aus scinexx
Wohlstand macht unzufriedener
In reichen Ländern wachsen mit dem Einkommen auch Neid und Frustration
Mehr Geld bedeutet nicht automatisch mehr Glück, im Gegenteil: In
reicheren Ländern nimmt die Zufriedenheit mit steigendem
Pro-Kopf-Einkommen sogar ab. Der Grund: Dort sorgen Neid und zu hohe
Erwartungen für Frustrationen, wie Forscher ermittelten. Das ist ab
einem Pro-Kopf-Einkommen oberhalb von 26.000 Euro pro Jahr der Fall -
auch Deutschland liegt über diesem Schwellenwert.
Je
mehr wir verdienen, desto glücklicher und zufriedener müssten wir
eigentlich sein. Denn dann könnten wir uns all die Dinge leisten, die
wir uns wünschen: gutes Essen teure Kleider und Wohnungen und luxuriöse
Urlaubsreisen. Tatsächlich gingen Forscher bisher davon aus, dass die
Zufriedenheit von Menschen mit steigendem Einkommen größer wird - aber
nur bis zu einer gewissen Grenze. In reicheren Ländern, so der
bisherigen Stand der Dinge, flacht sich die Kurve ab. Hier bringt mehr
Geld dann nur noch geringe Zuwächse an Zufriedenheit und irgendwann
macht das Geld gar keinen Unterschied mehr. Der
Wirtschaftswissenschaftler Eugenio Proto von der University of Warwick
und seine Kollegen haben diese Theorie nun nachgeprüft.
Geld macht zufriedener - in ärmeren Ländern
Dafür werteten die Forscher Daten von mehr als 50 Ländern zum jährlichen
Pro-Kopf-Einkommen unter Berücksichtigung der Kaukraftparität aus.
Diese Werte glichen sie mit den Ergebnissen des World Values Survey ab.
Diese umfangreichste weltweite Erhebung befragt seit 1990 regelmäßig
Menschen in bisher 80 Ländern zu deren Werten, Meinungen und
Befindlichkeiten. Auch Glück und Zufriedenheit wird in dem umfangreichen
Fragebogen auf verschiedene Weise erfragt. "Ob sich durch Wohlstand das
Glück eines Landes und seiner Bewohner erkaufen lässt, ist eine Frage,
die viele Regierungen beschäftigt", sagt Proto.
Die Ergebnisse bestätigten zunächst einige der Vorannahmen: Bei den
Bewohnern ärmerer Länder wächst mit dem Einkommen auch die
Zufriedenheit: Menschen in Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von
weniger als 5.000 Euro pro Jahr - dazu gehören beispielsweise
Indonesien, Pakistan und viele afrikanische Staaten - geben zwölf
Prozent seltener an, vollkommen zufrieden zu sein als Bewohner von
Ländern mit einem Pro-Kopf -Einkommen von 13.000 Euro. Schon ab 15.000
Euro pro Kopf und Jahr aber beginnt die Kurve allmählich abzuflachen,
zusätzliches Geld bringt dann nur noch wenig Glücksgewinn.
Neid frisst Glück
Überraschend aber war, was dann folgte: "Die Lebenszufriedenheit bleibt
ab einem bestimmten Wohlstand nicht gleich, sondern sie sinkt sogar
wieder ab - das wurde bisher noch nie nachgewiesen", konstatiert Proto.
In Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 26.500 Euro pro
Jahr gaben wieder weniger Befragte an, vollkommen zufrieden zu sein. Zu
diesen Ländern gehören neben Deutschland auch die meisten anderen
Industrieländer.
Die Forscher führen diese sinkende Zufriedenheit in den reichen Ländern
auf veränderte Erwartungen zurück: "Höhere Durchschnittseinkommen führen
auch zu höheren Erwartungen: Wenn wir überall um uns herum Wohlstand
und Chancen sehen, wollen wir mithalten", beschreibt Proto den Effekt.
Die dadurch entstehende Schwere zwischen Erwartungen und tatsächlichem
Einkommen nage dann an der Zufriedenheit. Das lehrt dann wohl zweierlei:
Neid frisst Glück und wer reich ist, ist noch lange nicht glücklicher.
(PLOS ONE, 2013; doi: 10.1371/journal.pone.0079358)
(PLOS ONE, 29.11.2013 - NPO)
Samstag, 30. November 2013
Freitag, 29. November 2013
Fünfundsiebzig Jahre Weltbürgerkrieg.
aus Der Standard, 30. 11. 2013
Ein Vater nicht nur missratener Kinder
Für den "Großen Krieg" 1914–1918 gilt mehr als für die meisten anderen Kriege, dass er der "Vater aller Dinge" sei, meinen namhafte Historiker. Eines seiner späten Kinder gibt Europa Frieden und Sicherheit.
von Josef Kirchengast
"Das versteh ich nicht! Na, ich versteh's wirklich nicht! So eine schöne Armee hamma g'habt. Da kann man sagen, was man will, das war die schönste Armee der Welt! Und was haben's g'macht mit dera Armee? In Krieg haben sie's g'schickt!"
Schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Monarchie kursierte dieser Graf-Bobby-Witz in Wien. Er bringt mit grimmigem Sarkasmus die Erkenntnis vieler hellsichtiger Zeitgenossen lange vor 1914 auf den Punkt: dass nämlich ein großer Krieg, in den die Armee des multiethnischen Habsburgerreiches hineingezogen wird, zugleich das Ende des Vielvölkerstaates bedeutet.
Darüber hinaus jedoch macht der Witz in seiner Absurdität das Aberwitzige einer Politik deutlich, die Kriegführen als legitimes politisches Mittel, ja als Politikersatz ansieht und dabei auch die ultimative Katastrophe in Kauf nimmt. Die Katastrophe, die im Sommer 1914 mit dem Attentat von Sarajevo begann, fand erst mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 ihr Ende. Ein 75-jähriger Krieg, auf bis dahin unvorstellbare Art grausam und opferreich und zwischenzeitlich auch unblutig, prägte das kurze 20. Jahrhundert. Manche Historiker nennen ihn einen europäischen Bürgerkrieg, manchen, wie Dan Diner, scheint die Metapher vom Weltbürgerkrieg noch angemessener.
Wohl keiner der politischen und militärischen Akteure von 1914 ahnte auch nur im Entferntesten, welche Entwicklung mit seinem Zutun ausgelöst würde. Erst der Rückblick macht klar, wie – scheinbar unvermeidlich – eines aus dem anderen folgte, bis 1945 halb Europa in Trümmern lag und danach noch ein halbes Jahrhundert im Kalten Krieg erstarrte.
Massentechnik der Gewalt
Es war eine ununterbrochene Orgie der Ismen: Imperialismus – Nationalismus – Revanchismus – Faschismus – Nationalsozialismus – Bolschewismus – Stalinismus. Das alles oft durchwoben mit der quasi historischen Konstante des Antisemitismus, dessen praktische Umsetzung mit dem Holocaust seinen unfassbaren Höhepunkt erreichte. Die industrielle Ermordung von Millionen Menschen hat – ungeachtet der Monstrosität dieses Verbrechens – wohl auch mit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zu tun, mit einer neuen Massentechnik der Gewalt, vom Maschinengewehr über den Panzer bis zum Giftgas. Der Gefreite Adolf Hitler erlebte einiges davon.
Für den Ersten Weltkrieg, der für Franzosen und Briten immer noch der "Große Krieg" ist, gelte mehr als für viele andere Kriege, dass er, nach dem Wort Heraklits, "der Vater aller Dinge" sei, schreibt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler im zweiten Band seines Monumentalwerks Geschichte des Westens. Winkler zitiert dazu einen Satz des deutschen Wirtschaftswissenschafters Moritz Julius Bonn aus dem Jahr 1925: "Der Große Krieg hat der Theorie der Gewalt zu einem überwältigenden Triumph verholfen."
War das alles wirklich unvermeidbar? Oder war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 in Sarajevo durch einen serbischen Attentäter sozusagen ein Betriebsunfall der Geschichte, die ansonsten ganz anders verlaufen wäre? Nach weitgehender Übereinstimmung unter den Historikern wäre es früher oder später auf jeden Fall zum Krieg zwischen der Habsburgermonarchie und Serbien gekommen. Den Rest kennen wir: eine Bündnisautomatik zwischen den Großmächten, die schon Vabanque-Charakter hatte, eine Haltung des "Alles oder nichts", die unbegrenzte Opfer an Menschenleben in Kauf nahm.
Winkler listet in seinem erwähnten Werk auf: 65 Millionen mobilisierte Soldaten, 8,5 Millionen Gefallene, über 21 Millionen Verwundete, 7,8 Millionen Kriegsgefangene und Vermisste, über fünf Millionen zivile Kriegstote in Europa ohne Russland. Und das war, mit Blick auf 1939–1945, nur der Anfang.
Es ist eine der großen Ironien der Geschichte, dass diese unerbittliche Automatik durch den deutsch-sowjetrussischen Separatfrieden von Brest-Litowsk im März 1918 nach der Machtübernahme der Bolschewiken im Oktober/November 1917 (je nach Kalender) unterbrochen wurde. Kurzfristig ging das Kalkül der Deutschen, die Lenin im plombierten Sonderzug nach Russland gebracht hatten, auf.
Damit war aber auch die Sowjetunion als späterer ideologischer Hauptgegner Hitlers und Ziel seines Unterwerfungs- und Vernichtungskrieges gegen den "jüdischen Bolschewismus" ab 1941 geboren. Der Sieg über Hitlerdeutschland brachte Stalin an den Gipfel seiner Macht (und lässt ihn als Mythos bis heute weiterleben), machte die Sowjetunion nunmehr zum großen ideologischen und imperialen Gegner des Westens und besiegelte die Teilung Europas für mehr als vier Jahrzehnte.
