Samstag, 30. April 2016

"Ein gasförmiges Wirbeltier".

Michelangelo, Sixtinische Kapelle
aus nzz.ch, 30.4.2016, 05:30 Uhr

Christoph Markschies: Gottes Körper
Geist ohne Materie?
Hat Gott einen Körper – oder ist er reiner Geist? Der Kirchenhistoriker Christoph Markschies entdeckt ein vergessenes Kapitel der Theologiegeschichte.
 
von Bernhard Lang 

Gott ist unermesslich, unbegreiflich, unkörperlich, jeder Vorstellung entzogen. Kaum hat Photin, ein ägyptischer Mönch, dies dem alten Einsiedler Serapion erklärt, bricht dieser in Tränen aus und schreit laut: «Weh mir! Sie haben mir meinen Gott weggenommen. Nun habe ich keinen mehr, an den ich mich wenden kann.» Die Anekdote wird von Johannes Cassian in den «Unterredungen der Väter» (420er Jahre) mitgeteilt. Sie handelt von Streitigkeiten über die Frage: Hat Gott einen Körper oder nicht? Photin folgt dem christlichen Kirchenvater Origenes (185–253), während sich Serapion an den Wortlaut der Heiligen Schrift hält und Gott einen Körper zuerkennt.

Zwei Geschichten

In seinem Buch «Gottes Körper» erzählt Christoph Markschies, Professor für ältere Kirchengeschichte an der Berliner Humboldt-Universität, zwei miteinander verflochtene Geschichten. Die erste beginnt mit dem – zwar nicht ausgesprochenen, aber vorausgesetzten – Glauben der Griechen und Juden an körperliche Götter oder einen körperlichen Gott. Dann kommt Plato, der, zumindest nach dem Referat in Ciceros Schrift «Vom Wesen der Götter», Gott Unkörperlichkeit zuschreibt: Gott ist reiner Geist, und wenn es die Dichter anders darstellen, ist das eben Dichtung und nicht Wahrheit.

Unter den christlichen Theologen teilen Origenes, Augustinus und Thomas von Aquin diese Ansicht, auf jüdischer Seite sind Philon von Alexandria und Maimonides zu nennen. Mit der Unkörperlichkeit Gottes hat eine der platonischen Philosophie entstammende Lehre in die monotheistischen Religionen Eingang gefunden. Dadurch wurden diese «hellenisiert» – durch griechischen Geist verändert.
Markschies begnügt sich nicht mit dieser einfachen Geschichte. Er stellt ihr eine zweite Erzählung zur Seite, die komplizierter ausfällt. Sie handelt vom Widerstand gegen die platonische Gottesauffassung. Viele antike Denker – heidnische, jüdische und christliche – konnten sich nicht dazu entschliessen, Gott einen Körper abzusprechen. Was keinen Körper hat, existiert nicht; also muss Gott einen Körper haben – so der Kirchenvater Tertullian, der dementsprechend auch der menschlichen Seele eine gewisse Materialität zuschreibt.

Wurde über die körperliche Beschaffenheit der Götter, der Seele, der Engel oder auch des einen Gottes nachgedacht, war allerdings oft von einer ganz besonderen Materialität die Rede – etwa von zarter Feinstofflichkeit oder von der «astralen», den Sternen eigenen Materialität. Stoiker und Neuplatoniker haben so gedacht, unter den Christen ausser Tertullian noch Melito von Sardes und andere. Einen Kompromiss schloss Gennadius von Marseille (um 470): Die Seele und die Engel sind körperlich, Gott allein unkörperlich.

Die Natur Jesu

Die jüdische Mystik, der Markschies ein ausführliches Kapitel widmet, leistet besonders heftigen Widerstand gegen die Idee von Gottes Unkörperlichkeit. Die unter der Bezeichnung «Hechalot» bekannten spätantiken Texte enthalten ausführliche Beschreibungen der ins Unermessliche gesteigerten Körperdimensionen Gottes.

Eine besondere Note erhält der Widerstand gegen die Unkörperlichkeit Gottes in den spätantiken christlichen Debatten über das Wesen Jesu Christi. Wie steht es um den Körper eines Wesens, das Gott und Mensch zugleich ist? Hat Jesus nur einen Scheinleib – oder hat er einen echten Körper? Die orthodoxe christliche Lehre ist bereits im Neuen Testament klar ausgesprochen (Brief des Paulus an die Kolosser 2, 9): «In Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit sômatikôs» – also körperlich und leibhaftig ist Gott in der Gestalt Jesu Christi anwesend.

Markschies bewegt sich in einem Forschungsfeld, das seit den 1970er Jahren blüht: die Geschichte des Körpers im Christentum. Die entstandene ausgedehnte Literatur weist grosse Namen auf: Peter Brown, Jacques Le Goff und Caroline Walker Bynum. Diese Autoren schreiben die wechselvolle Geschichte des Körpers von seiner Zügelung und Abwertung in Spätantike und Mittelalter bis zur neuen Parteinahme für ihn im Zeitalter von Renaissance und Reformation. Doch ging es nur um den menschlichen Körper, der göttliche blieb unbeachtet.

Durch das Buch von Markschies, der das Thema wiederentdeckt hat und erstmals umfassend erkundet, erhält die Erforschung der christlichen Körpergeschichte eine neue Perspektive. Auch der modernen Theologie gelingt es nicht, sich vom körperlichen Gott ganz zu trennen. Eine klare Parteinahme für die Auffassung, Gott habe einen Körper, lässt sich bei Christoph Markschies allerdings nicht entdecken. Jedoch ist er weit davon entfernt, den Spott eines Ernst Haeckel zu teilen, der in seinen «Welträtseln» (1899) Gott als «gasförmiges Wirbeltier» apostrophierte.

Christoph Markschies: Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike. Verlag C. H. Beck, München 2016. 900 S., Fr. 38.90.

Freitag, 29. April 2016

Sklavenarbeit in der Antike.

Grabstein aus Nickenich bei Mayen (etwa 50 n. Chr.). Das Relief zeigt einen Sklavenhändler, der zwei Sklaven an einer Kette führt,
institution logo65 Jahre Forschung zur antiken Sklaverei

Johannes Seiler
Dezernat 8 - Hochschulkommunikation 

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

29.04.2016 10:56
    Die Leistungen der klassischen Antike wären nicht denkbar gewesen ohne die Versklavung von Menschen. Seit 65 Jahren wurde dieses Phänomen an der Mainzer Akademie der Wissenschaften untersucht. Der Althistoriker Prof. Dr. Winfried Schmitz von der Universität Bonn hat das großangelegte Projekt in den vergangenen fünf Jahren geleitet. Jetzt ist es abgeschlossen.

    Du bist mein, ich bin dein – solche Worte gelten heutzutage als eine Bekundung der Liebe. In der Antike aber ließen sie sich wörtlich verstehen. Es gab Menschen, die „Besitz“ eines anderen waren: die Sklaven. Sie galten als Sache, als lebendes Werkzeug. Ihr Eigentümer durfte sie benutzen, wie er wollte – oder sie töten, wie man ein altes Werkzeug wegwirft. Nur eine Chance hatte der Sklave: Wenn er Glück hatte, entließ sein Herr ihn irgendwann in die Freiheit.

