Staaten steigen aus dem Web aus
von Hannes Grassegger
Wenn man Paul Fehlinger fragt, wie es dem Internet gehe, fährt sich der junge Politikwissenschafter durch die Haare. Und dann durch den Bart. Eine schwierige Frage. Denn er soll es ja zusammenhalten, das Internet. Das ist die Mission der Organisation, die ihn angestellt hat. Aber das wird plötzlich immer komplizierter. «Das globale Internet ist keine Naturgegebenheit», sagt Fehlinger schliesslich. «Es steht keineswegs fest, dass es weiterhin ein globales Netz geben wird.»
Dabei war es doch genau das, worum es ging im World Wide Web. Plötzlich stand die ganze Welt offen. Es schien ein endloses Wachstum, das jeden erfasste. 2,7 Milliarden Menschen sind heute im Netz. Grenzenlose Märkte, grenzenlose Freundschaften – jeder konnte sich mit jedem vernetzen. Worldwide – das war das Lebensgefühl der Epoche, in der Fehlinger aufwuchs. In den Universitäten übten Studenten das Kontaktieren von Unternehmensführern, aus Pakistan twitterte ein Dorfbewohner die Gefangennahme bin Ladins an den Rest der Welt. In der Grenzenlosigkeit besteht der Wert des Internets.
Doch jetzt fällt das World Wide Web auseinander. Es zerbricht. Unternehmer und die Führer der sogenannten technischen Gemeinschaft sprechen von der «Fragmentierung» des Webs. Paul Fehlingers Organisation «Internet Jurisdiction Project» will dagegen ankämpfen.
Alarmruf von Google und Co.
Der Zerfall ist offenbar derart dramatisch, dass sich im letzten Dezember die grössten Unternehmen des Webs mit einem Appell an die Weltöffentlichkeit gewandt haben: AOL, Yahoo, LinkedIn, Google, Apple, Microsoft, Twitter und Facebook, eine eigentlich undenkbare Allianz erbitterter Konkurrenten, veröffentlichten einen offenen Brief «an die Regierungen der Welt». In ganzseitigen Anzeigen unter anderem in der «New York Times» forderten sie eine «Vermeidung von Konflikten zwischen Regierungen und nationalen Gesetzgebungen» sowie die «Respektierung des internationalen Datenverkehrs».
Auslöser dieses Alarmrufs und der derzeit stattfindenden Auflösungserscheinungen im Web sind die erschütternden Enthüllungen über die Spionagetätigkeiten des amerikanischen Geheimdienstes NSA. Plötzlich wurde allen klar, wie begehrt unsere Daten im Internet sind. Sie sind Macht und Kapital zugleich. Nicht nur Unternehmen oder die NSA sammeln sie. Auch die Geheimdienste Chinas, Russlands, Nordkoreas oder Syriens schnüffeln hemmungslos im Netz. Es ist, als hätte die Welt plötzlich erkannt, dass alle nackt sind.
Die Folge ist ein fataler Wettkampf von Staaten, Unternehmen und Privatpersonen mit ihren Überwachern. Wer kann, versteckt sich, flieht oder legt sich eine undurchdringbare Rüstung aus Verschlüsselungs-Algorithmen an. Das Internet, diese weltweite Gemeinschaft der Offenheit, zersplittert.
Der Zerfall findet an drei Fronten statt: Erstens bilden sich parallele Netzwerke innerhalb des Internets, die keineswegs offen und global sind, wie es das World Wide Web bisher war. Suchmaschinen wie Google können auf diese Inhalte nicht mehr zugreifen. Populär ist beispielsweise das anonymisierte Tor-Netz, in welches man durch eine spezielle Tür im Netz eintritt und das dann die Spuren von Datenanbietern und Nachfragern verschleiert. Was oft als «Darknet» bezeichnet wird, sind versteckte, geschlossene Netzwerke zwischen «befreundeten» Computern. Tote Briefkästen, geschützte Versammlungsorte, die nur bestimmte Menschen kennen. Das «Deep Web» schliesslich ist ein schwer auffindbares und immer grösser werdendes Netz, in dem viele Informationen verschwinden, die davor den Wert des Internets für alle Seiten erhöhten.
