Moral und Recht. 
von Martin Meyer · Recht
 und Moral gehören zwei verschiedenen Sphären zu. Das mag gegenwärtigen 
Ohren da und dort unangenehm klingen, entspricht aber einer aufgeklärten
 Tradition für das konfliktreiche Zusammenleben unter Menschen. Während 
das Recht im Verhältnis zwischen Freiheit und Gehorsam regelt, was zu 
unterlassen ist, soll die Moral dafür sorgen, dass ein allgemein 
sittsames Verhalten im Sinne von Anstand und Humanität wirklich wird. In
 beiden Fällen ist das Mass ein entscheidendes Kriterium. Totale 
Verrechtlichung der Lebenssphären schränkt die Freiräume individuellen 
Gestaltens ein, und forcierte Moralisierung sämtlichen Tuns und Lassens 
führt in die Richtung des Gesinnungsterrors. Überdies übt sie teils 
subtil, teils ausdrücklich Macht aus, die wiederum die Herrschaftsträume
 bestimmter Gruppen oder Führer nährt.
Die Geschichte des Westens spielte
 sich oft unter schwierigen, ja gefährlichen Bedingungen zwischen den 
Polen von Kontrolle einerseits und Laissez-faire anderseits ab. Stets 
wirkten mächtige Interessen hinein, die ihre Aktivitäten nach der einen 
oder anderen Seite zu nutzen versuchten. Thomas Hobbes, ein grosser 
Philosoph des Argwohns gegenüber den menschlichen Leidenschaften, 
erkannte dies: nach leidvollen Erfahrungen mit diversen Formen des 
Bürgerkriegs, als er die Gesetzgebung von ihrer Koppelung an eine 
unbedingte Wahrheit zu trennen trachtete. Auctoritas, non veritas facit legem.
 Will heissen, wer meint, dass die Wahrheit das Recht bestimme, findet 
rasch einen Gegner, der ebendiese Wahrheit bestreitet und dafür eine 
Gegenwahrheit in Anschlag bringt. Das Resultat ist Ideologisierung, die 
hüben und drüben zu den Waffen ruft.
Das Politische - also der 
öffentlich verfasste Streit um richtige und falsche Positionen des 
Zusammenlebens - ist davon insofern betroffen, als die Moral oftmals 
dazu aufgerufen wird, Freund und Feind auf gleichsam höherer Ebene 
kenntlich zu machen. Moralisierung dient hierbei dazu, den Gegner ins 
trübe Licht verfehlten Verhaltens zu rücken. Das Recht wird dabei 
relativiert. Es mag zwar jemand noch immer im Bereich der Legalität sich
 bewegen, doch gleichwohl bleibt ihm der Makel der Unanständigkeit, bei 
verschärfter Lesart die Sünde der illegitimen Gesinnung: Er vergeht sich
 etwa am Gemeinwohl oder - wie die Tribunale der Französischen 
Revolution manifestierten - sogar an der Zukunft der Gattung.
Man beobachtet die jüngsten 
Entwicklungen öffentlich vorangetriebener Moralisierung des Daseins bis 
hinein in die Aktivitäten der Einzelnen im Alltag mit gemischten 
Gefühlen. Die Zeiten, da man akzeptiertes Wohlverhalten nur nach den 
Gesichtspunkten und Vorgaben der Legalität beurteilte und im Falle 
missbräuchlicher Handlungen - rechtens - ahndete, weichen einer Kultur 
des Verdachts. Man geht vielerorts und unter Berufung auf das staatlich 
akzeptierte beziehungsweise bei Bedarf auch staatlich zu 
diskreditierende Gewissen davon aus, dass Menschen, die etwa als «die 
Reichen» bezeichnet werden, tendenziell nur Profiteure an der 
Gesellschaft seien, die sich gemütlich in den Schlupflöchern des Rechts 
eingerichtet hätten und dabei Betrug am bonum commune verübten.
Doch auch hier geht es wesentlich 
um Strategien der Macht. Politik wird weniger verstanden als Ausgleich 
und Vereinbarung zwischen Schichten und Gruppen denn als Wettbewerb der 
Parteien um die Gunst der Wähler. Wo aber Staaten ihrerseits und aus 
eigenem Antrieb finanziell und strukturell in Schieflage geraten, wird 
die Schraube von höchster Stelle her angezogen. Das geht so weit, dass 
nicht nur deren Subjekte im Stil von missliebigen Untertanen zur Räson 
gerufen werden, sondern auch andere Staaten ins Visier der Moralisierung
 geraten. Dies betrifft nicht etwa nur sogenannte Bananenrepubliken und 
autoritär definierte Gebilde, sondern auch demokratisch legitimierte und
 mit dem Gütesiegel des Rechtsstaats versehene Gemeinwesen.
Doch Autonomie wie auch privacy
 haben heute einen schweren Stand. Letztere suggeriert als Realität wie 
als Bedürfnis fast schon a priori dunkle Absichten. Das Wunschobjekt 
wäre dagegen der gläserne Mensch in einem Staat, der Transparenz zwar 
nicht für sich selber beanspruchen möchte, doch umgekehrt immer mehr 
dazu neigt, sie bei seinen Bürgerinnen und Bürgern herzustellen. 
Legalität droht dabei zu einem schwer berechenbaren Provisorium zu 
werden, weil die öffentlich vorgetriebene Moral nicht ruht und danach 
dürstet, neue und vor allem härtere Verrechtlichungen einzusetzen. Dies 
alles läuft nicht deklariert unter der Flagge des Sozialismus. Aber 
Etiketten sind hier Nebensache.
Nota.
Er zieht die Grenze zwischen Recht und Moral nicht an der richtigen Stelle. Denn für ihn wäre auch Moral noch eine öffentliche Angelegenheit. Historisch-empirisch hat er nicht einmal Unrecht: Die nach Zeit und Ort je variierenden herrschenden Moralen beanspruchen in der Tat allgemeine Verbindlichkeit und stellen sich vor, und das heißt über das Recht. In dieser Form, als mores, pl. von mos, gute Sitte oder 'was sich gehört', drängen sie in die Politik.
Das ist ein über die Jahrhunderte und -tausende tradiertes Faktum. Eine libertäre Politik wird sich nicht zum utopische Ziel setzen, öffentliche Moralen abzuschaffen. Sie wird aber laut und energisch darauf dringen, dass die öffentlichen Moralen ihr Maß und ihre Grenze finden - zu finden haben - an der Moralität eines jeden Einzelnen. 
Merke: Die guten Sitten sind die guten Sitten und variieren nach Zeit und Ort. Sie setzen fest, was sich gehört, wenn man ein geachtetes Mitglied des Gemeinwesens sein will. Auch das Recht variiert nach Zeit und Ort. Es regelt, was ich den andern schuldig bin und sie mir. Bei Nichtbefolgung kann es wohl auch den zeitweiligen Ausschluss aud dem Gemeinwesen verhängen.
Moralität, Sittlichkeit jedoch sagt mir, was ich mir selber schuldig bin. Und das ist für das vernünftige Subjekt der letzte und oberste Maßstab. Auch für sein Tun und Lassen im Gemeinwesen, wenn auch nicht in erster Linie.
JE
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