W. Bouguereau, Der blinde Homer
aus NZZ, 14. 2. 2014
Vertrauen - eine flüchtige Ressource
Durch die Enträumlichung der Wirtschaft erodieren die kulturellen Voraussetzungen unserer Vertrauensbereitschaft. Eine «Remoralisierung» ökonomischen Verhaltens wird die Entfremdung zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft daher kaum beseitigen können.
Durch die Enträumlichung der Wirtschaft erodieren die kulturellen Voraussetzungen unserer Vertrauensbereitschaft. Eine «Remoralisierung» ökonomischen Verhaltens wird die Entfremdung zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft daher kaum beseitigen können.
Von Thomas A. Becker
Vertrauen sei ein scheues Reh und
immer mehr Menschen kritisierten den Verfall von Anstand und Moral im
Wirtschaftsgeschehen, liess Josef Ackermann unlängst verlauten. Derweil
buchen die Manager der Deutschen Bank Ethik-Schnellkurse, pauken
Moralbegriffe und üben Demutsgebärden ein. Der Soziologe Georg Simmel
bezeichnete im Jahre 1908 das Vertrauen als «eine der wichtigsten
synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft». Diese Kraft müsse
jedoch in modernen Gesellschaften einen zunehmend unpersönlichen
Charakter annehmen, da die Interaktionen zwischen Menschen immer weniger
auf persönlichem Wissen beruhen könnten. Vertrauen erscheint hier als
soziale Ressource, mit deren Hilfe koordiniertes Handeln unter
Bedingungen weitreichender Anonymität möglich ist. Die Frage ist, wie
unter diesen Bedingungen mit den wachsenden Risiken und Kontingenzen
menschlicher Zusammenarbeit umgegangen werden kann. Vertrauen ist mithin
für die Soziologie ein funktionaler Ersatz für ein Wissen über die
Motive anderer Akteure, über die wir immer weniger wissen können.
Generalisierte Zuversicht
In seinem Buch «Konsequenzen der
Moderne» (1990) schreibt Anthony Giddens, nicht aus dem Fehlen von
Macht, sondern aus dem Fehlen vollständiger Informationen erwachse die
Notwendigkeit sozialen Vertrauens. Der Mangel an Information sei der
«Entbettung» sozialer Beziehungen aus ihrem lokalen Umfeld geschuldet.
Abstrakte Systeme prägten unser Zusammenleben - mittels je spezifischer
Zeichensysteme, die unabhängig von den Individuen funktionieren.
Es bleibt uns folglich nichts
anderes übrig, als Akteuren, die wir nicht kennen können, eine gewisse
Redlichkeit zuzuschreiben. Soziales Vertrauen ist nach klassischer
Definition die Überzeugung, dass mir andere schlimmstenfalls nicht
wissentlich und vorsätzlich Schaden zufügen und bestenfalls im Sinne
meiner Interessen handeln. Da niemand in einer Welt ständiger
Unsicherheit und ohne positive Erwartungen leben kann, muss er die
Möglichkeit von Enttäuschungen streckenweise einfach ausblenden.
Auf Systemebene müssen etwa
Währungskrisen mit allen Mitteln verhindert werden, damit die
generalisierte Zuversicht ins Geldsystem nicht verfliegt. Vertrauen
fördert Wachstum und Effizienz, die Versorgung mit öffentlichen Gütern,
gesellschaftliche Integration, Verständigung und Kooperation,
Lebenszufriedenheit, demokratische Stabilität und Gesundheit. Allerdings
hängt die jeweilige Neigung zu Vertrauen und Misstrauen - und die
entsprechenden Handlungsdispositionen - von der Interpretation
makrosozialer Bedingungen (societal images) ab. Es herrschen ja in der
Bevölkerung sehr unterschiedliche Wahrnehmungen der gesellschaftlichen
Zustände: Einige sehen ihre Gesellschaft durch tief reichende Konflikte
belastet, während andere eher an dauerhaften sozialen Frieden glauben.