Die Großmächte von 1914 waren auf Krieg programmiert, weil sie sich davon mehr versprachen als vom Frieden. Was vorherrschte, war eine Stimmung des "Jetzt oder nie": Man müsse die Gunst der Stunde nutzen, um Probleme zu lösen, die sonst nur noch größer würden. Das galt für das Verhältnis zwischen der etablierten Weltmacht England und deren Herausforderer Deutschland; es galt für Frankreichs Hoffnung, die durch Deutschland erlittene Schmach von 1871 zu tilgen; es galt für die deutschen und russischen Ambitionen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa; und es galt für die österreichisch-serbische Rivalität auf dem Balkan.
Sprudelnde Konfliktquelle
Doch keines der Probleme, die sich bis 1914 aufgestaut hatten, wurde durch den Krieg gelöst. Mehr noch: Eine Hauptquelle der Konflikte begann erst richtig zu sprudeln. Der auch in Wien forschende US-Historiker Timothy Snyder meint sinngemäß, man habe versucht, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben: Kriegsauslöser sei die vom Balkan ausgehende Vorstellung von Nationalstaaten gewesen; die habe zur Auflösung der multinationalen Donaumonarchie geführt, und nach 1918 hätten die Alliierten diese "Lösung" auf den Großteil des übrigen Europa angewandt.
Aber das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das US-Präsident Woodrow Wilson nach Kriegsende verkündete, erwies sich, wiewohl gut gemeint, als untaugliches Instrument bei der Lösung von Nationalitätenkonflikten. Das zeigten schon die Friedensverträge mit Österreich und Ungarn. Im Fall Ungarns, das zwei Drittel seines Territoriums und drei Millionen Magyaren verlor, wirkt das bis heute nach und erklärt zumindest teilweise die nationalistische Renaissance unter Viktor Orbán.
Wider die Ismen
Imperialismus, Nationalismus, Revanchismus: Weder der 1920 gegründete Völkerbund noch seine 1945 etablierte Nachfolgerin Uno erwiesen sich als geeignete Institutionen, damit fertigzuwerden. 1952 erfolgte ein neuer Ansatz: Mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl begannen Frankreich und Deutschland, die historische Rivalität durch ein Kooperationsmodell aufzulösen. 60 Jahre später erhielt ihre Spätnachfolgerin, genannt Europäische Union, den Friedensnobelpreis. Und nicht wenige reagierten verwundert.
Unmittelbar geht die Gründung der EU auf die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zurück. In Wahrheit aber ist sie die in Werte, Regeln und Institutionen gegossene Lehre aus den Ursachen des "Großen Krieges" 1914–1918 und dessen, was folgte. Das bedeutet Konfliktlösung durch Interessenausgleich und Solidarität statt durch Gewalt. Dies kann nicht ohne zumindest teilweisen Verzicht auf nationale Souveränität gelingen.
In der Eurokrise hat die EU ihre bisher härteste Belastungsprobe, zumindest vorerst, bestanden. Aber nationalistische Aufwallungen in vielen Mitgliedsländern zeigen, dass die Geister von 1914 noch immer nicht gebannt sind.
Nota.
Das ist ein Schweinsgalopp durch das 20. Jahrhundert, doch richtig falsch ist eigentlich nichts darin. Aber ganz wirklich richtig ist dies: Es war ein "Weltbürgerkrieg", der im Sommer 1914 mit dem Attentat von Sarajevo begann und erst mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 sein Ende fand. Das ist so richtig, dass man es noch immer nicht oft genug wiederholen kann, und obwohl man es schon hin und wieder mal hört, noch längst nicht zu den Wahrheiten gehört, die der Wind durch die Binsen flüstert. 75 Jahre, länger hat das 20. Jahrhundert nicht gedauert, und noch immer stehen wir unter dem Eindruck, als hätte es ein gutes Jahrtausend aufgewogen. Jedenfalls war hinterher kaum noch was wie davor.
JE
Die menschliche Geschichte des Mittelmeers.
aus NZZ, 20. 11. 2013 F. Guardi, Die Lagune von Venedig mit dem Turm von Maghera
von Hans-Albrecht Koch · Der in Cambridge lehrende Historiker David Abulafia, der im deutschen Sprachraum einem grösseren Publikum vor allem durch die Übersetzung seiner Biografie des Stauferkaisers Friedrich II. bekannt geworden ist, erzählt seine Geschichte des Mittelmeers von den Rändern her: eine Schilderung all dessen, was an den Küsten - und nur an den Küsten - möglich war. Er erzählt also vor allem davon, wie dieses grosse europäische Meer, für das die Römer den Namen «Mare nostrum» benutzten, der ihren Herrschaftsanspruch hervorhob, und das die Italiener mit einem die Brückenfunktion zwischen Ländern betonenden Namen «Mediterraneo» nennen, das Schicksal seiner Anrainer im Guten wie im Schlechten bestimmte, in Austausch und Verkehr nicht minder als in Krieg und Raub.
Auch wer sich mit dem «Historia docet» schwertut, wird über den vielen Déjà-vu-Effekten in Abulafias so gelehrter wie anschaulicher Erzählung von über dreitausend Jahren nachdenklich werden. Darunter finden sich - um nur zwei Beispiele zu nennen - die Brückenfunktion der süditalienischen Inseln für die Migration afrikanischer Einwohner ebenso wie die Plage des Seeräuberunwesens, mit dessen endlich erfolgreicher Bekämpfung sich einst Cäsars Zeitgenosse Gnaeus Pompeius Magnus grossen Ruhm erworben hatte, das aber auch später die Geschichte des Mittelmeerraums auf ganz verschiedene Weise bestimmte: sei es als Piraterie im Dienste muslimischer Herrscher wie des Emirs von Andalusien, sei es in der Form christlicher Seeräuber aus dem Orden der Hospitaliter.
Das Medium des Wassers
Der britische Historiker David Abulafia erzählt die «menschliche» Geschichte des Mittelmeers
Der britische Historiker David Abulafia erzählt die «menschliche» Geschichte des Mittelmeers
von Hans-Albrecht Koch · Der in Cambridge lehrende Historiker David Abulafia, der im deutschen Sprachraum einem grösseren Publikum vor allem durch die Übersetzung seiner Biografie des Stauferkaisers Friedrich II. bekannt geworden ist, erzählt seine Geschichte des Mittelmeers von den Rändern her: eine Schilderung all dessen, was an den Küsten - und nur an den Küsten - möglich war. Er erzählt also vor allem davon, wie dieses grosse europäische Meer, für das die Römer den Namen «Mare nostrum» benutzten, der ihren Herrschaftsanspruch hervorhob, und das die Italiener mit einem die Brückenfunktion zwischen Ländern betonenden Namen «Mediterraneo» nennen, das Schicksal seiner Anrainer im Guten wie im Schlechten bestimmte, in Austausch und Verkehr nicht minder als in Krieg und Raub.
«Historia docet»
Über das Mittelmeer gelangte das
Getreide aus Ägypten, der antiken Kornkammer, nach Rom, darauf spielte
sich der Handel mit Metallen, Gewürzen, Purpur, Seide ab, bis hin zum
ausgedehnten Sklavenhandel, von der Antike bis ins 18., teilweise bis
ins 19. Jahrhundert. Das Mittelmeer war die Verkehrsader, die es einer
griechischen Polis wie Korinth ermöglichte, eine Kolonie wie Syrakus zu
gründen; es war gleichsam die Plattform, auf der sich nach dem Tod
Alexanders des Grossen der Hellenismus ausbreitete - eine Globalisierung
avant la lettre. Auf dem Mittelmeer setzte sich Rom gegen Karthago
durch; es war der Schauplatz, auf dem Griechen, Römer und Juden einander
- bald aufgeschlossener, bald misstrauischer - begegneten; darüber
führte in der Spätantike, ab Konstantin dem Grossen, der Siegeszug des
Christentums. Über das Mittelmeer ging die Fahrt, als die Venezianer 828
die Gebeine des heiligen Markus für ihren Dom aus Alexandria raubten;
darüber brachten Kaufleute aus Bari 1087 die Gebeine des heiligen
Nikolaus von Myra in ihre Stadt.
David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biographie.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 859 S., Fr. 45.90.
Auch wer sich mit dem «Historia docet» schwertut, wird über den vielen Déjà-vu-Effekten in Abulafias so gelehrter wie anschaulicher Erzählung von über dreitausend Jahren nachdenklich werden. Darunter finden sich - um nur zwei Beispiele zu nennen - die Brückenfunktion der süditalienischen Inseln für die Migration afrikanischer Einwohner ebenso wie die Plage des Seeräuberunwesens, mit dessen endlich erfolgreicher Bekämpfung sich einst Cäsars Zeitgenosse Gnaeus Pompeius Magnus grossen Ruhm erworben hatte, das aber auch später die Geschichte des Mittelmeerraums auf ganz verschiedene Weise bestimmte: sei es als Piraterie im Dienste muslimischer Herrscher wie des Emirs von Andalusien, sei es in der Form christlicher Seeräuber aus dem Orden der Hospitaliter.
Abulafias eigene Forschungen
gelten vor allem der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte. Das kommt
der Darstellung wirtschaftlicher Aspekte der Kreuzzüge genauso zugute
wie der Schilderung der Wiederbelebung von Amalfis Handel mit Kairo nach
der Niederlage der Stadt im blutigen Konkurrenzkampf mit Pisa.
Überhaupt hat der Verfasser einen Sinn dafür, wie sich grosse
Zusammenhänge in Details spiegeln, ob er von der Konkurrenz der
Handelsstädte Venedig und Genua schreibt oder von der Vermittlung
arabischer Wissenschaft nach Europa am Hof Friedrichs II. zu Palermo.
Die Welt der homerischen Epen der
griechischen Antike lässt der Autor vor unseren Augen ebenso lebendig
werden wie die von Söldnern und Missionaren des christlichen
Mittelmeerraums, er führt seine Leser zu den gelehrten Vermittlern
arabischer Kultur ebenso wie zu osmanischen Deys, Beys und Paschas und
lenkt schliesslich für das 19. und frühe 20. Jahrhundert den Blick
darauf, wie Archäologen und Historiker durch die wissenschaftliche
Erschliessung des griechischen Altertums den Mittelmeerraum in einem
neuen Spiegel zu sehen gelehrt haben, wie gleichsam ein zweites
historisch fundiertes Griechenland entstanden ist.
