Mittwoch, 31. Mai 2017
Ihre beste Zeit kommt erst noch.
Sonntag, 28. Mai 2017
Vor 70 Jahren: der Marshall-Plan.
aus Der Standard, Wien, 27. Mai 2017, 14:00 George Marshall, M., und Harry S. Truman, 2. v. l.
Marshallplan: Die Geburt des Westens
Der
vor 70 Jahren initiierte Marshallplan war nicht nur ein ungemein
erfolgreiches Wiederaufbauprogramm für Europa, sondern schuf die
Grundlage für eine neue Weltordnung – die US-Präsident Donald Trump nun
bedroht
Essay von Eric Frey
Es war eine kurze, nüchterne Rede, die US-Außenminister
George Marshall am 5. Juni 1947 an der Harvard University hielt. In
zwölf Minuten beschrieb er das wirtschaftliche Elend in Europa und
schlug eine konzertierte Hilfe der US-Regierung vor, vor allem, um den
dramatischen Mangel an Devisen für den Import lebenswichtiger Güter zu
finanzieren. "Es ist logisch, dass die Vereinigten Staaten alles in
ihrer Macht Stehende tun sollen, um bei der Wiederherstellung einer
normalen wirtschaftlichen Gesundheit zu helfen, ohne die es keine
politische Stabilität und keinen Frieden geben kann."
Aus diesen Worten erwuchs innerhalb weniger Monate das größte und erfolgreichste internationale Hilfsprogramm der Geschichte. Der Marshallplan dient bis heute als Vorbild für alle größeren internationalen Hilfsinitiativen, von denen allerdings keine ihm auch nur nahekommen konnte. Die – je nach Rechnung – 13 bis 16 Milliarden Dollar, die von 1948 bis 1952 nach Europa flossen, machten rund 2,5 Prozent des amerikanischen BIPs aus – eine heute unvorstellbar hohe Summe. Dazu kamen vergleichbare Gelder für Japan. Jeder einzelne Amerikaner zahlte jahrelang höhere Steuern, um Verbündeten und früheren Feinden aus ihrer Misere zu helfen. Der Marshallplan wirkte aber nicht nur wegen dieser Großzügigkeit und seiner umfassenden wirtschaftspolitischen Auflagen, sondern auch, weil die europäische Wirtschaft hochentwickelt und im Kern gesund war. Sie musste nur wieder in Gang gebracht werden.
Bei der Entstehung dabei
Was Marshall und die Regierung von Präsident Harry Truman damals taten, war allerdings mehr als nur ein wirtschaftliches Projekt. Der Marshallplan war die Grundlage für die Schaffung einer Staatengemeinschaft, die ähnlichen politischen und wirtschaftlichen Werten verpflichtet ist und diese in alle Welt hinaustragen will. Marshalls Rede vor 70 Jahren war die Geburtsstunde dessen, was bis heute der Westen genannt wird. Present at the Creation ("Bei der Entstehung dabei") hat Marshalls damaliger Vertrauter und Nachfolger Dean Acheson, der eigentliche Architekt des Marshallplanes, seine Autobiografie bezeichnenderweise genannt.
Alle Elemente dieser liberalen internationalen Weltordnung waren in seiner Rede enthalten: das Bekenntnis zu Frieden, Demokratie, Marktwirtschaft, freiem Handel und gegenseitiger Solidarität. Nicht Wettbewerb, sondern Kooperation sei das wichtigste Ziel jeder Außen- und Wirtschaftspolitik, das Wohlergehen eines Staates hänge von dem der anderen ab. Diese Gemeinschaft stehe allen Ländern offen, die sich zu den gemeinsamen Werten bekennen; selbst die Sowjetunion war von Marshalls Vorhaben nicht ausgeschlossen. Aber eines stellte er klar: Die Welt brauche eine starke Führung, die mangels Alternative von den USA ausgehen müsse.