    Uns heutigen Menschen fällt eine solche Vorstellung schwer. Und doch: Ein Großteil der historischen Leistungen der Griechen und Römer wäre ohne Sklavenarbeit nicht möglich gewesen. Der Althistoriker Prof. Dr. Winfried Schmitz von der Universität Bonn ist Experte für dieses Thema: Seit 2010 leitete er das Projekt „Forschungen zur antiken Sklaverei“ an der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. 1950 ins Leben gerufen, ist es jetzt (nach 65 Jahren) offiziell abgeschlossen. Es war von seiner Dauer das längste Projekt der Akademie überhaupt – und die fünf Jahre unter Bonner Leitung haben auf das beeindruckende Gebäude sozusagen das Dach gesetzt.

    Ein Sklave kostete etwa so viel wie heute ein Mittelklassewagen

    Kaum eine Gesellschaft der Menschheitsgeschichte hatte den Umgang mit ihren lebenden Werkzeugen derart durchsystematisiert, sagt Prof. Schmitz. „Sehr viele Bestimmungen der römischen Rechtstexte befassen sich mit Sklaven oder den Freigelassenen.“ Dieser Rechtsstatus (oberhalb des Sklaven, unterhalb des Bürgers) war das zweite Charakteristikum der antiken Sklaverei – in späteren Systemen (etwa den amerikanischen Südstaaten) „verbrachten die Menschen ihr ganzes Leben als Sklaven, von der Geburt bis zum Tode“.

    Im antiken Griechenland kostete ein Sklave im Durchschnitt 175 Drachmen. Dies ins Heute umzurechnen ist schwierig, sagt Prof. Schmitz – wegen vieler Missernten schwankten die Nahrungsmittelpreise stark. Der Bonner Althistoriker sagt jedoch, dass sich mit solch einer Summe eine Familie ungefähr ein Jahr lang ernähren ließ; nach heutigen Verhältnissen kostete ein Sklave also etwa so viel wie ein Mittelklassewagen.

    Kaum ein Grieche, kaum ein Römer hinterfragte das alles. Der große Redner Cicero etwa kritisierte die Sklaverei in seinem Gesamtwerk kein einziges Mal; die Philosophie gab sich im Gegenteil große Mühe, sie gutzuheißen. „Aristoteles erklärte, dass es Menschen gibt, die von Natur aus zur »Tugend« unfähig sind. Für sie sei es dann sogar gut, Sklave zu sein – weil ihr Herr sie »zur Tugend anleiten« kann.“ Als „nicht tugendfähig“ galten alle nichtgriechischen Völker – „eine Begründung, um die Versklavung der Lyder, Perser, Ägypter, Skythen und andere gutzuheißen.“ Für Prof. Schmitz ist das eine klare „Rechtfertigungstheorie“.

    Bei der Abschlusstagung des Projekts präsentierten auch zwei Forscher ihre Arbeiten, deren eigene Geschichte von diesem Thema unmittelbar berührt wird. Der Nigerianer Dr. Pius Onyemechi Adiele, als katholischer Priester in Deutschland tätig, hat die Verstrickung der Päpste in den Sklavenhandel untersucht. Prof. Orlando Patterson von der Harvard University kommt aus Jamaika, dessen Wirtschaft jahrhundertelang auf der Versklavung der ursprünglichen Bevölkerung beruhte. Er betrachtet die Sklaverei (und damit laut Prof. Schmitz „zugleich die Geschichte seiner eigenen Familie“) unter dem Aspekt des „Sozialen Todes“, der dem Versklavten die eigene Vergangenheit, kulturelle Bindung und soziale Verwurzelung raubt und so „den Menschen seiner eigenen Geburt entfremdet; das wirkt teilweise über Generationen hinweg“.

    Schlussstein des Projekts: Ein großes Lexikon zum Thema

    Der unter Bonner Leitung gesetzte Schlussstein des Projektes ist das „Handwörterbuch zur antiken Sklaverei“ mit rund 1000 Stichworten. Derzeit liegt es nur digital vor; eine Druckfassung (rund 700 Seiten in drei Bänden) erscheint in Kürze. Das Nachschlagewerk beleuchtet Geschichte und System der antiken Sklaverei in zehn Teilgebieten – etwa die wirtschaftlichen und rechtlichen Aspekte, archäologische Zeugnisse, die Sklaverei außerhalb Griechenlands und Roms (etwa bei den Kelten und Ägyptern), ihre Darstellung in Literatur, Filmen und Comics, aber auch die Geschichte des Akademieprojekts selbst.

    Trotz aller Forschungsergebnisse über den Besitz des Menschen durch den Menschen weiß der Wissenschaftler der Universität Bonn, „dass es vieles gibt, wo wir mit wissenschaftlichen Mitteln nicht rankommen. Wir lesen zum Beispiel oft in den Quellen, Sklavenkinder hätten ihren Herrn »geliebt«. Dass das eine andere Beziehung ist als die eines Kindes zu seinen Eltern, ist klar. Wir wissen, dass viele Leerstellen bleiben. Aber wir können sie zumindest als Leerstellen benennen.“


    Kontakt für die Medien:

    Prof. Dr. Winfried Schmitz
    Institut für Geschichtswissenschaft / Alte Geschichte
    Universität Bonn
    Tel.: 0228/737415
    E-Mail: wschmitz@uni-bonn.de


    Weitere Informationen:

    http://www.sklaven.adwmainz.de Projekt im Internet

    Wo sind die Grenzen der Künstlichen Intelligenz?

    institution logoKünstliche Intelligenz als Wegbereiter autonomer Systeme
    Reinhard Karger M.A.  
    DFKI Saarbrücken
    27.04.2016 16:27  
    Eine neue Generation autonomer Systeme wird vom Menschen vorgegebene Aufgaben selbstständig lösen können. Abhängig vom aktuellen Kontext generieren diese Systeme eigenständig einen Handlungsplan, der ein vorgegebenes Gesamtziel ohne Fernsteuerung und ohne Hilfe menschlicher Operateure erreicht. Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass sie auch in ungewöhnlichen, bislang nicht bekannten Situationen sicher ihre Ziele mit den ihnen verfügbaren Ressourcen erreichen müssen.


    Zusammen mit den Leitern der sechs Arbeitsgruppen überreichte Prof. Henning Kagermann, Präsident von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, auf der HANNOVER MESSE den Zwischenbericht des Fachforums "Autonome Systeme – Chancen und Risiken für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft " an Bundesforschungsministerin Prof. Johanna Wanka.