Zweitens verlassen viele Nutzer, die dem Internet nicht mehr alles anvertrauen, Websites wie Facebook und nutzen zusehends direkte Kanäle, um Intimes zu kommunizieren. Auf Mobiltelefonen laufen Programme wie Whatsapp, eine Mobil-Applikation für Textnachrichten und Bilder. Sie lassen ihre Daten zwar durch die Kabel des Internets laufen, entziehen sich aber dem öffentlichen Blick. Manche schreiben lieber nichts Heikles mehr ins Web und setzen wieder auf Briefe oder direkte Gespräche.
Drittens, und das ist die dramatischste Entwicklung, kapseln sich immer mehr Länder vom freien Datenstrom ab. Sie legen Grenzen um ihr Internet, angeblich um ihre Bürger zu schützen. Als Anfang September herauskam, dass die USA die Staatsführer von Brasilien und Mexiko abhörte, war Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff derart wütend, dass sie ihren geplanten Staatsbesuch in den USA verschob. Drei Wochen darauf, am 24. September, erklärte Dilma Rousseff in einer Rede vor der Uno die Verabschiedung einer «Internet-Verfassung für Brasilien» zur Priorität.
Ihr «Marco Civil da Internet» ist typisch für eine wachsende Zahl staatlicher Kampagnen zu nationaler «Datenhoheit». Wenn der «Marco Civil» in Kraft tritt, muss zukünftig jeder, der in Brasiliens Internet auftauchen will, seine Daten auch auf Servern in Brasilien speichern. Zudem soll der freie Strom der Daten beschränkt werden. Anbieter von Webinhalten in Brasilien können ausserdem zukünftig verpflichtet werden, einen Vertreter im Land zu haben. Der Blog eines ukrainischen Oppositionellen oder einer ägyptischen Journalistin könnten in Brasilien nicht mehr aufgerufen werden, es sei denn, sie würden einen Stellvertreter in Brasilien bezahlen.
Deutschland diskutiert Ausstieg
Knappe zehn Tage nach Rousseffs Uno-Auftritt kam eine ähnliche Entwicklung bei Amerikas zweitbestem Freund, Deutschland, in Gang. Als im Laufe des Oktobers herauskam, dass Bundeskanzlerin Angela Merkels Mobiltelefon abgehört worden war, zweifelte Merkel zuerst an der deutsch-amerikanischen Freundschaft – dann wurden Pläne laut, ein deutschlandspezifisches «Internetz» zu errichten. «Die Deutsche Telekom will ( . . .) ein rein deutsches Internet bauen. Datenpakete sollen in Zukunft so gelenkt werden, dass sie nur über deutsche Leitungen verschickt werden, wenn sie einen hiesigen Absender und Empfänger haben», schrieb das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel».
In einer der grössten Internetnationen der Welt wurde der Ausstieg diskutiert. Man müsse «nur noch einen» Datenknotenpunkt errichten, um ein «unabhängiges Internet» zu schaffen. «Schlandnetz» lachten manche. Derweil überlegten Postvertreter die Einführung einer abhörsicheren, an den Ausweis gekoppelten «Deutschlandmail». Ähnliche Pläne hatte kurz zuvor Iran geäussert.
National mehr oder minder stark abgeschirmte «Internets» existieren in Ländern mit stark eingeschränkter Meinungsfreiheit wie China, das sein Internet hinter einer staatlich kontrollierten Mauer versteckt und in dem mutmasslich Hunderttausende Zensoren laufend alles und jeden kontrollieren. Ähnlich sieht es in Nordkorea, Iran, Bahrain, Vietnam oder Saudiarabien aus. Diese Länder haben bewiesen: Technisch ist die Aufteilung des Internets kein Problem.
Bei einer Untersuchung der amerikanischen Nichtregierungsorganisation «Freedom House» zur Internetzensur wurden 2013 gar fast ein Viertel aller weltweit untersuchten nationalen Internets als unfrei klassifiziert. Tendenz steigend. Auch Russland schirmt das russischsprachige Ru-Net seit längerem ab. Offiziell geht es dabei um den «Kampf gegen den Terror». In der Türkei hat das Parlament diese Woche ein Gesetz verabschiedet, das die Kontrolle der Regierung über die Inhalte im Internet drastisch ausweitet.
Inseln im Netz gibt es also schon länger. Neu ist, dass diese Modelle zum Vorbild für demokratische Staaten werden. Zur neuen Normalität. Am 8. Januar dieses Jahres veröffentlichte eine EU-Kommission, die damit beauftragt worden war, eine Reaktion auf die NSA-Überwachungsaffäre zu erarbeiten, ihre Empfehlungen. Es sind zwei Kernforderungen: Die Sistierung der wichtigsten Datentauschabkommen mit den USA und «IT Independence», also ein autonomes Datennetz, für Staaten und die EU als ganze.