Entscheidend ist die Frage, wie
«Systemvertrauen» überhaupt entsteht. Vertrauen ins politische System
etwa setzt sich aus diversen Vertrauensformen zusammen, die mehr oder
weniger gleichzeitig gegeben sein müssen. Systemvertrauen entsteht, wenn
das Vertrauen in das Funktionssystem Politik durch Vertrauen in andere
Systeme (Wirtschaft, Recht) ergänzt und gerechtfertigt wird. Die
Mehrdimensionalität und Interdependenz des Systemvertrauens wird
besonders deutlich in Gesellschaften, in denen weder Politik noch Recht,
noch Wirtschaft ausreichend funktionieren.
Fragt man nach Determinanten von
Systemvertrauen in der Schweiz, so läge es nahe, diese vor allem in den
gesellschaftlichen Bedingungen (Sicherheit, Verteilungskonflikte usw.)
zu verorten und weniger in individuellen Eigenschaften wie Einkommen und
Schichtzugehörigkeit. Sozialforscher haben indes festgestellt, dass in
High-Trust-Gesellschaften wie der Schweiz, wo Vertrauen eigentlich
ubiquitär ist (nur Südkorea schneidet besser ab), dieses viel stärker
vom persönlichen Lebenserfolg und von der sozialstrukturellen Position
abhängt als in Low-Trust-Gesellschaften wie etwa Slowenien oder Ungarn.
Folglich sei Vertrauensbildung in unserem Land am besten über
«Fahrstuhleffekte» zu erzielen, die möglichst breiten Schichten das
Gefühl steigender Zufriedenheit und Teilhabe vermittelten.
Daher könnte das aus wachsender
Entfremdung resultierende Schwinden der Zuversicht, weiterhin zu den
«Gewinnern» zu gehören, diffuse Gefühle der Unzufriedenheit auslösen
oder fördern. Wenn das subjektive Wohlbefinden beziehungsweise die
Abwesenheit von Sorgen ein starkes Motiv für Vertrauen ist, stellt sich
die Frage, wie lange die mentalen Grundlagen des «Erfolgsmodells
Schweiz» Bestand hätten, wenn die soziale Ungleichheit zunähme.
Prekäres Vertrauen
Nicht nur unterschätzen wichtige
Akteure notorisch das zur Stabilisierung von Systemen erforderliche Mass
an Vertrauen, sondern sie verkennen auch das menschliche Bedürfnis,
Vertrauensmissbrauch eindeutig zuzuschreiben. Vertrauensbereitschaft
wird nämlich prekär, wenn wirtschaftliche Handlungszusammenhänge durch
Dezentralisierung ihre «Bodenhaftung» verlieren, wenn die kulturellen
Voraussetzungen zerfallen, die unserem Vertrauen als «riskanter
Vorleistung» Sinn geben, und, in der Folge, die Instanzen für die klare
Zuschreibung und Sanktionierung von Vertrauensmissbrauch fehlen. Diese
Entwicklung wird kaum aufzuhalten sein - weder mittels Vertrauen
erheischender Selbstdarstellung von Führungskräften noch mittels
Verbrämung eigennütziger Motive durch (vermeintlich gemeinnützige)
Ansätze wie «Corporate Social Responsibility» und «Public Value». Das
scheue Reh ist schnell verjagt und lässt sich lange nicht mehr blicken.
Thomas A. Becker ist Soziologe und Berater von Unternehmen und Institutionen der öffentlichen Verwaltung.
Nota.
Im denkwürdigen Jahr '68, als alle Autoritätem "hinterfragt" (das Wort kam damals in Gebrauch) und die Generation der Väter zur Verantwortung gezogen wurde, hätte die junge Generation, sollte man meinen, ein tiefes Misstrauen in die politischen Institutionen und die sozialen Normen erfüllt. Doch das Gegenteil war der Fall. Wir waren die erste Generation, die nie etwas anderes als ständigen Fortschritt, stets wachsenden Wohlstand und die Sicherheiten des Sozialstaats kennengelernt hatte. Das war unsere Norm und legitimierte unsere Ansprüche.
JE
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