Was das 20. Jahrhundert angeht,
so widmet sich das Buch vor allem zwei Themen. Es schildert zum einen am
Geschick der Städte Saloniki, Smyrna, Alexandria, Jaffa und
Konstantinopel, welche fatalen Folgen die Blindheit der siegreichen
Besatzungsmächte gegenüber historisch gewachsenen Strukturen hatte, sei
es, dass der englische Premierminister Lloyd George den türkischen
Politiker Kemal als einen Teppichhändler titulierte, sei es, dass man
nicht verstand, wieso sich die Zehntausende griechischen, jüdischen,
italienischen, koptischen und türkischen Einwohner von «Alexandria ad
Aegyptum» als Bewohner einer Stadt «bei», nicht «in» Ägypten verstanden,
deren Architektur, Literatur und Kaffeehauskultur gesamteuropäischen
Charakter hatte. Das zweite Thema ist das territorialpolitische Chaos,
das nach dem Ersten Weltkrieg durch konträre Positionen Englands und
Frankreichs, durch die italienische Besetzung Äthiopiens und durch die
deutschen Kriegshandlungen in Ägypten, Libyen, Tunesien entstand.
Das eine oder andere hätte sich
Abulafias grosser Erzählung vielleicht noch hinzufügen lassen: etwa wie
der protestantische Condottiere Johann Matthias von der Schulenburg,
nach langen Verhandlungen mit den knauserigen Herren der Serenissima
endlich doch Kommandant der venezianischen Festung Korfu geworden, 1716
mit seiner Verteidigung der Insel gegen die osmanischen Angriffe dem
Prinzen Eugen seine Siege zu Land recht eigentlich erst ermöglichte.
Auch das Leben des im französischen Algerien aufgewachsenen Albert
Camus, der lange Zeit in unmittelbarer Berührung mit Sprache und Kultur
der Araber und Berber lebte, wäre thematisch mehr als einschlägig.
Anders als Braudel
In souveräner Zusammenschau weist
Abulafia seinen Lesern Wege durch einen der bedeutendsten Räume der
Weltgeschichte, in einer Sprache, deren Anschaulichkeit sich auch in der
Übersetzung noch spiegelt, und in Kapiteln von so vernünftig
geschnittener Länge, dass die Lektüre trotz insgesamt grossem Umfang zu
einer höchst vergnüglichen Belehrung wird. Der Originaltitel «A Human
History of the Mediterranean» gibt den Inhalt viel treffender wieder als
der wenig glückliche deutsche Titelzusatz «Eine Biografie», der wohl
einem unterstellten Interesse des Publikums an allem Biografischen
geschuldet ist. Dass die «menschliche» Geschichte des Mittelmeerraums
Abulafias Thema ist, darf übrigens als Kontrapunkt zu dem berühmten Werk
Fernand Braudels über die mediterrane Welt in der Zeit Philipps II.
verstanden werden, das den Blick auf Strukturen und Zyklen konzentriert
und dem menschlichen Handeln sowie der Ereignisgeschichte wenig
Bedeutung beimisst. Während Braudel methodisch ein Begriffsgerüst «wie
einen Förderturm über die diffuse Masse der Geschichte» setzt, «um aus
ihr Erkenntnis zu ziehen» (Volker Reinhardt), schreibt David Abulafia
die gewonnenen Einsichten in eine Erzählung um, die den Begriff wieder
in der Gestalt anschaulich werden lässt.
Donnerstag, 28. November 2013
Piraten in der Antike.
Dr. Nina Diezemann
Stabsstelle für Presse und Kommunikation
Freie Universität Berlin
28.11.2013 12:16
Formen der Seeherrschaft in verschiedenen antiken Kulturen stehen im Mittelpunkt einer internationalen Tagung des Exzellenzclusters Topoi vom 12. bis 14. Dezember an der Freien Universität Berlin. Die Teilnehmer betrachten etwa die Strategien verschiedener Seemächte wie Athen oder Rom, das Mittelmeer als Raum sowie Piraterie als definitorisches Moment von Seeherrschaft. Ziel ist es, ein komplexes Bild antiker Wahrnehmung und Organisation von Herrschaftsgebieten zu Wasser zu entwickeln. Die Tagung ist öffentlich, der Eintritt frei. Tagungssprachen sind deutsch und englisch.
Das Meer als zu beherrschender Raum spielte eine entscheidende Rolle in den Strategien antiker Reiche. Dennoch wurden Seeherrschaftskonzeptionen und die strategische Bedeutung des Meeres bislang kaum systematisch erforscht - im Unterschied zu Herrschaftsformen zu Land. Die Wissenschaftler möchten mit dem Kongress dazu beitragen, ein differenziertes Bild von Seeherrschaft zu entwickeln und Begriffe wie "Thalassokratie" - wörtlich "Meeres-Herrschaft" - zu überprüfen. Dazu wird nicht nur das Phänomen der Seeherrschaft in der griechischen und römischen Geschichte untersucht, sondern auch Vergleiche mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Formen von Seemacht gezogen. Konzipiert wurde die Veranstaltung von den Professoren für Alte Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Ernst Baltrusch und Christian Wendt, sowie von Hans Kopp, Promotionsstipendiat des Exzellenzclusters Topoi.
Die räumliche Ordnung von Macht in der Antike ist Teil des Forschungsprogramms des Exzellenzclusters Topoi, einem gemeinsamen Forschungsverbund von Freier Universität Berlin und Humbold-Universität zu Berlin in Kooperation mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, dem Deutschen Archäologischen Institut, dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. In dem Verbund arbeiten Institutionen-übergreifend Wissenschaftler aus mehr als 30 Disziplinen zusammen. Im Zentrum steht dabei der Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Raumordnungen und Wissen im Altertum.
Zeit und Ort
Donnerstag, der 12. bis Samstag, der 14. Dezember, Beginn am Donnerstag um 14 Uhr.
Topoi-Haus, Freie Universität Berlin, Hittorfstraße 18, 14195 Berlin, U-Bahnhof Thielplatz (U3), Bus M11, 110.
Weitere Informationen
Dr. Nina Diezemann, Presse und Kommunikation, Freie Universität Berlin, Telefon 030 / 838-73190, E-Mail: nina.diezemann@fu-berlin.de
Weitere Informationen:
http://www.topoi.orghttp://www.topoi.org/event/21183/
Mittwoch, 27. November 2013
Was vom Kolonialismus bleibt.
aus NZZ, 26. 11. 2013 Statue of Lord Kitchener, being erected in Khartoum —Sidney March sculptor. 1912
Patrick Ziltener ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Zürich und betreibt wirtschafts- und entwicklungssoziologische Forschungen.
Die langfristigen Folgen des Kolonialismus
Ob sich die Kolonialzeit eher negativ, eher positiv oder nur minimal auf ein Land auswirkt, hängt von diversen Faktoren ab: dem Gewaltniveau der Fremdherrschaft, der Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen, der Ausbeutung und den mehr oder weniger konfliktträchtigen Grenzziehungen.
Von Patrick Ziltener
Historisch waren sich Befürworter wie Gegner des Kolonialismus darin einig, dass Kolonialherrschaft einen grossen Einfluss auf die unterworfenen Gesellschaften ausgeübt hat - allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen. Der Historiker Jürgen Osterhammel spricht vom Kolonialismus insgesamt aber als einem «Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit». In vielen Weltgegenden war die flächendeckende Kolonialherrschaft zudem eine zeitlich eng befristete und wenig effektive Herrschaftsform. Es gibt aber auch Länder und Regionen, die von kolonial induzierten Prozessen tiefgreifend verändert und in ihrer heutigen Form erst eigentlich erschaffen wurden, etwa dort, wo grossflächige Rohstoffförderung und Plantagenwirtschaft sowie umfangreiche Migrationsströme zusammenwirkten, wie in Malaysia oder Südafrika.
Ob sich die Kolonialzeit eher negativ, eher positiv oder nur minimal auf ein Land auswirkt, hängt von diversen Faktoren ab: dem Gewaltniveau der Fremdherrschaft, der Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen, der Ausbeutung und den mehr oder weniger konfliktträchtigen Grenzziehungen.
Von Patrick Ziltener
Historisch waren sich Befürworter wie Gegner des Kolonialismus darin einig, dass Kolonialherrschaft einen grossen Einfluss auf die unterworfenen Gesellschaften ausgeübt hat - allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen. Der Historiker Jürgen Osterhammel spricht vom Kolonialismus insgesamt aber als einem «Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit». In vielen Weltgegenden war die flächendeckende Kolonialherrschaft zudem eine zeitlich eng befristete und wenig effektive Herrschaftsform. Es gibt aber auch Länder und Regionen, die von kolonial induzierten Prozessen tiefgreifend verändert und in ihrer heutigen Form erst eigentlich erschaffen wurden, etwa dort, wo grossflächige Rohstoffförderung und Plantagenwirtschaft sowie umfangreiche Migrationsströme zusammenwirkten, wie in Malaysia oder Südafrika.
Besteuerung, Schulbildung, Verletzungen
Was lässt sich ein halbes
Jahrhundert nach der Entkolonisierungswelle der 1960er Jahre über die
langfristigen Wirkungen des Kolonialismus sagen? Ein Forschungsprojekt
am Soziologischen Institut der Universität Zürich hat dies anhand von 83
Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens untersucht. In diesen Ländern
lebten Ende des 20. Jahrhunderts etwa 73 Prozent der Weltbevölkerung.