Genau diese «Nationalisierung des Internets» fürchtet Paul Fehlinger. Das Internet beruhe auf «transnationalen» Vereinbarungen zwischen nichtstaatlichen Akteuren. Es sei eben nicht «international», also zwischenstaatlich. Bei der Konstruktion des Webs nahmen dessen Erfinder keine Rücksicht auf Staatsgrenzen. «Wenn nun ein Nationalisie-rungs-Wettbewerb einsetzt und alle ihre Grenzen unkoordiniert ins Netz tragen, wäre das globale Internet am Ende», glaubt Fehlinger.
Surfen nur noch mit Visum?
Nicht nur die auf einem offenen Netz beruhende weltweite Wirtschaft droht dann zu implodieren, junge globale Unternehmen wie der Kurznachrichtenservice Twitter oder die Blogplattform Tumblr könnten gar nicht mehr geboren werden angesichts teurer Eintrittsbarrieren wie der Verpflichtung, weltweit vor Ort Daten zu speichern. Für Bürger könnte sich gar die Vision des Google-Verwaltungsratspräsidenten Eric Schmidt bewahrheiten. Er hatte bereits Anfang 2013 vermutet, dass im Web eines Tages die Visumpflicht eingeführt werden könnte. Internetnutzer müssten sich dann bei staatlichen Stellen die Erlaubnis einholen, im Ausland zu surfen.
Noch heute lachen manche in den USA über den früheren Präsidenten George W. Bush, der vor wenigen Jahren wiederholt den Plural für das Internet benutzt hatte. Sein Begriff «the Internets» wurde zum geflügelten Wort. Mehrere Internets? Es schien ein Witz.
Wie nationale Grenzen im Netz aussehen, das weiss eigentlich jeder. Es sind die blockierten Videos, die in manchen Ländern abrufbar sind, in anderen nicht. Die automatischen Umleitungen, die plötzlich von einer «.com»-Adresse zu einer «.ch»-Adresse führen, ohne dass man sich dagegen wehren kann. Staaten und Unternehmen können den Standort von Usern ermitteln und Webinhalte regional sperren lassen. Wie in der physischen Welt sind Grenzen nicht immer sichtbar. Manches verschwindet einfach. Twitter blockiert eigenständig Tweets in gewissen Ländern, um dortigem Recht und dortigen Sitten zu folgen. China lässt Fehlermeldungen anzeigen bei verbotenen Inhalten. Google sucht dort so langsam, dass man lieber die landeseigene Suchmaschine Baidu benutzt – die linientreu vieles ausschliesst. Auf WeChat, der wichtigsten sozialen Plattform Chinas, werden Benutzer vor manchen Links gewarnt. So einfach funktionieren Grenzen im Internet.
Der erste Hinweis darauf, was mit dem Web derzeit passiert, kam Anfang Oktober 2013 aus der Hauptstadt Uruguays. Allerdings bekamen das nur ein paar Technologie-Blogs mit. In Montevideo hatten sich zehn der höchsten technischen Leiter des Internets zu einer ausserordentlichen Sitzung getroffen. Anwesend waren neben Vertretern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas auch der stets elegant auftretende Libanese Fadi Chehadé, Geschäftsführer der Icann, also jener Organisation, die den Platz im Netz kontrolliert, sowie der nüchterne Amerikaner Jeff Jaffe, Geschäftsführer des «World Wide Web Consortiums W3C», das mittels Bestimmung der technischen Standards die Naturgesetze des Webs erschafft. Aufgeregt diskutierte die Zehnergruppe hinter verschlossenen Türen, was die Erkenntnisse, dass das Web unterwandert wird, auslösen würden.
Die kleine Runde erkannte: Die Zukunft des Internets war unkontrollierbar geworden. Am 7. Oktober 2013 verfasste sie gemeinsam eine Warnung für die Weltöffentlichkeit: Es bestehe die Gefahr, dass das Internet zerfalle.