Welch ein Kontrast zur 15-Minuten-Rede, die US-Präsident Donald Trump bei seiner Angelobung am 20. Jänner 2017 hielt: Sein "Amerika zuerst"-Appell signalisierte das mögliche Ende jener Ära, die Marshall einst eingeleitet hatte. Seither beobachtet die ganze Welt mit Misstrauen und Sorge, ob Marshalls Visionen oder diejenige von Trumps strategischem Berater Stephen Bannon die amerikanische Politik der kommenden Jahre bestimmen wird. In einem Artikel im aktuellen Foreign Affairs schreibt der prominente Politikwissenschafter John Ikenberry in Anlehnung an einen Philip-Roth-Roman über die "Verschwörung gegen Amerikas Außenpolitik" und stellte darin das Überleben der liberalen Weltordnung infrage.
Wie diese Schlacht innerhalb des Weißen Hauses ausgeht, ist offen. Auch wenn Trumps Instinkte und Worte – nun auch auf seiner Europareise – in eine andere Richtung gehen, stehen viele seiner außenpolitischen und wirtschaftlichen Berater fest in Marshalls und Achesons Tradition und halten den Präsidenten immer wieder davon ab, die von den USA ab 1947 geschaffene Weltordnung – die Welthandelsorganisation, die Nato, die Uno – zu zerstören.
Auch in Europa steht beim Brexit und beim nunmehr gestoppten Vormarsch rechtspopulistischer Kräfte Marshalls Vermächtnis auf dem Spiel. Denn der Marshallplan war auch die Geburtsstunde der europäischen Integration. Schon in seiner Rede vor 70 Jahren forderte der US-Außenminister die europäischen Staaten auf, gemeinsam ihre Bedürfnisse und Beiträge zum Wiederaufbau zu definieren. Zu diesem Zweck gründeten die USA mit ihren Verbündeten 1948 die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), aus der Jahre später die OECD wurde. Sie war die Keimzelle einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik und half beim Abbau von Handelsschranken und der Erleichterung grenzüberschreitender Investitionen.
Keimzelle Europas
Ebenso wichtig war ab 1950 die Europäische Zahlungsunion (EZU), die dem Ausgleich von Defiziten und Überschüssen zwischen den Leistungsbilanzen europäischer Staaten diente – eine Aufgabe, die später vom freien Kapitalverkehr übernommen wurde, aber seit Ausbruch der Euroschuldenkrise wieder zum Teil von überstaatlichen Einrichtungen erfüllt werden muss. Aus diesen US-gesponserten Institutionen erwuchs 1951 die Montanunion, die Keimzelle der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der EU.
Die Unterstützung der europäischen Integration war 70 Jahre lang ein Grundprinzip der US-Außenpolitik; die USA nahmen dafür auch die Schlechterstellung ihrer Waren und Dienstleistungen im europäischen Binnenmarkt in Kauf, um den Frieden auf dem Kontinent zu sichern, auf dem sie zweimal in den Krieg ziehen mussten. Wieder war es Trump, der – zumindest während des Wahlkampfes – diese Haltung als Erster infrage stellte und die EU als von Deutschland geführte Verschwörung gegen US-Handelsinteressen darstellte.
Der Marshallplan wurde auch deshalb zum Geburtshelfer des Westens, weil er die Teilung Europas begründete. Marshalls Angebot richtete sich zwar an alle Europäer vom Atlantik bis zum Ural. Aber wie der österreichische Historiker und Marshallplanexperte Günter Bischof in seinem neuen Buch beschreibt, entschied die Sowjetunion sehr rasch, dass dies ein amerikanischer Plan für eine "westliche Blockbildung" war – und zwang die Staaten unter ihrer Kontrolle, den Plan abzulehnen. Das war insofern richtig erkannt, als der Marshallplan auch darauf abzielte, "durch Schaffung von Wohlstand der Attraktivität der Sowjetunion entgegenzutreten", sagt Bischof. "Der Eiserne Vorhang wurde zur Wohlstandsgrenze", die bis heute zu spüren ist.
Das betraf vor allem Österreich. "Dass Österreich teilnehmen konnte, war eminent wichtig für die Westbindung des Landes", sagt Bischof. Dies sei auch der Klugheit der US-Militärs damals zu verdanken, die sicherstellten, dass Marshallplanmittel auch in die sowjetische Ostzone fließen würden – wenn auch weniger als in den Westen.