Erwartet haben wir, dass die
langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kolonialismus vor
allem dort nachhaltig sind, wo die Lokalgesellschaften tiefgreifend
transformiert wurden. Dies ist nicht der Fall: Unter den solchermassen
veränderten Gesellschaften finden sich sowohl erfolgreiche als auch
wirtschaftlich stagnierende oder zerfallende Länder. Folgende Länder
wurden in unserer Untersuchung als am tiefgreifendsten kolonial
umgestaltet definiert: Südafrika, Kenya, Simbabwe, Angola und
Guinea-Bissau in Afrika, Indonesien, Indien, Kambodscha, Myanmar und die
Philippinen in Asien - Länder mit sehr unterschiedlicher postkolonialer
Entwicklungsdynamik.
Massgeblich ist nicht die
Transformationstiefe, sondern es müssen andere Aspekte des Kolonialismus
langfristig wirksam sein - bestimmte Faktoren wie der Abfluss
finanzieller Ressourcen, brutale Besteuerungssysteme oder
sozialpsychologische Verletzungen. Solche Faktoren zu vergleichen, ist
allerdings schwierig. Gleichwohl gelang es, dreizehn Indikatoren zu
finden, mit denen sich der Einfluss kolonialer Faktoren auf die
postkoloniale Entwicklung Afrikas, Asiens und Ozeaniens statistisch
überprüfen lässt. Sie reichen von der unterschiedlichen kolonialen
Herrschaftsintensität und dem damit verbundenen Gewaltniveau, der
Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen, der
Investitions- oder Handelsumlenkung, Missionierung und Arbeitsmigration
bis hin zu mehr oder weniger absurden kolonialen Grenzziehungen. Die
statistischen Ergebnisse zeigen, dass - wie zu erwarten - die
wirtschaftliche und gesellschaftliche Prägekraft des Kolonialismus nach
der politischen Unabhängigkeit langsam abnimmt. Am ehesten lässt sich
eine nachhaltige Wirkung der kolonialzeitlichen Schulbildung nachweisen.
Die interessantesten Ergebnisse
unserer statistischen Modelle fanden sich jedoch im politischen Bereich:
Die Überlebenschancen postkolonialer Demokratien werden von der Dauer
der Kolonialisierung beeinflusst: Je direkter und je kürzer die
koloniale Herrschaft, desto geringer die Chancen für Demokratie, wobei
das Niveau der kolonialen Schulbildung diesem Effekt positiv
entgegenwirkt.
Fatale Folgen der Gewalt
Vor allem aber schälte sich ein
fundamentaler Zusammenhang heraus: Gute Regierungsführung hängt eng mit
dem kolonialen Gewaltniveau und der Organisation der Entkolonisierung
zusammen, und zwar unabhängig vom Ausmass der kolonialen Transformation.
War die Entkolonisierung ein ungeregelter, gewaltförmiger,
katastrophischer Prozess, sind die Chancen für die Etablierung guter
Regierungsführung bis heute nachhaltig beschädigt. Dieses Ergebnis ist
statistisch robust, unter Kontrolle zahlreicher anderer,
nichtkolonialbedingter Faktoren wie Geografie, vorkoloniale Verhältnisse
usw. Die Bedeutung der jeweiligen Kolonialmacht (zum Beispiel
Grossbritannien contra Frankreich), auf die sich die Forschung bisher
konzentrierte, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Der blosse Hinweis
auf national unterschiedliche Stile kolonialer Verwaltung erfasst nicht
die Inhalte, um die es wirklich geht, wie begrenzter Gewalteinsatz,
geordneter Machttransfer, weniger Handelsumlenkung. Tatsächlich fand
aber die Ausbildung einheimischer Beamter, die Absicherung des
Rechtssystems und eine geordnete Machtübergabe häufiger in britischen
Kolonien statt als in anderen. Auch die Bedeutung des Faktors
Grenzziehung ist zu relativieren. Erstens gibt es keine «vernünftigen»
Grenzen, ausser vielleicht unüberwindbare Hochgebirgszüge. Die
politische Ausgestaltung der Aussenwirtschaftsbeziehungen ist viel
relevanter. Erst eine schlechte Wirtschaftspolitik führt zur Aufspaltung
funktionaler Wirtschaftsräume und zu wirtschaftlich negativen Effekten.
Zweitens ist das «Zusammenwerfen» verschiedener ethnischer und
religiöser Gruppen in einen kolonialen Staat manchmal fataler als ihre
Trennung. Langfristiges Unheil kann man vor allem mit der
kolonialherrschaftlichen Instrumentalisierung ethnischer und religiöser
Spaltungen anrichten, zum Beispiel mit der Bevorzugung von Christen in
der Verwaltung, von Chinesen für die Steuereintreibung oder mit der
Missionierung von kriegerischen «Bergstämmen» und ihrem Einsatz in der
Kolonialarmee und -polizei.
Wir finden also Belege, dass der
Kolonialismus auch ein halbes Jahrhundert nach der Dekolonisierung einen
Einfluss auf Regierung, Staat und damit Lebenschancen ausübt. Es wäre
voreilig, den Westen aus seiner historischen Verantwortung für die
massgeblich von ihm geschaffene globale politische Vergesellschaftung zu
entlassen.
Patrick Ziltener ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Zürich und betreibt wirtschafts- und entwicklungssoziologische Forschungen.
Dienstag, 26. November 2013
Domestiziert durch Alkohol.
Uwe Schlick, pixelio.de
Unglaublich, dass ich diesen Artikel seinerzeit übersehen konnte! Und das Buch, von dem er berichtet, ist sogar schon fünf Jahre alt. Zunächst einmal ist die aufgestellte These über die wahre Ursache des als "neolithische Revolution" verklärten Übergangs unserer jagenden Vorfahren zu Arbeit und Sesshaftigkeit sehr lustig, namentlich für Leute, die im lutherischen Flachdeutschland großgeworden sind.
Aber außerdem muss sie völlig ernst genommen werden. Tatsächlich liegen die Motive, die unsere Vorfahren bewogen haben könnten, das abwechslungsreiche Wanderleben gegen eintöniges Hocken am Platz einzutauschen, ganz im Dunkeln. Viel größere Sicherheit erreichten sie dadurch nicht, denn sie waren den Überfällen der Nomaden ausgeliefert. Die ersten Mauern hat sich Jericho wohl erst nach zweitausend Jahren gegeben. Und ernährungshygienisch war es eine Verarmung, der Getreidekonsum führte zu Mangelernährung. Und solange das Getreide nur geerntet, nicht aber gesät wurde, können die Erträge unmöglich gereicht haben, um die gewohnte Diät zu ersetzen.
Andererseits hatten die Jäger auch keine Möglichkeit, gelegentliche Nahrungsüberschüsse anders zu verwerten als im Fest. Und so gewinnt die neue Theorie schon Plausibilität. Wenn man dazu noch Johan Huizingas These vom Homo ludens denkt, ergibt sich ein rundes Bild...
aus Süddeutsche.de, 17. Mai 2010 21:49
Am Anfang war die Party
Dem Biologen Josef H. Reichholf zufolge war die Sesshaftigkeit des Menschen nicht in der Fleisch-Knappheit begründet - sondern im kollektiven Besäufnis.
Von Johan Schloemann
Also haben sich die Menschen in der Nacheiszeit, die grob vor 12.000 Jahren begann, zu gemeinschaftlichen Fleisch-Gelagen verabredet. Der Ertrag des wilden, noch nicht gezüchteten Getreides reichte auch gar nicht aus, um sie hinreichend zu ernähren. Aber diese frühen Menschen hatten, nach dem Vorbild überreifer Beeren und Früchte, die Gärung entdeckt: Sie rührten die Getreidekörner zu einem alkoholischen Gebräu an und erkannten dessen berauschende Wirkung.
Der erste Zweck des Getreides, das erst in der Folge zu einer effektiven Nahrungsquelle kultiviert wurde, war ein frühes Bier, das aus dem Fleisch-Fest ein kultisches Begängnis machte. Oder in noch kürzerer Fassung, und je nach Präferenz: Am Anfang war die Dinner-Party. Am Anfang war das Oktoberfest.
Widerspruch zu geläufigen Erklärungen der Kulturentstehung
Der Schöpfer des geselligen Szenarios aber ist, obschon ein Bayer, aus ganz nüchternen Überlegungen zu diesem Modell gekommen. Es widerspricht den geläufigen Erklärungen der Kulturentstehung fundamental und müsste, wenn man ihm folgt, die Forschungen über unsere Evolution und Prähistorie, einschließlich der Religionsgeschichte, in eine ganz neue Richtung lenken.
Es ist der bekannte Naturhistoriker und Ökologe Josef H. Reichholf, der diese Theorie aufstellt, in seinem soeben erschienenen Buch "Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte" (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008, 315 Seiten, 19,90 Euro).
Reichholf hatte zuletzt im vergangenen Jahr mit seiner "Kurzen Geschichte des letzten Jahrtausends" für Aufsehen gesorgt und den Preis der Darmstädter Akademie für wissenschaftliche Prosa erhalten. Schritt für Schritt, und ohne erkennbaren Einfluss von Genussstoffen, nähert er sich nun anhand von erd- und klimageschichtlichen, botanischen, zoologischen und humanevolutionären Beobachtungen seinem dionysischen Befund.
Wechsel von der Pflanzenkost zum Fleisch
Da sind zunächst die anthropologischen Grundlagen. Heute bedroht bekanntlich der nicht endende Fleischhunger der wachsenden Menschheit sowohl die unbewirtschaftete Natur als auch die Ernährung der Armen.
Dieser Fleischhunger hat tiefe Wurzeln: Wir begegnen unserem Vorfahren, der vor sechs bis sieben Millionen Jahren mit aufrechtem Gang in die Savanne trat und sich zu einem exzellenten Jäger entwickelte.
Er wechselte, so zeichnet Reichholf das Bild, von der Pflanzenkost des Urwalds zum Fleisch; er ist im Ergebnis eine einzigartige Kombination aus Sprinter und Dauerläufer, denn der schwach behaarte, nackte Mensch hat nicht nur einen schnellen Antritt, sondern durchs Schwitzen auch die beste nur vorstellbare Kühlung und kann dadurch lange Distanzen rasch überwinden; und er erfindet das Jagen mit Waffen aus der Ferne, weshalb er anderen Raubtieren überlegen ist.