    Prof. Dr. Wolfgang Wahlster, Leiter der Arbeitsgruppe (AG) 5 „Technologische Wegbereiter“ des Fachforums stellt dazu fest: „Technologien der Künstlichen Intelligenz wie Maschinelles Lernen, automatische Handlungsplanung und intuitive Mensch-Technik-Interaktion sind die wesentlichen Schlüsseltechnologien für die nächste Generation autonomer Systeme.“

    Ein mittelfristiges Ziel ist es, autonome Systeme kontinuierlich laufen zu lassen, so dass diese Erfahrungswissen über einen langen Zeitraum ohne Unterbrechung aufbauen können. Ein solches semantisches Gedächtnis speichert alle Beobachtungen und Aktionen des Systems und kann zum maschinellen Lernen und zur Selbstoptimierung bis hin zu einer eingeschränkten Selbstreflexion genutzt werden. Besonders bei der Operation in toxischen Umgebungen oder Missionen ohne Rückkehrmöglichkeit für das autonome System ist die sichere Zugriffsmöglichkeit auf dieses als eine Art Black Box realisierte Langzeitgedächtnis für den Systembetreiber von größter Bedeutung. Autonome Systeme können nicht mit vollständigen und absolut sicheren Repräsentationen ihrer Umgebung operieren, denn sie müssen in bisher nicht explorierten, unzugänglichen, menschenfeindlichen oder durch Katastrophen dramatisch geänderten Umgebungen handlungsfähig bleiben.

    Autonome Systeme müssen auch Information in Situationen nutzen können, die geprägt sind von Unsicherheit, Vagheit, Unvollständigkeit oder Ressourcenbeschränktheit. Hierbei hat die Grundlagenforschung der Künstlichen Intelligenz in der letzten Dekade unter anderem in den Technologiebereichen Bayessche Netze und Deep Learning enorme Fortschritte gemacht. Am DFKI wurde jetzt das Know-how im Bereich des Maschinellen Lernens über alle Standorte hinweg in einem neuen Kompetenzzentrum Deep Learning zusammengefasst (http://dl.dfki.de).

    Über 60 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft stellten im Fachforum Autonome Systeme Anwendungsbeispiele zur Technologieentwicklung vor und leiten daraus Vorschläge ab für gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen. Mit Prof. Dr. Frank Kirchner, Direktor des DFKI-Robotics Innovation Center ist das DFKI außer an der AG 5 auch an der Arbeitsgruppe 4 „Autonome Systeme in menschenfeindlichen Umgebungen“ beteiligt.

    Im Zwischenbericht des Fachforums zur Hannover Messe 2016 wurden elf Demonstratoren aus Deutschland genauer vorgestellt. Darunter das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt D-Rock, in dem das DFKI Werkzeuge und Verfahren zur anwenderfreundlichen, modellbasierten Entwicklung komplexer Roboter entwickelt. Der Design-Ansatz soll bei den hoch komplexen Robotersystemen der nächsten Generation zur Anwendung kommen, die als autonome Systeme in unbekannten und unstrukturierten Umgebungen eingesetzt werden, und die Fähigkeiten heutiger Systeme weit übertreffen. D-Rock wird noch bis zum 29. April auf der HANNOVER MESSE 2016 am Stand des Fachforums Autonome Systeme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) – Halle 2, Stand B01 – vorgestellt und durch den vom Vorbild einer Gottesanbeterin inspirierten Roboter MANTIS demonstriert.


    Kontakt:
    Reinhard Karger, M.A.
    DFKI Unternehmenssprecher
    E-Mail: uk-sb@dfki.de
    Tel.: +49 681 85775 5253



    Weitere Informationen:
    http://www.dfki.de
    http://www.acatech.de/autonome-systeme
    http://dl.dfki.de



    Nota. - Es bleibt dabei; Die Zwecke - 'Werte', Absichten, Urteilsgründe - müssen der Maschine immer vom lebendigen Menschen vorgegeben werden, weil sie nur herleiten kann, aber nicht einbilden. In einem strikt theoretischen Sinn ist das beruhigend: Das Privileg des freien Willens wird uns nicht streitig gemacht.

    In technisch-praktischer Hinsicht spitzt es das Problem eher zu: Wenn die Maschine selber nie zwischen gut und schlecht, sondern immer nur zwischen passend und unpassend unterscheiden kann, wird sie blindlings jedem Zweck gehorchen, der ihr - wie in Kubricks Odyssee im Weltraum - durch einen Systemfehler vorgesetzt wird. Das ist nicht beruhigend. 

    Beides zusammen heißt aber: Zu Fatalismus besteht kein Grund. Beruhigend ist auch das nicht, sondern herausfordernd; mehr kann man aber nicht wünschen.
    JE 


    Mittwoch, 27. April 2016

    "Postkapitalismus".

     
    aus nzz.ch, 27.4.2016, 05:30 Uhr

    Paul Mason: Postkapitalismus
    Nach dem Kapitalismus ist vor dem Kapitalismus
    Die Linken feiern ihn bereits als neuen Marx: Paul Mason. Er hat ein imposantes neues Werk vorgelegt. Doch was taugt seine Diagnose der Gegenwart?

    von René Scheu

    Paul Mason hat nach Thomas Piketty das Zeug, zum neuen Helden der Linken zu werden. Die Utopisten, Empörten und Extremisten unter den Sozialisten, die sich von den Zeitläuften unbeeindruckt weiterhin einer Theorie der revolutionären Praxis hingeben, finden in seinem neuen Opus tonnenweise Anregungen für ihre unerschütterlichen Lebensträume. Naomi Klein, eine ihrer Ikonen, hat sich bereits mit ihrem potenziellen Konkurrenten aus England solidarisiert, ebenso wie der Polit-Pop-Stalinist Slavoj Žižek. Niemand will zu spät kommen, wenn es darum geht, den neuen Anführer zu preisen. Den Vogel schoss aber zweifellos der in Cambridge lehrende David Runciman mit seinem Quote ab: «Paul Mason ist ein würdiger Nachfolger von Marx.»

    Schreibt ambitionierte Bücher und gilt unter Linken als neuer Super-Marx: der britische Journalist Paul Mason. (Bild: Jürgen Bauer)Würde der grosse bärtige Gelehrte aus Trier im 21. Jahrhundert tatsächlich von den Toten auferstehen, er wäre höchst erstaunt über die gegenwärtige Lage und ihre Beschreibung. Marxens Name ist zwar wieder populärer als auch schon, als mit ihm bloss die Greuel kommunistischer Schreckensherrschaft assoziiert wurden. Bis weit in linke Kreise hinein gilt er jedoch weiterhin als rotes Tuch, und dies, obwohl sich die Politik – je nach Strenge der Lesart – einen Gutteil seiner zehn im «Kommunistischen Manifest» erhobenen Forderungen längst zu eigen gemacht hat. Die Punkte lesen sich aus heutiger Sicht wie das Programm einer sozialdemokratischen Partei, deren Positionen auch im softbürgerlichen Lager zustimmungsfähig sind, von der «starken Progressivsteuer» über die «Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank» über Industriepolitik und faktische Verstaatlichung des Bauernstandes bis hin zur «öffentlichen und unentgeltlichen Erziehung aller Kinder». Über einen Punkt dürfte der auferstandene Marx allerdings wirklich ins Grübeln kommen: Wie um Himmels Willen kommen die Zeitgenossen darauf, ihre Ordnung als Turbo- oder Raubtierkapitalismus zu bezeichne