Technisch gesehen ist das Internet ein Netzwerk der Netzwerke, eine Reihe dezentral verteilter Inseln, die über Kabel miteinander verbunden sind, durch die sie mittels gemeinsamer Codes Daten austauschen. Was aus dem Web das WWW macht, ist, dass es weltweit offen und zugänglich ist. Dieser Aufbau macht es technisch auch so stabil. Doch auch wenn das Web Naturkatastrophen wie Fukushima überstehen kann – es hängt am Menschen. Ägyptens früherer Herrscher Mubarak beispielsweise schaltete es 2011 in seinem Land einfach ab, als es ihn störte. Er musste nur ein paar Knotenpunkte im eigenen Land ausknipsen.
«Wie konnten wir nur so naiv sein»
«Das Internet», hat Tim Berners Lee, einer der «Väter des Internets», einmal gesagt, «ist eher eine gesellschaftliche Erfindung als eine technische.» Daher ist es auch auf der menschlichen Ebene am zerbrechlichsten.
«Das Internet ist eine Vertrauensgemeinschaft», sagt Markus Kummer, Vizepräsident der Internet Society, eines Zentralverbandes der Internet-Gemeinschaft. Im Grunde besteht es aus einer Reihe loser Vereinbarungen, oft nicht schriftlich fixierter Verträge zwischen Organisationen, die sich um technische Fragen kümmern, Staaten, die rechtliche Interessen haben, und Unternehmen, wie den Internetanbietern Cablecom oder Deutsche Telekom. Vertrauen sei die Grundlage aller Verträge. Nun aber sei «die Vertrauenskette gebrochen». Jetzt folge die natürliche Reaktion nach dem Schock: «Man versucht sich zu schützen und zieht eine Mauer um sich.»
Globale Webdienste, die wie Google in der weltweiten Ökologie des bisherigen Internets gediehen, könnten am Beginn eines langen Existenzkampfs stehen und fürchten nun Verluste in Milliardenhöhe. Und es gibt jene, die an diesem neuen Protektionismus ein Interesse haben könnten. Profitieren könnten beispielsweise nationale Suchmaschinen, Websicherheits-Unternehmen oder Datenspeicher-Dienste. In der Schweiz hat die Swisscom vergangenen Oktober Überlegungen dazu geäussert, eine sichere Schweizer Datenwolke innerhalb der Landesgrenzen anzubieten. Profitieren würden auch die Staaten, sagt der bekannte englische Urheberrechtsanwalt Robert Carolina. «Das Internet ist schon lange fragmentiert.» Nun hätten die Staaten technisch aufgeholt und könnten Schutzpflichten gegenüber Bürgern und deren Eigentum endlich durchsetzen. Netzaktivisten wie Daniel Domscheit-Berg, früher bei der Enthüllungsplattform Wikileaks tätig, graut davor. «Was wir hier sehen, ist der Kampf der alten Ordnung gegen die neue Welt. Die Staaten wollen die Kontrolle zurück.»
Das Beharrungsvermögen der Gegenwart ist manchmal grösser als die Zugkraft der Zukunft. Wie gross war doch in den letzten Jahren das Klagen bei etablierten Unternehmen und Politikern über all die Veränderungen durch das Web! Nun sehen diese Kräfte ihre Zeit gekommen. Das Zeitalter der Netzutopien sei vorbei, meint Carolina. Es gebe keine Umkehr. «Eines Tages werden wir zurückdenken an diese Zeit, als wir glaubten, dass es keine Grenzen gebe im Netz. Und wir werden uns fragen, wie wir so naiv sein konnten damals.»
Paul Fehlinger will, wie so viele in der technischen Gemeinschaft des Webs, die Vision retten. Er glaubt, dass, wenn nur alle an einen Tisch kommen würden, ein neues Rechtssystem ausgehandelt werden könnte, um das Web zu retten. «Wir benötigen eine Art neuen Westfälischen Frieden; Mechanismen zur Vermittlung zwischen Staaten, Unternehmen und Nutzern, damit das Netz nicht nach geografischen Grenzen aufgeteilt wird.»
Andere glauben, die Zeit des WWW sei endgültig vorbei. Sie haben sich an die Arbeit gemacht, um neue Kabel und Verbindungslinien zu legen. Mesh-Nets (deutsch: vermaschte Netze) heissen beispielsweise die oft via Funk verbundenen Netzwerke aus privaten Computern, die sich mittlerweile in den USA, in Europa und Lateinamerika neuer Beliebtheit erfreuen. Jeder Computer wird zum Knotenpunkt, zentrale Datenleitungen existieren nicht mehr. Sie umgehen das alte Internet komplett. Sie sind neue Internets.
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