Evolutionär entscheidend ist der Fortpflanzungserfolg, die menschentypische "Erhöhung der Zahl der Kinder und Verlängerung der Betreuungsdauer des Nachwuchses". So wird auch das Gruppenleben durch die Versorgung der Mütter gestärkt.
Dafür aber, gerade auch für die Entwicklung des großen Gehirns, brauchten die Mütter und Kinder der Frühzeit vorrangig Proteine. Also Fleisch. Das galt erst recht, als der Homo erectus aus Afrika in die nördlichen Eiszeitgebiete wanderte; immerhin hat er es rund anderthalb Millionen Jahre dort, außerhalb seiner warmen tropischen Heimat, ausgehalten.
Durch die eiskalten Winter können damals, wie Reichholf vorrechnet, nur Tierfelle und Fleischvorräte gerettet haben; Pflanzen, Beeren, Pilze waren bloß ein schwaches Zubrot und halfen allenfalls über kleinere Versorgungslücken. Die "Jäger und Sammler" waren, in existenzieller Hinsicht: Jäger.
Vor rund 70.000 Jahren wanderten die ersten Menschen unserer Art im engeren Sinne aus Afrika nach Vorderasien. Später dann, nach dem Rückzug des Eises, setzt Josef Reichholf eine Parallele zu dem früheren Szenario in Afrika an: Auf dem Weg hin zur landwirtschaftlichen Sesshaftigkeit, die zuerst im sogenannten Fruchtbaren Halbmond nachweisbar ist, habe wieder das Fleisch die zentrale Rolle gespielt und das Pflanzenreich zunächst nur als Supplement gedient.
Vor der Versteppung der Sahara um 2500 vor Christus gab es demnach eine wildreiche Savanne, die sich über die Arabische Halbinsel erstreckte, über Mesopotamien und die Gebiete Persiens, die heute Wüste oder Halbwüste sind.
Für die gängige Hypothese eines akuten Mangels an Jagdwild, der, kombiniert mit Bevölkerungsdruck, den menschlichen Ackerbau erzwungen haben müsse, sieht Reichholf keinerlei Belege.
Am Anfang war die Party
"Warum sollte ausgerechnet dort, wo die passenden Wildpflanzen wuchsen, aus denen Getreide werden konnte, das Wild so selten geworden sein?" Denn: "Wo gutes Gras wächst, sammelt sich auch das Wild." Es sei auch prinzipiell falsch, "Fortschritte" des Menschen immer nur durch Ressourcenknappheit und Existenzangst zu begründen.
Dann kam die Fleischparty
Vielmehr stehe am Beginn der schrittweisen Domestikation der Überfluss an Tieren: Man begann - natürlicherweise nur, weil es genug davon gab -, die Tiere nicht gleich aufzuessen, sondern mit der Zeit die Wildformen von Schafen, Rindern und Ziegen als "lebende Fleischreserve" zu fangen und zu halten. "Zähmung und Züchtung", so Reichholf, "erfolgten nicht der Not gehorchend."
Und dann kam die Fleischparty. Jene beginnende Vorratswirtschaft in einer noch wesentlich nomadischen Kultur habe sich gewissermaßen in kollektiven Feiermahlzeiten entladen.
Josef Reichholf verweist hier auf Funde wie die erst unlängst entdeckte, bisher älteste menschliche Kultstätte von Göbleki Tepe in Anatolien, die mindestens 12.000 Jahre alt ist; dort finden sich Reliefs von Wildtieren. Und solche Kultereignisse seien eben auch große Besäufnisse gewesen, für die das Getreide ursprünglich verwendet worden sei.
In der Tat hängen ja Rausch und religiöse Transzendenz in vielen Kulturen zusammen; für die Exstase zuständige Priester oder Schamanen kennen sich mit Zauberformeln, Geheimsprache und halluzinogenen Pilzen aus - oder, wie in diesem kulturentscheidenen Fall, mit dem Rezept fürs Bier.
Auf frühen sumerischen Darstellungen sieht man Menschen feierlich mit Strohhalmen aus Tonkrügen trinken, das würde zum ungefilterten Bierbrei der Frühzeit passen; ähnliche Praktiken sollen durch Wanderungen über die Beringstraße bis zu den südamerikanischen Indios gelangt sein, wo das "Chicha"-Bier in Amazonien durch Spucke zum Gären gebracht wird.
Die Aborigines sind hingegen vor mindestens 40.000 Jahren nach Australien gelangt und haben nicht nur keine Nutzpflanzen oder -tiere entwickelt, sondern auch nicht die geringste Alkoholverträglichkeit.
Erst das Bier, dann davon ausgehend das planmäßig angebaute Getreide, dann erst die Sesshaftigkeit (und Städte und Kriege und so weiter) - das ist Josef Reichholfs spektakulärer neuer Vorschlag für den Ursprung der "neolithischen Revolution", den er mit atemberaubendem Überblick über die Wissensfelder und zugleich großer geistiger Unabhängigkeit erreicht, und das in vorbildlich zugänglicher Sprache.
Es wird, es muss Einwände geben: Die Erklärung könnte zu monokausal sein. Die Religionsgeschichte kann Zweifel an der These anmelden, ob mythische Welten, ob Götter und Geister tatsächlich erst, wie Reichholf andeutet, durch den Rausch entstanden sind, sowie die Berücksichtigung der diversen Theorien des Opfers einfordern, die bei Reichholf fehlen.
Auch die von ihm verwendete Verknüpfung von Genetik und Sprachfamilien (nach L.L. Cavalli-Sforza) ist höchst umstritten. Aber Josef Reichholfs Theorie ist ein genialer Denkanstoß, der das berührt, was noch in jedem von uns stecken mag. Prost.
Montag, 25. November 2013
Russlands Landwirtschaft.
aus NZZ, 22. 11. 2013 Kollektivierung
Der Fluch der Kolchosen
Während der Modernisierungsdruck auf Russlands Landwirtschaft steigt, machen sich alte Versäumnisse bitter bemerkbar
Das sowjetische Erbe lässt Russlands Landwirtschaft um internationalen Anschluss ringen. Ackerbau und Viehzucht im grössten Land der Erde haben Potenzial, aber es fehlen Kapital, Konsolidierung und Effizienz.
Während der Modernisierungsdruck auf Russlands Landwirtschaft steigt, machen sich alte Versäumnisse bitter bemerkbar
Das sowjetische Erbe lässt Russlands Landwirtschaft um internationalen Anschluss ringen. Ackerbau und Viehzucht im grössten Land der Erde haben Potenzial, aber es fehlen Kapital, Konsolidierung und Effizienz.
von Benjamin Triebe, Ust-Labinsk
Die Sowjetunion grüsst von den
Wänden, aber Ljudmila Demjanenko redet von Wettbewerb. Wenn sich eine
Zuckerfabrik nicht modernisiere, müsse sie sterben, sagt sie. Fünf
Fabriken in der Region hätten schon Bankrott gemacht. Demjanenkos
Zuckerfabrik im südrussischen Ust-Labinsk bisher nicht. Die Fabrik ist
55 Jahre alt, heisst immer noch «Freiheit» und kann auch sonst ihre
sowjetische Abstammung nicht verbergen. In der Produktionshalle hängen
grosse Mosaike im Stil des sozialistischen Realismus: der Arbeiter auf
dem Felde, eine überdimensionale Steckrübe und ein Obstkorb. Am Eingang
empfangen 33 Porträts unter der Überschrift «Unsere besten Arbeiter»
(jene, die den Plan vorbildlich übererfüllten). Einige Steinchen sind
aus den Mosaiken gebröckelt, aber diese Modernisierung hat Demjanenko
auch nicht gemeint.
Hinter den Möglichkeiten
Um die russische Landwirtschaft
ist es schlecht bestellt. Im flächengrössten Land der Erde liegt laut
der Uno-Fachorganisation FAO ein Zehntel des global für die
Landwirtschaft nutzbaren Landes, etwa 120 Mio. Hektaren. Dennoch steuert
Russland nur 3% zur weltweiten Produktion von Getreide bei, beim Gemüse
ist es 1%, bei der Milch immerhin 4%. Aus der Kollektivierung in der
Sowjetunion und den Privatisierungen in den 1990er Jahren ist ein
zersplitterter, international nicht wettbewerbsfähiger und ineffizienter
Agrarsektor hervorgegangen, der den Bedarf des Landes nicht decken kann
und für die gebotene Qualität oft zu teuer produziert. Seit dem
Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) im August 2012 und
den damit verbundenen Zollsenkungen weht der Branche ein noch schärferer
Wind ins Gesicht.
Ein Betrieb, der nicht reagiert,
spielt mit seiner Existenz. Die Zuckerfabrik «Freiheit» ist mit der
jährlichen Produktion von 83 000 t zwar eine der kleineren in
Russland, aber profitabel. 500 Menschen arbeiten im Betrieb in drei
Schichten. Heute feiert Dmitri seinen 30. Geburtstag, wozu das digitale
Schriftband am Haupttor herzlich gratuliert. Es ist ebenso modern wie
die Anzeige mit «Soll» und «Ist» der täglichen Produktion. In den
vergangenen sechs Jahren hat man umgerechnet 18 Mio. $ investiert,
finanziert aus Gewinnen. Noch ist der Erneuerungsbedarf nicht zu Ende,
die Anlagen stammen aus zwei Zeitaltern: links die modernen Tanks und
Rohre zum Kochen des Zuckerrübensaftes, rechts die sowjetischen. Doch
würde alles auf einmal saniert, müsste die Produktion stillstehen. Der
WTO-Beitritt sei gut für die Fabrik, sagt Ljudmila Demjanenko. Und er
sei gut für den Wettbewerb, vor dem sie keine Angst habe.