    Der unscheinbare Dritte

    Mason, der neue Marx, schreibt zwar überaus gelehrt und unterhaltsam. Doch unterwirft er sich dem ebenso geschichts- wie faktenfremden Sprachspiel der Gegenwart, das Marx kaum verstanden hätte. Der linke Aktivist aus der Working Class stimmt in den modischen Singsang ein, wonach wir seit zwei Jahrzehnten in einer Phase der totalen Deregulierung und Privatisierung lebten, und macht einen gespenstischen Neoliberalismus verantwortlich für alles, was schiefläuft in der Welt: für wirtschaftliche Stagnation, Schuldenwirtschaft, Krieg, Verwüstung und politische Radikalisierung.
    Wenn heute jemand den Staat als wichtigsten Akteur der Wirtschaft übersieht, gibt es dafür mindestens zwei plausible Gründe. Er erkennt ihn nicht mehr, weil er sich längst an seinen Anblick gewöhnt hat – vom Staat zu abstrahieren, erfordert mehr Phantasie, als im Zeitalter des Etatismus erwartet werden darf. Oder er hat eine politische Agenda – aus viel Staat soll noch mehr Staat werden. Im Falle von Masons neuem Buch schwingen zweifellos beide Nuancen mit. Verweilen wir deshalb kurz beim Status quo und halten uns an jenes Land, das gemäss vorherrschendem Narrativ besonders marktwirtschaftlich organisiert sein soll: die Schweiz.

    Der unscheinbare Dritte ist in der Schweiz höchst mächtig und aktiv, als Preissetzer, Eigentümer, Arbeitgeber und Steuereintreiber. Dies zeigt eine jüngere, zurückhaltend kalkulierende Studie des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse plausibel auf («Staat und Wettbewerb»). Mehr als die Hälfte der Preise für Güter und Dienstleistungen ist staatlich administriert, vor allem in den betont staatsnahen Branchen: Landwirtschaft, Verkehr, Bildung, Gesundheits- und Sozialwesen, Rundfunk, Post, Energie- und Wasserversorgung, Finanzbranche; über ein Fünftel aller Vermögenswerte in der Grössenordnung von 500 Milliarden Franken gehört dem Staat; ein Drittel aller Beschäftigten arbeitet direkt beim Staat oder in einem staatlich geprägten Betrieb; die erweiterte Fiskalquote (inklusive aller Zwangsabgaben an die berufliche Vorsorge und die Krankenversicherung) beträgt in der Schweiz rund 43 Prozent. Diese letzte Zahl, die gerne auf alle möglichen Arten relativiert wird, ist zugleich die aussagekräftigste: Sie bedeutet, dass selbst in der Schweiz der einzelne produktive Bürger nur mehr über rund die Hälfte seines Wirtschaftserfolgs selbst verfügt. Ist das die vielgescholtene freie Marktwirtschaft, worin der Einzelne Herr über seine wohlverdiente Kaufkraft ist?

    Eigentum aber bedeutet nicht nur juristische Verfügungsmacht, wie sie in der Verfassung steht, sondern faktische. Ludwig von Mises nannte darum Mischsysteme wie das real existierende völlig unaufgeregt «halbsozialistisch»: Nicht der Bürger selbst, sondern gewählte und nicht gewählte andere entscheiden über die Verwendung der Hälfte seines Eigentums. Peter Sloterdijk hat diesen Tatbestand in eine ebenso eingängige wie präzise Formel gegossen, die es verdient, immer wieder ausführlich zitiert zu werden: «Wir leben gegenwärtig ja keineswegs ‹im Kapitalismus› – wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert –, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muss.»

    Die Sozialisierung der Wirtschaft, die Mason fordert, schreitet seit Jahrzehnten voran, oder besser: Sie hat seit siebzig Jahren nie aufgehört. Die liberalen Klassiker des 20. Jahrhunderts – von Mises über Röpke bis zu Hayek – haben die Parallelen zwischen dem planwirtschaftlichen Kommandostaat unter Kriegsbedingungen und dem modernen zentralverwaltungswirtschaftlich organisierten Sozial- und Interventionsstaat beschrieben. So viel lässt sich mit Blick auf Europa zweifelsfrei festhalten: Ein Etatismus mit Fiskalquoten um 50 Prozent in Friedenszeiten, wie sie spätestens seit den 1990er Jahren weitherum herrschen, ist in der Geschichte der Menschheit ein echtes Novum. Er garantiert eine nicht minder einzigartige kollektive Rundumversorgung von dem Moment an, in dem man das Licht der Welt erblickt, bis zum Tod. Statt von echten Eigentümern ist er – mit Mises gesprochen – von «bevorrechteten Genossen» bevölkert. Wer wie, wann und wie viel profitiert, lässt sich angesichts der Komplexität der innerstaatlichen Geldflüsse kaum eruieren. Klar ist indes, dass selbst die Privilegiertesten glauben, zu kurz gekommen zu sein – die Erregbarkeit im demokratischen Semi-Sozialismus hat nicht erst jüngst zugenommen. Diese Erregbarkeit ist es, die sich Paul Mason mit seiner Programmatik zunutze machen will. Und er tut dies sehr geschickt.

    «Postkapitalismus» – den Ausdruck übernimmt Mason von Peter Drucker – ist ein interessantes Buch, trotz seiner Marx-Hörigkeit. Denn ja, der heutige westliche Staat – dauerüberschuldet, überfordert, handlungsunfähig – steckt in einer Krise. Mit ein paar politischen Retuschen dürfte es in der Tat nicht getan sein. Und ja, die Digitalisierung krempelt nicht nur die staatlichen Institutionen, sondern auch die Geschäftsmodelle der Unternehmen und das Geldwesen radikal um.

    Befreiung der Menschen

    Mason bietet viel Zahlenmaterial und Theorie auf (darunter eine eigens verfeinerte Version der Kondratieff-Zyklen), aber letztlich ist seine Erzählung nach einem durchschaubaren Muster gestrickt. Die Informationstechnologie hat die Produktivkräfte entfesselt: Information – oder, allgemeiner, anwendbares Wissen – ist im Überfluss vorhanden, wächst exponentiell, prägt zunehmend die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen, ist beliebig verfüg- und kopierbar, ihre Grenzkosten tendieren gegen null. Das paradiesische Reich der Freiheit, das Mason imaginiert, ist Marxens Phantasie im «Maschinenfragment» der «Grundrisse» nachempfunden: Maschinen werden dereinst die Arbeit der Menschen erledigen, wobei Letztere sich kreativ engagieren können, um den «general intellect» voranzubringen, bis irgendwann auch die Maschinen ihre Programme selber schreiben. Der Hauptwiderspruch des herrschenden Systems, in dem sich diese Entwicklung bereits abzeichnet, ist jener zwischen «der Möglichkeit eines unerschöpflichen Angebots an kostenlosen Gütern und einem System von Monopolen, Banken und Staaten, die alles tun, damit diese Güter knapp, kommerziell nutzbar und im Privatbesitz bleiben».

    Das neue Proletariat in Masons Marx-Erzählung ist die vernetzte Menschheit von Occupy und Indignados, also junge gebildete individualistische und konsumorientierte Opportunisten. Sie sollen sich zusammenrotten, um als Konsum- und Meinungsmacht die Monopole zu brechen – nach Mason wird der Tag kommen, an dem die neuen Vertreter der Gratis-Kultur nicht mehr bereit sind, für Dienstleistungen zu bezahlen, deren Grenzkosten gegen null tendieren. Willkommen in der Gratis-Welt des grossen Glücks der befreiten Menschheit.

    Theorie ist gleich Praxis

    Selbstverständlich ist für diese vernetzten gebildeten Potenzialrevoluzzer Mason-Lektüre Pflicht, denn nur so erhalten sie Einblick in den dialektischen Gang der Dinge. Wer die historischen Gesetzmässigkeiten begreift, ist zugleich aufgerufen zu handeln – nämlich alle möglichen Verstaatlichungen zu unterstützen, Patente und Eigentumsrechte auszuhebeln, wo es nur geht, und zugleich die Kultur der freiwilligen solidarischen Netzwerkarbeit zu leben. Mason beruft sich auf die Online-Enzyklopädie Wikipedia und die Sharing-Economy als Vorboten einer neuen Kultur des Gemeineigentums, wo allen alles gehört und alle im Überfluss leben. Dabei übersieht er freilich, dass Wikipedia ein ziemlich autoritäres System darstellt, in dem bloss einige tausend Akteure weltweit sich aktiv beteiligen, um, ganz homines oeconomici, ihr Eigeninteresse auf der Ebene der Deutungshoheit durchzusetzen. Und die Sharing-Economy ist bis auf weiteres das genaue Gegenteil einer Kooperation auf der Basis reiner Uneigennützigkeit: Wer sein ungenutztes Zimmer oder Auto vermietet, aktiviert erst sein brachliegendes Eigentum, agiert also wie ein guter alter Kapitalist. Doch sollten wir die geplante Revolution nicht demnächst durchziehen, droht der Welt gemäss Mason das Schreckensszenario einer neuen Massenverarmung – verschwenderischer Ressourcenverbrauch führt zu Global Warming und Migration, die Alterung westlicher Gesellschaften zum Kollaps der überschuldeten Staaten und beides zusammen zu nicht mehr kontrollierbaren sozialen Verwerfungen. Die Zeit drängt, und es gibt keine Alternative. Nur die Smart Economy und das nachhaltige Leben im Paradies des Überflusses können uns retten.

    Bei Mason geht's wie bei Marx um das grosse Ganze. Trotz Sozialromantik, Erkenntnis-Hybris, Herrschaftsphantasie und Missions-Eifer: Mason legt ein Buch vor, das die mannigfachen Verflechtungen von Big Business und Big Government immerhin problematisiert. Wer das Wort «Neoliberalismus» durch «Semi-Sozialismus» ersetzt, darf auf einigen Erkenntnisgewinn hoffen. Denn die Frage bleibt virulent: Wie finden wir den Weg aus dem gegenwärtigen etatistischen Schlamassel?

    Paul Mason:
    Postkapitalismus – Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp, Berlin 2016. 430 S., Fr. 36.90



    Nota. - Die Rezension ist rein ideologisch motiviert, sie huldigt, wie im Wirtschaftsteil der NZZ nicht anders zu erwarten, dem Fetische Eigentum. Aber für diesmal macht das nichts: Das rezensierte Buch ist offenbar ebenso ideologisch. Es hat eine apriorische Tendenz, und dafür werden links und rechts 'Beispiele' gesucht. Der Vergleich mit Marx wäre skandalös, wenn er nicht so lächerlich wäre. Der hatte eine Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft verfasst, aus der er deren Entwicklungsrichtung hochgerechnet hat - so gut das eben möglich war. Eine 'Tendenz' hatte natürlich auch der - aber nicht als Wissenschaftler, denn ein solcher war Marx; ist aber Mason offenbar nicht, sondern ein "streibarer Journalist".

    Als Wissenschaftler war Marxens abschließendes Wort über die kapitalistische Wirtschaftsweise die Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate. Sie ist angesichts der eben erst beginnenden Digitalen Revolution der springende Punkt jeder Analyse. Wenn sie bei Mason überhaupt vorkommt, dann anscheinend nur en passant, sonst hätte selbst der Eigentumsfetischist René Scheu sie nicht übersehen können.

    Ein "interessantes Buch"? Tödlicher kann man eine Rezension nicht zusammenfassen. Ich fürchte, es ist nicht einmal das. Wenn der Rezensent nicht alles missverstanden hat, läuft es nur darauf hinaus, dass die fürsorgliche Verstaatlichung der Welt durch wuchernde Bürokratie - Milton Friedmanns "unsichtbarer Fuß" - auf guten Wegen ist und der Kapitalismus sich selbst überwindet, wenn man die Sozialdemokratie - egal unter welchem Namen - überall da an die Schalthebel lässt, wo sie es noch nicht ist. 

    Und das soll ein "würdiger Nachfolger von Marx" sein?
    JE 

    Samstag, 23. April 2016

    Ein halbes Jahrtausend Reformation - Zeit für eine Neubewertung?


    Rubens, Hl. Ignatius
    institution logo „Neue Lesart der Reformation als gesamteuropäische Erneuerungsbewegung"

    Viola van Melis  
    Zentrum für Wissenschaftskommunikation
    Exzellenzcluster „Religion und Politik“ 
    an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

    13.04.2016 13:16 


    Historiker Lucian Hölscher über die Gedenkaktivitäten 2017 und eine neue Lesart der Reformation: gesamteuropäische Erneuerungsbewegung statt deutsch-provinziellen Charakters – Evangelische und katholische Reformer als Teil einer einzigen Reformation des Christentums – Auftakt der Vortragsreihe „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ am Exzellenzcluster

    Zum Reformationsgedenken 2017 schlägt der erste „Hans-Blumenberg-Gastprofessor“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster, Historiker Prof. Dr. Lucian Hölscher, eine neue Lesart der Reformation vor. Staat und Kirchen sollten das Jubiläum „in Erinnerung an die gesamteuropäische Erneuerung des Glaubens vor 500 Jahren“ feiern, sagte er am Dienstagabend in Münster. Es sei an der Zeit, der Reformation den „deutsch-provinziellen Charakter“ zu nehmen. Der renommierte Bochumer Wissenschaftler warnte zugleich davor, „die historische Wahrheit zu verbiegen“. Falsche Legenden über die stärkere Nähe des Protestantismus zur modernen Gesellschaft sollten verworfen und theologische Gemeinsamkeiten über die konfessionellen Grenzen hinweg betont werden.

    Der Historiker nannte es „skandalös“, wenn in Schriften der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Reformation vor 500 Jahren eine „problematische protestantische Erinnerungskultur“ mit historischer Erkenntnis gleichgesetzt werde. „Subjektiv hat zwar jede Institution das Recht, sich zu Jahrestagen ihrer eigenen Ursprünge und Anfänge zu erinnern“. Doch es gehe zu weit, daraus allgemeine Aussagen über die moderne Gesellschaft, die Ursprünge der Demokratie und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung abzuleiten.