Und die Teilnahme an den OEEC-Sitzungen in Paris prägte eine ganze Generation österreichischer Politiker, sagt Bischof: "Kreisky schrieb einmal: Österreicher gingen nach Paris und wurden dort zu Europäern."
Langsamer Zerfall
Wie sehr der Marshallplan und die westliche Allianz Bauplan für eine liberale Weltordnung oder Instrument des Kalten Krieges waren, darüber gehen bis heute die Meinungen auseinander. Politikwissenschafter aus der Schule des Realismus wie Stephen Walt sagten schon in den 1990er-Jahren den langsamen Zerfall des Westens voraus (The Ties That Fray – Why Europe and America are Drifting Apart), nachdem der gemeinsame Feind Sowjetunion abhandengekommen sei.
Aber trotz aller Spannungen, vor allem nach der US-Invasion des Irak, hat Marshalls Vision der gemeinsamen Wirtschaftsinteressen, politischen Ziele und Werte überlebt – und ist heute nicht mehr auf Nordamerika und Europa beschränkt. Und auch die ersten Monate der Trump-Präsidentschaft geben Grund zur Hoffnung, dass die Idee des Westens auch diese Präsidentschaft überlebt.
Freitag, 26. Mai 2017
Mittwoch, 24. Mai 2017
Don Alfonso über Leitkultur.
aus FAZ.NET, 24. 5. 2017
... Man kann die Idee einer Leitkultur und einer Identität leicht verneinen, wenn man sich über Normen einig ist: Dann scheint es, als gäbe es so etwas gar nicht, weil es jeder automatisch tut, und man es nicht als relevant ansieht. Niemand käme auf die Idee, Ehebruch in Deutschland zu einer gesellschaftlichen Norm zu erklären: Das wird halt bei uns so gemacht, bis hinauf zum höchsten Politikerinnen und Politikern gleich welcher Partei.
Dass es sehr wohl etwas mit unserer Identität zu tun hat, merkt man erst, wenn man in die andernorts geltende Scharia blickt. Es muss ja nicht gleich Steinigung sein, aber es gibt international sehr unterschiedliche Vorstellungen, welches Verhalten statthaft ist.
Man denkt darüber einfach nicht nach, wenn man daheim ist. Aber wer nicht glaubt, dass es so etwas wie eine spezifisch deutsche Leitkultur gibt, sollte einfach längere Zeit im Ausland verbringen – es muss noch nicht einmal Iran oder Nordkorea sein.
... Man kann die Idee einer Leitkultur und einer Identität leicht verneinen, wenn man sich über Normen einig ist: Dann scheint es, als gäbe es so etwas gar nicht, weil es jeder automatisch tut, und man es nicht als relevant ansieht. Niemand käme auf die Idee, Ehebruch in Deutschland zu einer gesellschaftlichen Norm zu erklären: Das wird halt bei uns so gemacht, bis hinauf zum höchsten Politikerinnen und Politikern gleich welcher Partei.
Dass es sehr wohl etwas mit unserer Identität zu tun hat, merkt man erst, wenn man in die andernorts geltende Scharia blickt. Es muss ja nicht gleich Steinigung sein, aber es gibt international sehr unterschiedliche Vorstellungen, welches Verhalten statthaft ist.
Man denkt darüber einfach nicht nach, wenn man daheim ist. Aber wer nicht glaubt, dass es so etwas wie eine spezifisch deutsche Leitkultur gibt, sollte einfach längere Zeit im Ausland verbringen – es muss noch nicht einmal Iran oder Nordkorea sein.
Sonntag, 21. Mai 2017
Eine Ethik für die digitale Revolution?
Innovation 4.0: Der Mensch im Mittelpunkt der vierten industriellen Revolution
Claus Schönberner
Pressestelle
Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb
17. 5. 2017
Eine Standortbestimmung von Ethik in der 4.0-Ära: Das World Forum for Ethics in Business und das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb haben eine Konferenzserie ins Leben gerufen, um eine Debatte aller beteiligten Akteure zum Thema „Ethik in der Innovation“ anzustoßen. Die erste Konferenz findet vom 26. bis 27. Juni 2017 in München statt.