Demjanenko leitet die
Zucker-Abteilung der Kuban Agro Holding, einer Dachgesellschaft von 30
Agrarunternehmen in der besonders fruchtbaren südrussischen Region
Krasnodar. Das Portfolio reicht von Zuckerproduktion und Getreideanbau
über Schweine- und Rinderzucht bis zur Saatentwicklung. Kuban Agro ist
Teil des Konglomerats Basic Element, das der Magnat Oleg Deripaska
aufgebaut hat. Basic Element vereint Geschäfte vom Finanzsektor bis zur
Luftfahrt und erwirtschaftet nach eigenen Angaben 1% des russischen
Bruttoinlandprodukts. Die Landwirtschaft, gebündelt in Kuban Agro, ist
mit 5000 Mitarbeitern ein kleines Segment. Deripaska ist in Ust-Labinsk
aufgewachsen, inzwischen gehören ihm nicht nur die Flughäfen der Region,
sondern auch rund 80% des Agrarlandes im Verwaltungsbezirk der Stadt.
Für seine Holding kaufte der 45-jährige Magnat ab 2002
Produktionsstätten, die zum Teil seit den fünfziger Jahren existieren.
Die Reformen der Sowjetzeit haben
die russische Landwirtschaft von Grund auf umgekrempelt: Ende der
zwanziger Jahre wurden alle Böden beschlagnahmt, die Bauern enteignet
sowie grosse staatliche Betriebe (Sowchosen) und landwirtschaftliche
Produktionsgenossenschaften (Kolchosen) geschaffen. Die
Niederlassungsfreiheit der Bauern wurde aufgehoben. Die Moral war
schlecht, das System ineffizient. Verschwendung und Verschleiss
explodierten, die Planwirtschaft erzeugte Mangelwirtschaft. In den
Anfangsjahren kam es zu Hungersnöten. Auch später waren Produktivität
und Ertrag pro Hektare trotz forciertem Einsatz von Maschinen und
Chemikalien niedrig; die wenigen erlaubten privaten Betriebe
wirtschafteten weitaus besser.
Wende und Abstieg
Nach der Wende erhielten die
Arbeiter Anteilscheine an ihren ehemaligen Sowchosen und Kolchosen, die
ihnen auf dem Papier einen Teil des Betriebes zugestanden. Wer sich
allerdings mit seinen Landansprüchen selbständig machen wollte, musste
ein abschreckendes Registrierungsverfahren durchlaufen - da pflanzte man
lieber im eigenen Garten an. In den ehemaligen Kollektivbetrieben
mangelte es derweil an Kapital und Managementfähigkeiten, die Qualität
der Erzeugnisse liess oft zu wünschen übrig. Von 1992 bis 1998
schrumpfte Russlands Agrarproduktion um rund 40%. Die bebaute Fläche ist
bis heute im selben Mass gesunken. Jeder fünfte arbeitsfähige
Sowjetbürger soll in den achtziger Jahren in der Landwirtschaft
gearbeitet haben; heute sind es 7% aller russischen Beschäftigten.
Zunächst unterstützte die
Regierung die Kleinbauern, die aber zu klein waren, um produktiv zu
arbeiten und zu investieren. Neben den Nachfolgern der Kollektivbetriebe
entstanden derweil durch den Aufkauf der Anteilscheine Konzerne und
Konglomerate. Kuban Agro zählt heute zu den zwanzig grössten Agrarfirmen
und erwirtschaftete 2012 einen Umsatz von 224 Mio. $ bei einem
Reingewinn von 21 Mio. $. Doch unter dem Strich bleibt die Branche
fragmentiert. Rund die Hälfte der Produktion wird von kleinen oder sehr
kleinen Erzeugern geleistet, die ihre geringen Mengen homogener Produkte
mit wenig Preissetzungsmacht an die verarbeitende Industrie oder
Grosshändler verkaufen. Weil sich wenige Ketten den Detailhandel
aufteilen, zahlen am Ende die Konsumenten hohe Preise.
In der Branche lautet das
Zauberwort deshalb «vertikale Integration»: In entwickelten und
differenzierten Märkten lassen sich Vorprodukte wie etwa Saatgut günstig
einkaufen und eigene Erzeugnisse zur Weiterverarbeitung mit attraktiven
Margen veräussern. Anders sieht es aus, wenn in akzeptabler Nähe nur
wenige vor- und nachgelagerte Anbieter mit akzeptabler Qualität
verfügbar sind. Dann sind die Transportkosten hoch und die Margen klein.
Deshalb dreht sich auch bei Kuban Agro die Wachstumsstrategie nicht um
schiere Grösse, sondern um die Ausweitung des Geschäfts. Es ist
billiger, das Saatgut selber herzustellen, als es am Markt zu kaufen -
also soll die Produktionsanlage aufgerüstet werden. Auch für Sojabohnen
wird eine eigene Verwertung gebaut, genau wie ein Schlachthaus für
Rinder und Schweine. Mindestens in den nächsten fünf Jahren stehe die
vertikale Integration auf dem Programm, sagt CEO Anton Ulanow. Zudem
werden alle Segmente auf Produktivität getrimmt: «Den Preis können wir
nicht kontrollieren, aber unsere Kosten.»
Ein Beispiel ist die
Milchproduktion: Ein Liter Mich kostet im Laden 60 Rbl. (Fr. 1.70),
davon erhält der Milchbauer etwa einen Drittel. Weil für die
Verarbeitung so viel Marge verloren geht, denkt Kuban Agro darüber nach,
auch diese selber zu erledigen. Wo die Milch dafür herkommen soll,
lässt sich einige Fahrminuten von der Zuckerfabrik entfernt erkennen -
aus einem der grössten Kuhställe Russland. Die flachen Baracken
existieren erst seit 2008, im Gegensatz zu den antiquarischen Tankwagen,
die in sowjetischem Stil nur den weiss-blau lackierten Schriftzug
«Milch» tragen. 7500 Kühe haben auf der Anlage Platz. Doch wie
Tierwirtin Ljubow Gretschanaja erläutert, stehen in den Ställen keine
russischen, sondern kanadische Tiere, die für grosse Milchleistung
gezüchtet sind. Die Arbeiterinnen in der modernen Melkbaracke werden
nach gemolkener Milchmenge bezahlt.
Im September hat Präsident Putin
die Ställe besucht. Der Betrieb profitierte von einem Staatsprogramm,
genau wie fast alle Teile der russischen Landwirtschaft. Die Regierung
zahlt eine Pauschale pro bewirtschaftete Hektare und für Saatgut -
allerdings deutlich weniger als in Westeuropa, wie die Landwirte klagen.
Für manche Projekte gibt es zinsvergünstigte Kredite, alle
Agrarunternehmen sind von Gewinnsteuern befreit. Doch durch den
WTO-Beitritt steigt der Druck: Russland musste die Agrarsubventionen
reduzieren, zunächst auf maximal 9 Mrd. $ im Jahr 2012 und bis 2018
auf jährlich 4,4 Mrd. $. Der durchschnittliche Importzoll für
Agrarprodukte wird von 13,2% auf 10,8% gesenkt. Stark betroffen sind
Weizen und Milchprodukte, auch wenn teilweise Übergangsfristen von bis
zu acht Jahren gelten. Die Branche klagt dennoch, sie sei nicht bereit.
Allerdings wurde über den Beitritt 18 Jahre verhandelt - niemand kann
sagen, er sei überraschend gekommen.
Investoren gesucht
Die Konkurrenz aus dem Ausland
macht Investitionen im Inland umso wichtiger, genau wie der inländische
Kapitalmangel auch ausländische Geldgeber erfordert. Einer davon ist die
TKS Union, eine Gesellschaft von zwei Agrarbeteiligungsfirmen aus
Deutschland. Zusammen mit dem grossen deutschen Fleischproduzenten
Tönnies besitzt die TKS zwei Schweinezuchtbetriebe in Belgorod und
Woronesch im Südwesten Russlands. Gelockt hat die TKS der wachsende
Appetit der Russen auf Schweinefleisch, der zu weniger als 70% aus
inländischer Produktion gedeckt wird, und der hohe Anteil an fruchtbarer
Schwarzerde in dieser Region. Sie erlaubt einen Ertrag von 3,5 t
Weizen pro Hektare, 1 t mehr als im landesweiten Durchschnitt. Das ist
wichtig, weil die Firmengruppe namens Sojuz, an der die TKS beteiligt
ist, von der Getreideproduktion über die Futterherstellung bis zur
Schweinemast die ganze Arbeitskette abdecken will - vertikale
Integration ist auch hier die Devise.
Ende des Jahres soll ein eigenes
Futtermittelwerk die Produktion aufnehmen, später kommt vielleicht eine
Fleischverarbeitung hinzu. Bis 2017 will die Sojuz-Gruppe die
Ackerfläche von 45 000 auf 60 000 Hektaren erweitern und bis zu 1,5
Mio. Schweine pro Jahr statt gegenwärtig 650 000 züchten. Die Betriebe
sollen zum zweitgrössten Schweineproduzenten des Landes aufsteigen. Die
Gruppe erreichte 2012 mit 750 Mitarbeitern einen Umsatz von 100 Mio. €
und ein Betriebsergebnis (Ebit) von 21 Mio. €. Er habe nur Positives
zu berichten, sagt TKS-Vorstand Georg Reese. Mit der umständlichen
Bürokratie müsse man leben, aber die Verwaltung funktioniere. Er fühle
sich als Investor in Russland willkommen.
Tatsächlich hat das Land seine
Vorteile: Der Kauf einer Hektare Agrarlandes kostet hier rund 500 €,
verglichen mit bis zu 18 000 € in Deutschland. Da die Regierung
Schweinefleischimporte nicht fördert und die Selbstversorgung aus Sicht
von Georg Reese auch auf Jahre nicht erreicht sein wird, gibt es keinen
Preis- oder Verdrängungswettbewerb. Die Preise, zu denen Schweine an den
Schlachthof verkauft werden, liegen bis zu einem Viertel über denen in
Deutschland. Das und niedrige Personalkosten kompensieren auch die
kürzeren Anbauzeiten durch den härteren Winter und den geringeren Ertrag
pro Fläche im Vergleich mit dem Westen.