    Als Beispiel für ein „schlechterdings falsches Geschichtsbild“ nannte Prof. Hölscher die Vorstellung, demokratische Herrschaftsformen hätten sich bevorzugt in protestantischen Ländern gebildet. Das gelte weder für Frankreich noch für Deutschland, wo auch der politische Katholizismus maßgeblich an der Durchsetzung der Demokratie beteiligt gewesen sei. Solche „Rückfälle in alte Denkmuster“ seien kaum mit dem Ziel der EKD vereinbar, die Reformationsfeiern weltoffener und auch im Zeichen der Ökumene zu feiern.

    Auftakt zur neuen Gastprofessur – mit Tochter des Namensgebers

    Der Vortrag „500 Jahre Reformation in Deutschland – Wie erinnern wir uns daran?“ war Auftakt einer öffentlichen Vortragsreihe der neuen „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik“. Die Gastprofessur, benannt nach dem einflussreichen Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996), soll dazu beitragen, innovative Impulse aus der internationalen Forschung nach Münster zu bringen, und die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit am Exzellenzcluster stärken. Zum Auftakt war auch die Tochter des Namensgebers, Schriftstellerin Bettina Blumenberg, gekommen.

    Prof. Hölscher führte aus, die Jubiläumsfeiern früherer Jahrhunderte hätten „im Dienste einer Politik der protestantischen Selbstbehauptung“ gestanden. Das sei heute nicht mehr vertretbar. Katholiken und Protestanten lebten in einer religiös pluralistischen Bevölkerung, in der mehr als ein Drittel gar keiner Religion mehr angehörten. „Auch das lädt zur neuen Lesart ein“, nach der die Erneuerungsimpulse protestantischer, aber auch katholischer Reformer im 16. Jahrhundert „als Varianten einer einzigen umfassenden Reformation des Christentums“ gelesen werden sollten. Schließlich seien die „großen Traditionsstränge des westlichen Christentums“, Katholizismus und Protestantismus, in der Reformation „nur zwei Seiten derselben Medaille“ gewesen.

    Für die neue Lesart der Reformation spricht nach Auffassung des Historikers vor allem „die gemeinsame geistliche Wurzel der protestantischen und katholischen reformatorischen Erneuerungsbewegung in der sogenannten devotia moderna (neue Frömmigkeit), einer Neuausrichtung der Glaubenspraxis auf die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen im Spätmittelalter. Daraus seien beide Reformationszweige erwachsen: Martin Luthers (1483-1546) Frömmigkeit, aber auch die des spanischen Gründers des katholischen Jesuitenordens, Ignatius von Loyola (1491-1556). Generell herrsche unter Historikern heute Einigkeit, dass beide Konfessionen gleichermaßen zur Modernisierung der westeuropäischen Gesellschaften beigetragen hätten. „Sie versagten allerdings auch gleichermaßen vor elementaren Gefahren, etwa der des Antisemitismus oder der Unterstützung autoritärer Regierungen.“

    „Wunden aus dem 16. Jahrhundert noch immer nicht geheilt“

    Statt einen „deutsch-provinziellen“ Blickwinkel beizubehalten, sei es heute angebracht, die Reformation im Kontext des europäischen Humanismus und anderer zeitgenössischer Einflüsse, etwa der hermetischen und esoterischen Bewegung zu sehen, unterstrich der „Hans-Blumenberg-Gastprofessor“. „Es handelte sich um eine gesamteuropäische Erneuerungsbewegung, die sich über die christlichen Konfessionen hinaus bis in die humanistischen und säkularistischen Bewegungen der Zeit ergoss.“

    Zum heutigen Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen sagte der Wissenschaftler, es sei, „so friedlich es auch oft in der Öffentlichkeit erscheint, theologisch und psychologisch unbefriedigend.“ Unter Protestanten seien immer noch zahlreiche anti-katholische Vorurteile zu finden und umgekehrt. Die Wunden, die im 16. Jahrhundert geschlagen wurden, seien immer noch nicht geheilt. Doch gebe es heute „ermutigende Elemente“ einer gemeinsamen christlichen Theologie und überkonfessionellen Geschichtsschreibung. Sie seien ebenso die „Voraussetzung für den religiösen Frieden in unserem Land“ wie „Grundlage des säkularen Selbstverständnisses der modernen Gesellschaft“.

    Münster als herausgehobener Standort für Religionsforschung

    In der Vortragsreihe „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ folgen im April und Mai drei Vorträge von Lucian Hölscher zur Geschichte der protestantischen Frömmigkeitskultur. In den kommenden Semestern werden weitere renommierte Forscherinnen und Forscher aus wechselnden Disziplinen auf die Hans-Blumenberg-Gastprofessur berufen, etwa aus der Soziologie, der Ethnologie und Rechtswissenschaft. Die Mitglieder des Exzellenzclusters arbeiten kultur- und epochenübergreifend, historisch und gegenwartsbezogen sowie bekenntnisneutral und bekenntnisgebunden. Damit ist Münster zu einem in Größe und Vielfalt herausgehobenen Standort für interdisziplinäre Religionsforschung geworden.

    Prof. Dr. Lucian Hölscher ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und seit 2008 Vorstandsmitglied des Käte-Hamburger-Kollegs „Dynamics of Religion Between Asia and Europe“ der Ruhr-Universität Bochum.

    Neue Ringvorlesung „Religionspolitik heute“ ab 10. Mai

    Die Vorträge der „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr in Hörsaal F2 im Fürstenberghaus am Domplatz 20-22 in Münster zu hören – am Platz der öffentlichen Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Der Start der Ringvorlesung verschiebt sich damit im Sommersemester auf den 10. Mai 2016. Sie trägt den Titel „Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland“. (ska/vvm)

    Weitere Informationen: http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/forschung/zukunft/blumenberg/ind...
    Nota. - Dass sich ein Geschichtsprofessor in seinem Amt überhaupt zuständig fühlt für 'das Verhältnis zwischen den Kirchen' spricht nicht für die Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit und sollte sogar im gegenreformierten Münster zu denken geben. Die dortige Univ ersität ist nicht die el-Azhar-Moschee; wenn auch die Wiedertätuferkäfige noch immer am Dom hängen... JE
     

    Donnerstag, 21. April 2016

    Stammt das Jiddische aus dem Nahen Osten?

    aus scinexx                                  Jiddisch wird mit hebräischen Zeichen geschrieben, klingt aber ähnlich wie Deutsch.


    Jiddisch: Doch nicht in Deutschland entstanden?
    Überraschende Wurzeln: Bisher galt Deutschland gemeinhin als Ursprung des Jiddischen. 
    Doch neue Analysen des Erbguts aschkenasischer Juden deutet nun auf ganz andere Wurzeln dieser Sprache hin: Sie könnte vor rund 1.000 Jahren im Nordosten der Türkei entstanden sein - in einem von vielen Juden bewohnten Handelszentrum an der Seidenstraße. Erst ihre Nachfahren brachten diese Sprache dann nach Mitteleuropa, wie Forscher berichten.

