.
John Perry Barlow, Songtexter und 
grosssprecherischer Ideologe des Technolibertarismus, erklärte 1996 die 
Unabhängigkeit des Cyberspace. «Regierungen der industrialisierten 
Welt», hob dieser Zarathustra des elektronischen Zeitalters an, «ihr 
schweren Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme vom Cyberspace, der 
neuen Heimat des Geistes. Im Auftrag der Zukunft fordere ich euch (.  . 
 .) auf, uns in Frieden zu lassen (.  .  .) Ihr habt keine Hoheitsgewalt
 da, wo wir uns versammeln. Wir werden eine Zivilisation des Geistes im 
Cyberspace schaffen. Möge sie menschlicher und gerechter sein als die 
Welt, die eure Regierungen zuvor errichtet haben.»
Diese Unabhängigkeit dank 
Computertechnologie war allerdings immer stark von öffentlichen Mitteln 
gespeist - trotz antietatistischer Rhetorik des freien Unternehmertums. 
Die Soziologen Richard Barbrook und Andy Cameron nennen in ihrem 
aufschlussreichen Artikel «Die kalifornische Ideologie» (1997) den 
Hightech-Komplex der Westküste den «fettesten Schweinekoben» Amerikas. 
Milliarden an staatlichen Zuwendungen flossen in den Bau und die 
Entwicklung von Flugzeugen, Raketen, Bomben und zuoberst von Elektronik 
und Computer. «Für alle die, welche nicht geblendet waren von den Dogmen
 des 'freien Marktes', lag es auf der Hand, dass die Amerikaner 
immer eine staatliche Wirtschaftsförderung hatten. Man nannte sie nur 
anders: Verteidigungsbudget (.  .  .).»
Es mag zynisch klingen: Das 
Verteidigungsministerium nimmt nun einfach die Dienste jener Firmen in 
Anspruch, die es über Jahrzehnte hinweg grosszügig in der Entwicklung 
einer immer raffinierteren Technologie alimentiert hat - einer 
Technologie, die sich jetzt als höchst effizient in Überwachungsaufgaben
 erweist. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass die Ideologie des 
Silicon Valley von der Hippie-Kultur der 1970er Jahre und ihrer Vision 
einer befreiten Gesellschaft zehrt, tatsächlich aber die Technologie der
 Befreiung immer mehr zu einer der Herrschaft pervertieren lässt. Die 
schweren Riesen aus Fleisch und Stahl, denen Barlow den Kampf ansagte, 
haben sich verwandelt in Giganten aus Chips und Bits. Geschichte, so 
sagte Mark Twain, wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen