Die Magie der direkten Demokratie 
Das Volk als Staatsorgan kann für seine Entscheidungen nicht in die Verantwortung genommen werden.
Das Volk als Staatsorgan kann für seine Entscheidungen nicht in die Verantwortung genommen werden.
Von Andreas Auer 
Dass Regierungen gelegentlich das 
Volk an der Nase herumführen, gehört weltweit leider zum 
Allgemeinbestand an politischen Gepflogenheiten, die oft in den 
zynischen Befund münden, dass «die da oben immer machen, was sie 
wollen». Dass aber das Volk seine eigene Regierung an der Nase 
herumführen kann und dafür noch Lob erntet, ist eine Errungenschaft der 
schweizerischen Direktdemokratie. Man höre und staune: Nach dem Nein des
 Souveräns zum EWR im Dezember 1992 gelang es dem Bundesrat sieben Jahre
 später, nach langen und komplexen Verhandlungen mit der EU und den 
Mitgliedstaaten, die bilateralen Abkommen zu unterzeichnen, die vom Volk
 in mehreren Schüben genehmigt worden sind. Herzstück des ersten Pakets 
ist das Abkommen über die Personenfreizügigkeit von 1999. Der Bundesrat 
hat im Abstimmungskampf über die Masseneinwanderungsinitiative beherzt 
auf die nach seiner Ansicht negativen politischen und wirtschaftlichen 
Folgen einer Infragestellung der Personenfreizügigkeit mit der EU 
hingewiesen.
Nun hat eine denkbar knappe 
Mehrheit der an der Abstimmung vom 9.  Februar 2014 teilnehmenden 
Stimmbürger Ja gesagt zu dieser Volksinitiative und damit das 
staatsvertraglich gewährleistete Grundrecht der Personenfreizügigkeit 
durch den Grundsatz der Kontingentierung der Zahl der Bewilligungen für 
Ausländer ersetzt. Diesen Grundsatz hat nun derselbe Bundesrat nach 
innen mit einem Gesetzesentwurf und nach aussen mit Erklärungen und wenn
 möglich Verhandlungen umzusetzen. Eine demokratisch verfügte Kehrtwende
 also, in zwei Bereichen, die zu den Grundkompetenzen der Exekutive 
gehören: Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens und Führung der 
Aussenpolitik. Die Behörden müssen den Volksentscheid, den sie im 
Abstimmungskampf zu verhindern versuchten, nun gegen jegliche Kritik 
verteidigen. Regierung und Parlament sind in der direkten Demokratie dem
 Volk direkt verpflichtet.
Auch die Stimmbürger sind von 
diesem eigenartigen «chilling effect» der Volksabstimmung betroffen. Vor
 dem Urnengang durften sie das Anliegen der Initianten kritisieren, nach
 der Abstimmung aber verhallt jegliche inhaltliche Kritik am Resultat 
ins Leere. Kritik an einer Idee oder Vorlage setzt nämlich voraus, dass 
jemand dafür verantwortlich ist. Das Volk als Staatsorgan zeichnet sich 
nun aber vor allem darin aus, dass es für seine Entscheide nicht zur 
Rechenschaft gezogen werden kann. Denn wer sind sie denn, diese 1  463  
954 Stimmbürger, die mit einem Vorsprung von knapp 20  000 Stimmen das 
Resultat herbeigeführt haben? Niemand weiss es, und niemand darf es 
wissen. Und selbst wenn man es wüsste, könnten die Ja-Sager weder 
kollektiv noch individuell zur Rechenschaft gezogen werden.
Das Volk ist eine mathematische 
Konstruktion, eine der direkten Demokratie innewohnende Fiktion, denn 
die Summe jener Aktivbürger, die am Stichtag eine Mehrheit bilden, ist 
keine organische Gesamtheit und kann weder denken noch diskutieren, noch
 handeln. Die Rolle des Volkes im politischen Entscheidungsprozess ist 
gewaltig, denn ihm stehen die grundlegendsten Entscheide zu, nach denen 
sich Behörden und Bürger zu richten haben. Gleichzeitig aber beschränkt 
sie sich auf ein passives Ja oder Nein zu einer Vorlage, die immer ein 
anderes Organ - das Parlament oder die Initianten - ausgearbeitet hat. 
Von allen Staatsorganen ist das Volk das mächtigste, aber auch das 
abhängigste, denn für sich allein ist es hilf- und machtlos. Weil es 
zwar sehr konkrete und wichtige Entscheide trifft, aber nicht fassbar, 
nicht sichtbar, nicht greifbar ist, und sich auch nicht äussern kann, 
schwingen sich Politiker unverfroren zu seinem Sprachrohr auf.
Das Unvermögen des Volkes, für 
seine Entscheide Verantwortung zu übernehmen, obwohl Behörden und Bürger
 zur Erklärung des Abstimmungsresultats nur auf das Volk verweisen 
können, ist eigenartigerweise die Quelle seiner von keinem anderen 
Staatsorgan erreichten Legitimität. Direktdemokratische Entscheide 
werden allgemein als legitim erkannt und anerkannt, gerade weil sie 
nicht das Resultat einer politischen Mehrheit sind, die bis zu den 
nächsten Wahlen die Oberhand hat. Volksentscheide können nur akklamiert 
oder hingenommen werden; Kritik daran prallt ab an dem sie umhüllenden 
Mantel der Legitimität.
Dieser Legitimität ist es zu 
verdanken, dass in der Schweiz selbst die entschiedensten Befürworter 
der Personenfreizügigkeit nicht einmal daran denken, wegen des für sie 
so negativen Abstimmungsresultats vom 9.  Februar 2014 die direkte 
Demokratie grundsätzlich infrage zu stellen. Nicht so aber jenseits der 
Grenze, wo diese Form der Demokratie auf nationaler Ebene nicht 
existiert oder nicht so weit ausgebaut ist. Rechtspopulisten von nah und
 fern, die sich an Ausländerfeindlichkeit erlaben, begeistern sich 
plötzlich unverhohlen für Referenden und Volksinitiativen und erhoffen 
sich davon politische Gewinne auf ihrem bevorzugten Schlachtfeld. 
Liberale Kreise und Wirtschaftsvertreter hingegen, die dem Volk 
instinktiv ein gewisses Misstrauen entgegenbringen, finden im Schweizer 
Nein zur Personenfreizügigkeit ein willkommenes Argument, um sich einer 
«blauäugigen» Übernahme direktdemokratischer Institutionen mit Nachdruck
 zu widersetzen.
Die Häufigkeit von 
Volksabstimmungen in der Schweiz und die unvergleichbare Vielfalt ihrer 
Gegenstände bringen es mit sich, dass diejenigen Stimmbürger, die mit 
einer gewissen Regelmässigkeit daran teilnehmen - das sind nach neuesten
 Erhebungen mehr als 70 Prozent der Bürger -, gewohnt sind, sich einmal 
in der Lage der Verlierer und ein anderes Mal in der Rolle der Sieger zu
 finden. Sie unterliegen daher nicht der Versuchung, die direkte 
Demokratie aufgrund einzelner Resultate pauschal in den Himmel zu heben 
oder zu verdammen. Ihr Reiz, ihr Wert, ihre Einzigartigkeit liegen 
keineswegs in der besseren Qualität der getroffenen Entscheide, sondern 
ergeben sich aus der stets nur relativen Voraussehbarkeit des Resultats 
der Volksabstimmungen. Aufgrund der Unsicherheiten müssen sich 
Mehrheiten und Minderheiten verständigen, und darin liegt der Ursprung 
der vielbeschworenen Konsensdemokratie.
Letztlich ist die Frage, wem die 
Schweiz und ihre Vertragspartner den denkwürdigen Entscheid vom 9.  
Februar 2014 zu verdanken haben bzw. wer dafür einzustehen hat, ebenso 
müssig wie die fast schon verzweifelte Ergründung der Motive, die den 
Ausschlag gegeben haben mögen. Aus der umstrittenen SVP-Initiative ist 
eine unanfechtbare Verfassungsbestimmung geworden, die nun von den 
zuständigen Behörden - und nicht von den Initianten - ausgelegt und 
umgesetzt werden muss. Nach der gelassenen Überraschung der Sieger und 
dem betretenen Schweigen der Verlierer werden im nun anlaufenden Ringen 
um die konkrete Umsetzung der Verfassungsbestimmung umso harschere Töne 
angeschlagen. Vielleicht muss der Verfassungsgeber noch einmal über die 
Bücher, was politisch viel Staub aufwirbeln würde, rechtlich aber 
durchaus im Bereich des Möglichen liegt.
Denn die Magie der direkten Demokratie überlässt den Entscheid über die Gültigkeit eines Volksentscheids dem Volk selbst.
Andreas Auer ist em. Professor für Öffentliches Recht an der Universität Zürich und Konsulent Umbricht Rechtsanwälte.
Nota.
Die Verantwortlichtkeit der gewählten Verfassungsorgane beschränkt sich freilich darauf, beim nächsten Mal eventuell nicht wiedergewählt zu werde. Die Stimmbürger jedoch müssen alles, was das Volk entscheidet, selber ausbaden. Nicht jeder im selben Maße, und wer dagegen gestimmt hat, eventuell mehr als wer dafür war, wer kann das wissen? Aber so ist es mit der Volkssouveränität immer. Wer heute kreuzige! schreit, hat gestern vielleicht Hosianna gerufen, und war jedesmal bei der Mehrheit.
JE
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