W. Bouguereau, Der blinde Homer
Vertrauen - eine flüchtige Ressource 
Durch die Enträumlichung der Wirtschaft erodieren die kulturellen Voraussetzungen unserer Vertrauensbereitschaft. Eine «Remoralisierung» ökonomischen Verhaltens wird die Entfremdung zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft daher kaum beseitigen können.
Durch die Enträumlichung der Wirtschaft erodieren die kulturellen Voraussetzungen unserer Vertrauensbereitschaft. Eine «Remoralisierung» ökonomischen Verhaltens wird die Entfremdung zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft daher kaum beseitigen können.
Von Thomas A. Becker
Vertrauen sei ein scheues Reh und 
immer mehr Menschen kritisierten den Verfall von Anstand und Moral im 
Wirtschaftsgeschehen, liess Josef Ackermann unlängst verlauten. Derweil 
buchen die Manager der Deutschen Bank Ethik-Schnellkurse, pauken 
Moralbegriffe und üben Demutsgebärden ein. Der Soziologe Georg Simmel 
bezeichnete im Jahre 1908 das Vertrauen als «eine der wichtigsten 
synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft». Diese Kraft müsse 
jedoch in modernen Gesellschaften einen zunehmend unpersönlichen 
Charakter annehmen, da die Interaktionen zwischen Menschen immer weniger
 auf persönlichem Wissen beruhen könnten. Vertrauen erscheint hier als 
soziale Ressource, mit deren Hilfe koordiniertes Handeln unter 
Bedingungen weitreichender Anonymität möglich ist. Die Frage ist, wie 
unter diesen Bedingungen mit den wachsenden Risiken und Kontingenzen 
menschlicher Zusammenarbeit umgegangen werden kann. Vertrauen ist mithin
 für die Soziologie ein funktionaler Ersatz für ein Wissen über die 
Motive anderer Akteure, über die wir immer weniger wissen können.
Generalisierte Zuversicht 
In seinem Buch «Konsequenzen der 
Moderne» (1990) schreibt Anthony Giddens, nicht aus dem Fehlen von 
Macht, sondern aus dem Fehlen vollständiger Informationen erwachse die 
Notwendigkeit sozialen Vertrauens. Der Mangel an Information sei der 
«Entbettung» sozialer Beziehungen aus ihrem lokalen Umfeld geschuldet. 
Abstrakte Systeme prägten unser Zusammenleben - mittels je spezifischer 
Zeichensysteme, die unabhängig von den Individuen funktionieren. 
Es bleibt uns folglich nichts 
anderes übrig, als Akteuren, die wir nicht kennen können, eine gewisse 
Redlichkeit zuzuschreiben. Soziales Vertrauen ist nach klassischer 
Definition die Überzeugung, dass mir andere schlimmstenfalls nicht 
wissentlich und vorsätzlich Schaden zufügen und bestenfalls im Sinne 
meiner Interessen handeln. Da niemand in einer Welt ständiger 
Unsicherheit und ohne positive Erwartungen leben kann, muss er die 
Möglichkeit von Enttäuschungen streckenweise einfach ausblenden. 
Auf Systemebene müssen etwa 
Währungskrisen mit allen Mitteln verhindert werden, damit die 
generalisierte Zuversicht ins Geldsystem nicht verfliegt. Vertrauen 
fördert Wachstum und Effizienz, die Versorgung mit öffentlichen Gütern, 
gesellschaftliche Integration, Verständigung und Kooperation, 
Lebenszufriedenheit, demokratische Stabilität und Gesundheit. Allerdings
 hängt die jeweilige Neigung zu Vertrauen und Misstrauen - und die 
entsprechenden Handlungsdispositionen - von der Interpretation 
makrosozialer Bedingungen (societal images) ab. Es herrschen ja in der 
Bevölkerung sehr unterschiedliche Wahrnehmungen der gesellschaftlichen 
Zustände: Einige sehen ihre Gesellschaft durch tief reichende Konflikte 
belastet, während andere eher an dauerhaften sozialen Frieden glauben.