    Das Jiddische, die ursprüngliche Sprache der aschkenasischen Juden, wird schon seit mehr als tausend Jahren gesprochen und vereint in sich sowohl viele deutsche, als auch hebräische und slawische Wörter und Sprachelemente. Wo jedoch die Wurzeln dieser Sprache liegen, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Gängiger Theorie nach entwickelte sich das Jiddisch aber aus dem Mittelhochdeutschen – das soll die vielen deutschen Ähnlichkeiten zum Deutschen erklären. 

    Doch Eran Elhaik von der University of Sheffield und seine Kollegen haben nun Indizien für einen ganz anderen Ursprung dieser Sprache entdeckt. Sie stützen die Annahme, dass das Jiddische nicht aus Deutschland, sondern aus dem Mittleren Osten stammt - wofür auch die eher dem Slawischen und Iranischen verwandte Grammatik sprechen könnte.

    Der Spur der Gene folgend

    "Sprache, Geografie und Genetik sind eng miteinander verknüpft", erklärt Elhaik. Wenn sich Menschen und Volksstämme im Laufe ihrer Geschichte ausbreiten oder wandern, dann nehmen sie ihre Sprache ebenso mit wie ihre Gene. Für ihre Studie analysierten die Forscher daher das Erbgut von 367 aschkenasischen Juden, die an einem Stammbaumprojekt teilgenommen hatten. Rund die Hälfte der Teilnehmer stammte von rein jiddisch sprechenden Vorfahren ab, die andere nicht.

    Im Genom dieser Teilnehmer verglichen die Forscher DNA-Sequenzen, die für bestimmte Populationen typisch sind. "Vereinfacht gesagt schließt unser System schließt auf die geografische Abstammung eines Menschen, indem es die Anteile seiner Genmischung mit denen von Referenzpopulationen vergleicht, von denen man weiß, dass sie zu einer bestimmten Zeit in einer Region lebten", erklären Elhaik und seine Kollegen.


    Den Gendaten nach stammen die Vorfahren der jiddisch sprechenden Aschkenasim aus dem Nordosten der heutigen Türkei.

    Wurzeln im Nordosten der Türkei

    Das überraschende Ergebnis: Die gemeinsame Abstammung der jiddisch sprechenden Aschkenasim ließ sich größtenteils auf ein Gebiet im Nordosten der heutigen Türkei zurückverfolgen. Die Gendaten weisen auf große Ähnlichkeit dieser Juden mit Iranern, Türken und Bewohnern des südlichen Kaukasus hin. "Interessanterweise verortet unser System nahezu alle Vorfahren dieser Aschkenasim in der Nähe des früher von den Skythen bewohnten Gebiets", berichten die Forscher.

    Wie sie erklären, stimmt dies gut der Theorie überein, dass die aschkenasischen Juden Nachfahren der Chasaren sind, einem Volk, das ab 700 nach Christus im nördlichen Kaukasus und am kaspischen Meer lebte. In babylonischen Quellen werden sie als "Askuza" bezeichnet. Später wurde dieser Begriff zu "Skythen" verändert und bezeichnete die Nomaden, die später im einstigen Gebiet der Chasaren lebten.

    Geheimsprache als Schutz vor Konkurrenz?

    Diese Ursprungsregion der jiddischen Aschkenasim lag damals an einem wichtigen Kreuzungspunkt der Seidenstraße mit anderen Handelswegen, wie die Forscher berichten. In diesem kommerziellen Zentrum lebten viele byzantinische Händler, aber auch Angehörige der jüdischen Händlergilde der Radhaniten, die zeitweise den Handel auf dem europäischen Teil der Seidenstraße dominierten.

    Nach Ansicht der Wissenschaftler liegt es nahe, dass diese ihr Monopol in diesem Handel vor Konkurrenz schützen wollten. "Um dies zu erreichen, erfanden sie das Jiddische – eine geheime Sprache, die außer den Juden nur wenige verstanden", erklärt Elhaik. "Das könnte erklären, warum das Jiddische 251 verschiedene Wörter für 'kaufen' und 'verkaufen' besitzt. Denn das würde man von einer Sprache von Händlern erwarten.

    Verräterische Ortsnamen

    Und noch ein Indiz gibt es: In diesem Gebiet gab es damals vier Dörfer, die die Namen Iskenaz, Eskenaz, Ashanaz und Ashkuz trugen. Sie könnten ihre Namen vom Begriff "Aschkenasi" bekommen haben, mutmaßen die Wissenschaftler. "Die Nordost-Türkei ist das einzige Gebiet auf der Welt, in dem diese Ortsnamen existieren", sagt Elhaik. Das spreche dafür, dass damals viele aschkenasische Juden dort lebten.

    Als dann die Nachfahren dieser jüdischen Händler nach Mitteleuropa zogen, nahmen sie auch deutsche Begriffe auf und gaben dem Jiddischen seine heute bekannte Form. (Genome Biology and Evolution,

    (University of Sheffield, 21.04.2016 - NPO)  


    Nota. - Das ist nur die jüngste von vielen Theorien über die Herkunft der Ashkenasim und den Beitrag der Chasaren; nach einer Variante sollen die Ashkenasim sogar aus dem kaiserlichen Rom stammen...
    JE

     

    Mittwoch, 20. April 2016

    Aus der Antike ins Mittelalter.

    Die Folgen gleich zweier Vulkanausbrüche könnten das Ende der Spätantike gefördert haben.
    aus scinexx

    Vulkanausbrüche förderten Ende der Antike
    Zwei Eruptionen veränderten das Klima vor 1.500 Jahren so stark wie nie seither 

    Missernten, Krankheiten und eine geheimnisvolle Wolke: Der Übergang von der Spätantike ins Mittelalter vor rund 1500 Jahren war eine Zeit der Krisen. Warum, blieb unklar – bis jetzt. Denn Forscher haben nun herausgefunden, dass zwei Vulkanausbrüche hintereinander das Klima der Nordhalbkugel stark beeinträchtigten. Sie kühlten das Klima um bis zu zwei Grad ab und dimmten jahrelang die Sonne. Das könnte einige der gesellschaftlichen Umbrüche der damaligen Zeit erklären.

    Dass Vulkanausbrüche das Klima verändern können, ist nichts Neues. Bekannt ist dieser Effekt beispielsweise für das "Jahr ohne Sommer" nach dem Ausbruch des Tambora im Jahr 1815 und schon in der Urzeit könnten heftige Eruptionen sogar Massenaussterben ausgelöst haben. Grund für diesen Abkühlungseffekt sind vor allem schwefelhaltige Aerosole, die die Sonneinstrahlung abschirmen.
     