Druck zum Lokalisieren
Russland tut aber auch viel,
ausländische Produzenten mit Diskriminierungen zu Investitionen im
Inland zu bewegen. Es häufen sich nichttarifäre Hemmnisse wie
ungewöhnlich hohe Gesundheitsauflagen oder Nachweispflichten für
Lebensmittelimporte aus aller Welt. Auch die Produktionsmittel möchte
man am liebsten im eigenen Land hergestellt sehen: Beispielsweise
existiert auf die Einfuhr von Mähdreschern und deren Teile seit Februar
ein «Anti-Dumping-Zoll» von 27% zusätzlich zum normalen Zoll von 5%. Im
Juli wurde der Strafzoll nach grossem Protest vorerst ausgesetzt,
abgeschafft ist er nicht. Manch einer lässt sich von einer
Produktionsverlagerung überzeugen, zum Beispiel Claas: Der deutsche
Landtechnikhersteller eröffnete vor zehn Jahren als erster grosser
ausländischer Branchenvertreter ein Werk in Krasnodar. Im Mai kündigte
Claas an, für 115 Mio. € die Kapazität bis 2015 von 1000 auf 2500
Maschinen pro Jahr zu erweitern und die Mitarbeiter von 200 auf 500
aufzustocken.
Wer verkaufen wolle, müsse eben
lokalisieren, sagt Waleri Masjukewitsch, Leiter eines Wartungszentrums
von Kuban Agro. Es kümmert sich um 230 ausländische Maschinen und ist
das grösste in Osteuropa. Stolz präsentiert Masjukewitsch den
weitläufigen asphaltierten Hof, auf dem absolut nichts zu sehen ist:
Alle Maschinen sind einsatzfähig und auf den Feldern - es ist Oktober,
Erntezeit. In den Kaufverträgen sind Klauseln, wonach die Hersteller die
Techniker des Käufers für die Wartung trainieren müssen.
Reparaturbedarf sei vorhanden, denn der Boden sei härter als in
Westeuropa, erläutert Masjukewitsch. Die Traktoren müssen mehr aushalten
und wegen der grösseren Flächen weitere Wege zurücklegen. Wie es
heisst, übergeben die Hersteller in Russland neue Traktoren mit der
Bitte, sie «kaputt zu testen» - um herauszufinden, wo ihre Schwachpunkte
liegen.
Die Fehlerdiagnose für den
gesamten Agrarsektor ist komplizierter. Verglichen mit der Zeit kurz
nach der Perestroika hat sich zwar viel verbessert, aber Hürden bleiben:
Da ist der hohe Anteil an Kleinbauern und Hofwirtschaften, die wenig
unternehmerisch denken und nicht genug Kapital für Investitionen
aufbringen. Da ist die Abhängigkeit von politischer Unterstützung und
von Subventionen, die aber zu niedrig sind, um den Entwicklungsrückstand
zum Westen zu kompensieren, wo der Staat noch freizügiger ist. Da sind
die marktbeherrschenden Handelsketten, welche die Margen der
Agrarbetriebe drücken. Da ist das schlechtere Wetter als in Westeuropa,
die härteren Winter, die häufigeren Missernten. Und da ist ein
WTO-Beitritt, der das grösste Problem der Branche ist, aber auch ihre
beste Motivation, offener und produktiver zu werden. Gäbe es einen
einfachen Weg für Russlands Agrarwirtschaft, er wäre wohl schon
gefunden.
Sonntag, 24. November 2013
Ukraine
aus NZZ, 23. 11. 2013
ebd.
Die Ukraine steht an einem Scheideweg
Die Anlehnung an Russland macht die herbeigewünschte Modernisierung schwierig
Höherwertige Exporte statt Rohwaren und Stahl und Ausrichtung nach Westen statt Verharren in postsowjetischen Strukturen, die eine Modernisierung behindern: So wünschen sich Wirtschaftsführer die Ukraine. Die Realität sieht anders aus.
Die Anlehnung an Russland macht die herbeigewünschte Modernisierung schwierig
Höherwertige Exporte statt Rohwaren und Stahl und Ausrichtung nach Westen statt Verharren in postsowjetischen Strukturen, die eine Modernisierung behindern: So wünschen sich Wirtschaftsführer die Ukraine. Die Realität sieht anders aus.
von Rudolf Hermann, Kiew
Eine innovative und flexible
Wirtschaft, die zu Hause Mehrwert erarbeitet und statt Rohwaren
hochwertige Produkte auf anspruchsvolle Märkte exportiert, ein
institutionelles Umfeld, das die ökonomische Entwicklung begünstigt
statt behindert, und eine Bevölkerung, in der sich eine international
mobile und zunehmend wohlhabende Mittelklasse herausbildet, die den
inländischen Konsum ankurbelt - so sieht das Zukunftsszenario aus, das
man sich in der Ukraine sowohl seitens Regierungsvertretern wie auch
seitens von Wirtschaftsakteuren wünscht. Wie dies zu verwirklichen ist,
war Anfang November in Kiew Gegenstand eines strategischen Dialogs von
Wirtschaftsführern und Exponenten der Politik unter dem Dach des World
Economic Forum.
Drei Szenarien
Kontrastiert wurde diese Vision
durch ein anderes Szenario. Es ging von einem durch hohe Preise
charakterisierten, ungenügend reformierten Energiesektor aus, der
zusammen mit ungezügelten Staatsausgaben die öffentlichen Finanzen
belastet, was wiederum Investoren abschreckt und zu Kapitalflucht und
Braindrain führt. Als eine Art Mittelweg zwischen den beiden
Extrempunkten wurde schliesslich die Variante zur Diskussion gestellt,
dass eine schleppende Nachfrage für die traditionellen Exportprodukte
der Ukraine das Land zu einer Neuorientierung seines Exports zwingt,
sowohl geografisch wie auch hinsichtlich des Produkteportfolios. Dadurch
würde das institutionelle Umfeld zwar graduell verbessert, in der
Wirtschaft würden aber weiterhin grosse Industrie-Konglomerate den Ton
angeben. Eine Mittelklasse auf der Grundlage prosperierender Klein- und
Mittelbetriebe würde sich nur zögerlich herausbilden.
In welcher Kombination Elemente
dieser Szenarien in der näheren Zukunft zum Tragen kommen, hängt
einerseits zu einem gewissen Teil vom weltwirtschaftlichen Umfeld ab und
bewegt sich damit ausserhalb des direkten Einflusses der Kiewer
Wirtschaftspolitiker. Andrerseits können von den Politikern wichtige
Weichen durchaus selber gestellt werden. So betrachteten an der Tagung
zahlreiche Kommentatoren als entscheidende Voraussetzung für ein
positives Szenario, dass die Ukraine mit der EU Ende November beim
Gipfeltreffen der sogenannten östlichen Partnerschaft das Assoziations-
und Freihandelsabkommen unterzeichnen könne, weil sich daraus ein
notwendiger Reformschub ableite. Da Kiew sich allerdings in letzter
Minute aus der EU-Annäherung zurückgezogen hat, wird dieser Impuls
vorläufig fehlen.
Mehr Vertrauen nötig
Allerdings würde sich eine
Annäherung an die EU ohnehin kaum sofort in steigendem Wohlstand
niederschlagen (wie es die ukrainische Bevölkerung vielleicht
unrealistischerweise erwartet). Vielmehr würde die einheimische
Wirtschaft durch den Freihandel unvermittelt dem scharfen Wind der
europäischen Konkurrenz ausgesetzt und müsste sich in diesem Umfeld erst
einmal zurechtfinden. Dies dürfte von Präsident Janukowitsch, der 2015
wiedergewählt werden möchte, als Problem betrachtet worden sein. Dass
Russland mit Handelssanktionen drohte, die kurzfristig sowohl die
ukrainischen Erdgasimporte wie auch die substanziellen Exporte zum
östlichen Nachbarn gefährdet und damit auf die Stimmung gedrückt hätten,
kam noch hinzu.
Nur beschränkt attraktiv ist die
Westintegration für Janukowitsch ferner wegen Forderungen nach mehr
demokratischer Transparenz und besserer Rechtssicherheit. Denn dies
würde bedeuten, dass er den Griff lockern müsste, in dem er das
politische System hält und auf dem seine Macht gründet.
Doch wäre eine vertraglich
besiegelte Annäherung an die EU ein Grund für westliche Investoren, dem
Land mehr Vertrauen entgegenzubringen. Zwar wird der Ukraine schon lange
attraktives Potenzial attestiert, etwa im Bereich der Landwirtschaft.
Doch wirken unübersichtliche Verhältnisse mit Bürokratie und
verbreiteter Korruption nach wie vor abschreckend. Dass das Land sich im
«Ease of doing business»-Report der Weltbank gegenüber dem Vorjahr
substanziell verbessern konnte, ist zweifellos positiv. Aber solange
niemand weiss, welche Integrations-Option die Ukraine schliesslich wählt
(oder welche ihr letztlich offensteht) und wie sich der gewählte Weg
auf das Unternehmensklima auswirkt, bleiben grosse Unsicherheitsfaktoren
bestehen.
Indem Kiew die Möglichkeit
vorbeigehen lässt, jetzt die Verträge mit der EU zu unterzeichnen,
scheint eine Zementierung des Negativ-Szenarios vorgezeichnet, das in
Grundzügen bereits angelaufen ist. Verlust an internationaler
Glaubwürdigkeit und das Fehlen eines Drucks auf Reformen würden
unweigerlich in eine Abwärtsspirale münden, meinte an der
WEF-Veranstaltung ein prominenter ukrainischer Unternehmer warnend.