Entscheidend ist die Frage, wie 
«Systemvertrauen» überhaupt entsteht. Vertrauen ins politische System 
etwa setzt sich aus diversen Vertrauensformen zusammen, die mehr oder 
weniger gleichzeitig gegeben sein müssen. Systemvertrauen entsteht, wenn
 das Vertrauen in das Funktionssystem Politik durch Vertrauen in andere 
Systeme (Wirtschaft, Recht) ergänzt und gerechtfertigt wird. Die 
Mehrdimensionalität und Interdependenz des Systemvertrauens wird 
besonders deutlich in Gesellschaften, in denen weder Politik noch Recht,
 noch Wirtschaft ausreichend funktionieren.
Fragt man nach Determinanten von 
Systemvertrauen in der Schweiz, so läge es nahe, diese vor allem in den 
gesellschaftlichen Bedingungen (Sicherheit, Verteilungskonflikte usw.) 
zu verorten und weniger in individuellen Eigenschaften wie Einkommen und
 Schichtzugehörigkeit. Sozialforscher haben indes festgestellt, dass in 
High-Trust-Gesellschaften wie der Schweiz, wo Vertrauen eigentlich 
ubiquitär ist (nur Südkorea schneidet besser ab), dieses viel stärker 
vom persönlichen Lebenserfolg und von der sozialstrukturellen Position 
abhängt als in Low-Trust-Gesellschaften wie etwa Slowenien oder Ungarn. 
Folglich sei Vertrauensbildung in unserem Land am besten über 
«Fahrstuhleffekte» zu erzielen, die möglichst breiten Schichten das 
Gefühl steigender Zufriedenheit und Teilhabe vermittelten.
Daher könnte das aus wachsender 
Entfremdung resultierende Schwinden der Zuversicht, weiterhin zu den 
«Gewinnern» zu gehören, diffuse Gefühle der Unzufriedenheit auslösen 
oder fördern. Wenn das subjektive Wohlbefinden beziehungsweise die 
Abwesenheit von Sorgen ein starkes Motiv für Vertrauen ist, stellt sich 
die Frage, wie lange die mentalen Grundlagen des «Erfolgsmodells 
Schweiz» Bestand hätten, wenn die soziale Ungleichheit zunähme.
Prekäres Vertrauen 
Nicht nur unterschätzen wichtige 
Akteure notorisch das zur Stabilisierung von Systemen erforderliche Mass
 an Vertrauen, sondern sie verkennen auch das menschliche Bedürfnis, 
Vertrauensmissbrauch eindeutig zuzuschreiben. Vertrauensbereitschaft 
wird nämlich prekär, wenn wirtschaftliche Handlungszusammenhänge durch 
Dezentralisierung ihre «Bodenhaftung» verlieren, wenn die kulturellen 
Voraussetzungen zerfallen, die unserem Vertrauen als «riskanter 
Vorleistung» Sinn geben, und, in der Folge, die Instanzen für die klare 
Zuschreibung und Sanktionierung von Vertrauensmissbrauch fehlen. Diese 
Entwicklung wird kaum aufzuhalten sein - weder mittels Vertrauen 
erheischender Selbstdarstellung von Führungskräften noch mittels 
Verbrämung eigennütziger Motive durch (vermeintlich gemeinnützige) 
Ansätze wie «Corporate Social Responsibility» und «Public Value». Das 
scheue Reh ist schnell verjagt und lässt sich lange nicht mehr blicken.
Thomas A. Becker ist Soziologe und Berater von Unternehmen und Institutionen der öffentlichen Verwaltung.
Nota.
Im denkwürdigen Jahr '68, als alle Autoritätem "hinterfragt" (das Wort kam damals in Gebrauch) und die Generation der Väter zur Verantwortung gezogen wurde, hätte die junge Generation, sollte man meinen, ein tiefes Misstrauen in die politischen Institutionen und die sozialen Normen erfüllt. Doch das Gegenteil war der Fall. Wir waren die erste Generation, die nie etwas anderes als ständigen Fortschritt, stets wachsenden Wohlstand und die Sicherheiten des Sozialstaats kennengelernt hatte. Das war unsere Norm und legitimierte unsere Ansprüche.
JE
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