    Krisen, Krankheiten und Hunger

    Den Verdacht, dass Vulkane auch am krisenhaften Übergang von der Spätantike zum Mittelalter schuld waren, gibt es schon länger. Denn Baumringe und zeitgenössische Chroniken zeugen von klimatischen Veränderungen und damit einhergehenden gesellschaftlichen Krisen in den Jahren ab 536 nach Christus. So berichten zeitgenössische Chronisten wie der Byzantiner Prokopius von einer mysteriösen Wolke, die das Licht der Sommersonne über dem Mittelmeer verdunkelte.

     

    Das gesamte Jahrzehnt zwischen etwa 1535 und 1540 war im Mittelmeerraum und wahrscheinlich auf der gesamten Nordhalbkugel geprägt von Krisen und Katastrophen. Bereits im letzten Jahr hatten Forscher dann in Eisbohrkernen Hinweise darauf entdeckt, dass es genau zu jeder Zeit zwei große Eruptionen gegeben haben könnte.


    Enorme Mengen Schwefel-Aerosole in der Atmosphäre ließen das Klima um bis zu zwei Grad kälter werden.
    Enorme Mengen Schwefel-Aerosole in der Atmosphäre ließen das Klima um bis zu zwei Grad kälter werden.
    Fataler Doppelausbruch

    Ob diese beiden Ausbrüche aber wirklich ausreichten, um die Krisen, Missernten und Seuchenausbrüche zu erklären, haben nun Matthew Toohey vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel und seine Kollegen anhand eines Klima-Aerosol-Modells der Erde überprüft. Dieses erlaubte es ihnen, die von den Vulkanen ausgestoßene Aerosolwolke zu rekonstruieren und ihre Wirkung abzuschätzen.

     

    Das Ergebnis: Der vulkanische Doppelausbruch von 536/540 war stärker als jedes andere dokumentierte Ereignis der vergangenen eineinhalb Jahrtausende, selbst die Tambora-Eruption hatte schwächere Nachwirkungen. "Schon einer der Ausbrüche hätte zu einer deutlichen Abkühlung der Erdoberfläche geführt. Beide so kurz hintereinander haben wahrscheinlich das kühlste Jahrzehnt der vergangenen 2.000 Jahre verursacht", sagt Toohey.
     
    Folgen besonders für Nordeuropa

    Die beiden Eruptionen entließen so viele Aerosole in die Atmosphäre, dass die Sonneneinstrahlung über der Nordhalbkugel für mehrere Jahre reduziert war. Die "geheimnisvolle Wolke" der zeitgenössischen Chronisten dimmte das Licht schon nach der ersten Eruption im Jahr 536 um mehr als zehn Prozent – und das bis zu 18 Monate lang. Als Folge sank die Durchschnittstemperatur um bis zu zwei Grad Celsius.
    Simulierte Sommerdurchschnittstemperaturen im Jahr 536 n. Chr. als Folge der Aerosol-Wolke
    Nordeuropa und insbesondere Skandinavien waren damals wahrscheinlich die Regionen, die am meisten unter der Abkühlung nach den beiden Eruptionen gelitten haben. Aus historischen Aufzeichnungen geht hervor, dass sich Missernten und Hunger sowohl im Mittelmeerraum als auch in Irland und sogar China häuften. In Skandinavien führte der Klimaeinbruch zu schweren gesellschaftlichen Krisen: Siedlungen wurden aufgegeben, Felder lagen brach und die Menschen versuchten, durch Opfer von Tieren und Goldschmuck die Götter zu besänftigen.
     

    "Jede der Eruptionen von 536/540 hat menschliche Gesellschaften wohl beeinflusst. – und das gleich zweimal kurz hintereinander", sagt Koautorin Kirstin Krüger von der Universität Oslo.
     
    Wo lagen die Vulkane?

    Rätselhaft bleibt bisher allerdings noch, welche Vulkane damals konkret ausgebrochen sind. Beim Ausbruch von 540 sprechen die Daten aus der Simulation dafür, dass der Vulkan etwa im Bereich des 15. nördlichen Breitengrad gelegen haben könnte – möglicherweise in Mittelamerika. Die Eruption von 536 dagegen könnte sich in den hohen nördlichen Breiten ereignet haben. "Es werden verschiedene Kandidaten diskutiert, unter anderem in Indonesien, Nord- und Mittelamerika", sagt Toohey. "Aber das müssen zukünftige Untersuchungen zeigen."

     

    Nach Ansicht der Forscher spricht einiges dafür, dass die gesellschaftlichen Veränderungen, die den Beginn des Mittelalters einleiteten, zwar auf eine komplexe Kombination von Ursachen zurückgehen, dass aber die beiden Vulkanausbrüche ebenfalls eine wichtige Rolle spielten. "Denn unsere Ergebnisse stützen die Theorie eines direkten Einflusses der Eruptionen von 536 und 540 auf landwirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen vor allem in Nordeuropa und Skandinavien", so die Forscher. (Climatic Change, 2016; doi: 10.1007/s10584-016-1648-7)
    (GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, 20.04.2016 - NPO)

    Dienstag, 19. April 2016

    Anakreontische Ziegenlyrik.


    Nun also doch nochmal Böhmermann:
     
    Dass zwei Drittel der Deutschen Erdogan nicht mögen und sich ins Fäustchen lachen, durfte in Merkels Erwägungen gar keine Rolle spielen. Ebensowenig wie es ein Aufschrei der Volksseele gedurft hätte, wenn es gegen, sagen wir, Obama kurz nach seinem Amtsantritt gegangen wäre. Das Gesetz ist da, Erdogan hat sich darauf berufen; in der Sache hat ein Gericht zu entscheiden, und zwar nach der Rechtslage und weder nach Popularität noch nach Opportunität.

    Die Bundesregierung muss nach § 103 grünes Licht geben - oder es verweigern: Ein Ermessen hat sie also doch, und ein politisches, sollte man meinen, da sie ja doch ein politisches Organ ist. Aber das bedeutet eben nicht ein politisches Vor-Urteil, sondern soll verhindern, dass irgendein auswärtiger Potentat unter einem Vorwand seine Kritiker auch im Ausland noch verfolgen kann. Dass eben nicht politische Kritik, sondern nur persönliche Beleidigungen vor Gericht gezogen werden dürfen. Und persönlich beleidigend ist von Böhmermanns Gedicht ja jede Zeile, dafür brauchte die Merkel keinen Gutachter. Das Gericht hat nun zu entscheiden, ob diese Beleidigungen trotzdem von den Freiheit der Meinungäußerung und gar der Kunst gedeckt sind. Allein, dass Böhmermann seinen Eimer Ziegendreck vor- und nachher ausdrücklich als verboten bezeichnet hat, reicht ja wohl nicht aus, denn sonst wäre das Gesetz überflüssig...

    Gerade das ist es, sagt die Regierung, und will es abschaffen. Aber erst, wenn es abgeschafft ist, muss es nicht mehr angewendet werden; bis dahin schon. Von Fall zu Fall anders zu entscheiden steht nicht im Ermessen der Regierung, nicht in einem Rechtsstaat und einstweilen wohl nicht einmal in der Türkei.


    PS. Anakreons Hirtenlyrik war bloß erotisch; richtig obszön war die von Theokrit. Keine Türken übrigens, sondern beide Griechen.