Entwicklungen der jüngsten Zeit
geben tatsächlich Anlass zu Besorgnis. Die drei grossen internationalen
Rating-Agenturen haben über die letzten Wochen die Kreditwürdigkeit der
Ukraine allesamt herabgestuft. Als Gründe wurden das
Leistungsbilanzdefizit von rund 8% des Bruttoinlandprodukts (BIP) und
die faktische Anbindung der Hrywna an den Dollar genannt, die zusammen
die Landeswährung einem starken Abwertungsdruck aussetzten; ferner der
schwierige und teure Zugang zu internationalen Finanzierungsquellen in
Absenz eines Beistandsabkommens mit dem Internationalen Währungsfonds
(IMF) und nicht zuletzt auch der Druck des Fiskaldefizits, das 2013 bei
6% des BIP zu liegen kommen dürfte. Auch die Europäische Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung hielt zur Ukraine in ihrem jüngsten Bericht
über die Aussichten der ostmitteleuropäischen Region fest, dass
erhebliche externe Risiken bestünden, indem die Devisenreserven der
Nationalbank nur noch Importe von 2,5 Monaten decken könnten und das
Land dabei von internationalen Finanzierungsmöglichkeiten praktisch
ausgeschlossen sei. Nach der Abwendung von der EU-Variante kann die
Ukraine zwar darauf hoffen, dass ihr vorläufig Russland finanziell aus
der Patsche hilft. Eine allfällige Reorientierung nach Westen zu einem
späteren Zeitpunkt wird für Kiew dadurch allerdings nicht einfacher.
Neue Export-Philosophie
Unabhängig davon, welchen Pfad der
Integration die Ukraine schliesslich gehen wird, herrscht unter
Wirtschaftsakteuren weitgehende Einigkeit, dass das Land danach streben
müsse, von seiner Abhängigkeit von Stahlexporten wegzukommen. Lange Zeit
stellten diese ein Standbein der Exportwirtschaft mit einem Anteil von
30 bis 40% dar. Doch in einem Umfeld mit weltweiten Überkapazitäten und
einer einheimischen Schwerindustrie, die an mangelnden Investitionen
leidet und deshalb an Konkurrenzfähigkeit verliert, lautet nun die
Forderung, dass die ukrainische Wirtschaft mehr Wertschöpfung im eigenen
Land erreichen müsse. Statt Rohwaren und Halbfabrikaten gelte es
höherwertige Produkte zu exportieren.
Die grössten Hoffnungen werden
dabei in die Landwirtschaft und die nachgelagerte Lebensmittelindustrie
gesetzt. Mit ihrem Reichtum an fruchtbarer Schwarzerde ist die Ukraine
dabei neuerdings ins Blickfeld Chinas gerückt, das bemüht ist, im
Ausland über Beteiligungen an Agribusiness-Unternehmen seine Versorgung
sicherzustellen. Laut der «Financial Times» befindet sich Oleg
Bachmatjuk, ein ukrainischer Grossunternehmer mit verzweigten Interessen
in der Landwirtschaft, in Gesprächen mit Partnern aus China sowie dem
Mittleren Osten, die in milliardenschwere Deals über Getreide- und
Fleischproduktion münden könnten.
Die Entwicklung zeigt, dass die
Ukraine mittelfristig mehr Optionen hat als bloss die Alternativen West
oder Ost. Ebenso sind sich Fachleute aber einig darin, dass eine
Annäherung an die EU trotz den Schwierigkeiten, die es dafür zu
überwinden gilt, die besseren Perspektiven für die nötige Modernisierung
der Ukraine böte als eine Anlehnung an Russland.
ebd.
Der Mittelstand hat gegen die Oligarchie keine Chance
ruh. Kiew · In der
Diskussion um die Notwendigkeit wirtschaftlicher Modernisierung der
Ukraine taucht immer wieder auch die Forderung auf, das Land müsse sich
vom Modell oligarchischer Strukturen hin zu einer Wirtschaft entwickeln,
in welcher Klein- und Mittelbetriebe als flexible und
innovationsfreudige Elemente eine grössere Rolle spielten. Die Frage ist
allerdings, ob eine solche Strukturveränderung plausibel ist angesichts
des politischen und wirtschaftlichen Hintergrunds der Ukraine aus
zaristischer Zeit und sowjetischer Epoche sowie der Entwicklung in 22
Jahren Unabhängigkeit.
Grossunternehmen statt KMU
Erhellend ist etwa ein Blick auf
die Website von System Capital Management (SCM), der Holdinggesellschaft
des Grossunternehmers Rinat Achmetow. Bekannt ist SCM namentlich für
Bergbau, Stahlproduktion und Energiegewinnung, doch das weitverzweigte
Konglomerat ist auch noch in vielen anderen Bereichen tätig, von
Landwirtschaft über Finanzen und Immobilien bis zu Telekommunikation,
Transport, Medien und Lebensmittel-Detailhandel. Wenn aber solch grosse
Spieler auch Felder besetzen, in denen eigentlich der unternehmerische
Mittelstand präsent sein sollte, dann fragt man sich, wo für diesen dann
noch Platz sei.
«Wir steigen in Sektoren ein, wo
wir gute langfristige Wachstumsmöglichkeiten sehen», sagt der Schotte
Jock Mendoza-Wilson, der bei SCM die Abteilung für Investoren- und
internationale Beziehungen leitet. «Langfristiges Denken bedeutet, das
unternehmerische Portfolio zu diversifizieren und damit das Risiko zu
verringern.» Dass dies den KMU-Bereich zurückdränge, will Mendoza-Wilson
so nicht gelten lassen. Bei SCM bemühe man sich, Klein- und
Mittelbetriebe in die Zulieferkette einzubinden und ihnen dadurch zu
helfen, Umsatz zu generieren. Indem man als Abnehmer gewisse Standards
verlange, könne man zur Unternehmenskultur der Zulieferer beitragen und
sie damit voranbringen.
Grundsätzlich ist zwar auch
Mendoza-Wilson der Meinung, dass die treibende Kraft in einer
zukunftsgerichteten ukrainischen Wirtschaft der unternehmerische
Mittelstand sein sollte. Er bemerkt aber, dass der Sektor die nötige
Stärke noch nicht habe. Die Frage ist allerdings, ob er sie überhaupt
erreichen kann in einem Umfeld, das von einigen wenigen
Grossunternehmern beherrscht wird. Diese sind zudem nicht nur
wirtschaftlich dominant, sondern auch politisch bestens vernetzt und
entweder selber oder über Gewährsleute direkt und bis auf höchster Ebene
an politischen Entscheidungen beteiligt.
Reform des Bildungswesens
Eine ukrainisch-amerikanische
Unternehmerin, die im Anlagebereich tätig ist, glaubt deshalb, dass das
gegenwärtige «Top-down»-System auch in einer sich modernisierenden
ukrainischen Wirtschaft fortbestehen werde. Für die Klein- und
Mittelbetriebe werde es kaum genügend Spielraum für eine tragende Rolle
geben. Unbedingt notwendig sei aber für die Förderung des Mittelstands
eine Reform des Bildungswesens, das die qualifizierte Arbeitskraft für
eine Volkswirtschaft auf der Basis von Wissen heranziehe, und eine
Änderung der Gesetzgebung zum Unternehmensbankrott. Ein Bankrott dürfe
nicht länger ein gesellschaftliches Stigma darstellen, sondern müsse
Ansporn sein, es nochmals zu versuchen.
Bekannte Hindernisse für die
Erschliessung des unbestrittenen wirtschaftlichen Potenzials der Ukraine
sind Bürokratie, Korruption, oligarchische Vormachtstellungen in
wirtschaftlichen Schlüsselbereichen und ungenügender Schutz von
Eigentumsrechten. Das wurde von Präsident Janukowitsch und
Ministerpräsident Asarow an der WEF-Veranstaltung in Kiew auch
eingeräumt.
Die «Kyiv Post» verwies allerdings
darauf, dass zwischen Worten und Taten immer noch eine Kluft liege.
Janukowitsch habe zwar vom Willen zur Bekämpfung der Korruption
gesprochen.
Gleichzeitig habe der Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Chakrabarti, eine Reise nach Kiew vertagt, weil die ukrainische Seite nicht bereit gewesen sei, eine - gesetzlich nicht einmal bindende - Vereinbarung mit der EBRD über gemeinsame Massnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu unterzeichnen. Ebenso habe der Präsident, trotz all seiner Rhetorik, unlängst ein Gesetz unterzeichnet, das die Transparenz bei Beschaffungsaufträgen von Staatsunternehmen de facto verringere.
Gleichzeitig habe der Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Chakrabarti, eine Reise nach Kiew vertagt, weil die ukrainische Seite nicht bereit gewesen sei, eine - gesetzlich nicht einmal bindende - Vereinbarung mit der EBRD über gemeinsame Massnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu unterzeichnen. Ebenso habe der Präsident, trotz all seiner Rhetorik, unlängst ein Gesetz unterzeichnet, das die Transparenz bei Beschaffungsaufträgen von Staatsunternehmen de facto verringere.
Dieser Bereich ist dabei bekannt
für seine Korruptions-Anfälligkeit. Im Jahr 2012 wurden laut der «Kyiv
Post», die sich auf Daten des ukrainischen Wirtschaftsministeriums und
der Weltbank berief, öffentliche Aufträge im Volumen von 64 Mrd. $
(36% des BIP) vergeben, davon 36 Mrd. $ ohne Wettbewerb.
Klarere Regeln gefordert
Die starke Verankerung vertikaler
Strukturen sowohl in der politisch-gesellschaftlichen Ordnung wie auch
in der Wirtschaft der Ukraine sprechen eher gegen einen
Paradigmenwechsel hin zu flacheren Hierarchien und einem stärkeren
Mittelstand. Was man sich aber bei grossen Spielern wie etwa SCM von
einer Westintegration erhofft, ist bessere weltwirtschaftliche
Integration und Akzeptanz. Die mächtigen ukrainischen Imperien mögen
ihre Existenz dem «wilden Kapitalismus» der ersten Nachwendezeit
verdanken. Doch für den Erfolg in einem globalisierten Umfeld wünschen
sich ihre Kapitäne nun klarere Regeln.
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