In Anbetracht der Notwendigkeit, ethische Standards, Regulierungen und Führungsstrukturen im Bereich Innovation zu diskutieren und neu zu definieren, richten das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb und das World Forum for Ethics in Business, in Partnerschaft mit dem Europäischen Patentamt, dem Deutschen Patent- und Markenamt sowie dem Peter Löscher Lehrstuhl für Wirtschaftsethik der Technischen Universität München, die „Münchner Konferenzreihe über Ethik in der Innovation“ aus. Die erste Konferenz findet vom 26. bis 27. Juni 2017 im Deutschen Patent- und Markenamt in München statt und konzentriert sich auf die Informations- und Kommunikationstechnologien mit besonderem Schwerpunkt auf Innovationen im digitalen Zeitalter, einschließlich künstlicher Intelligenz, Internet of Things und Big Data.
Die Konferenz wird rund 300 globale Denker und führende Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Nichtregierungsorganisationen zusammenbringen und verschiedene zentrale Fragen adressieren:
• Innovation 4.0: Kann Wachstum wirklich das übergeordnete Leitbild der vierten industriellen Revolution sein? Wie können wir sicherstellen, dass diese Revolution gemeinsame Werte generiert und menschlich zentriert ist, anstatt zu trennen und zu entfremden?
• Leadership 4.0: Welche Art von Führung benötigen Organisationen, um innovativ sein und sich mit der erforderlichen Geschwindigkeit verändern zu können?
• Bildung 4.0: Kann wertorientierte Bildung die Antwort auf die Notwendigkeit adäquater Führung sein?
Zu den bestätigten Referenten zählen unter anderen Prof. Dr. Ferdi Schüth, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft; Prof. Dr. Josef Drexl, Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb; Prof. Dr. Christoph Lütge, Peter Löscher Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der TU München; Sri Sri Ravi Shankar, Gründer des World Forum for Ethics in Business; Jo Leinen, Mitglied des Europäischen Parlaments; Jaan Tallinn, Mitbegründer von Skype; Robert Hansor, Direktor für globale Nachhaltigkeitspolitik und Systeme bei Huawei Technologies; sowie Prof. Dr Luciano Floridi, Universität Oxford.
Ein Highlight der Konferenz wird der „Appell der Jugend“ sein: Ausgewählte Studenten und Berufseinsteiger bekommen die Möglichkeit, drei Tage vor der Konferenz im Rahmen des „World Youth Forum“ an einem ganzheitlichen Leadership-Training teilzunehmen, bei dem sie mit internationalen Führungspersönlichkeiten interagieren (https://www.wyfei.org/). Bereits über 350 junge Menschen aus mehr als 30 Ländern haben in den letzten Jahren an einem „World Youth Forum“ teilgenommen. Für dieses Jahr haben sich bereits rund 200 Studenten aus der ganzen Welt beworben; die Bewerbungsfrist wurde bis 30. Mai 2017 verlängert. Das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb wird die Top 50-Kandidaten am 1. Juni 2017 bekannt geben.
Die mit der „Ethics in Innovation“-Konferenz und dem „World Youth Forum“ verbundene Forschung wird von einem international besetzten Team unter Führung von Prof. Dr. Josef Drexl, Prof. Dr. Christoph Lütge, Dr. Mrinalini Kochupillai und Dr. Arul Scaria durchgeführt.
Die Konferenz ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Weitere Informationen, insbesondere zur Anmeldung und zu den Referenten, finden Sie unter: http://wfeb.org/
Über die Veranstalter
Das World Forum for Ethics in Business (WFEB) ist eine eingetragene, gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Belgien (N° 822.216.342). Der Auftrag des Forums beinhaltet die unterschiedlichsten Aktivitäten, um unverzichtbare ethische Grundlagen wirtschaftlichen Handelns in einer globalisierten Umgebung zu verfolgen und zu etablieren. Sie stellt eine Plattform bereit zur Förderung und zum Schutz der Lösungsansätze für ethisches Verhalten in Unternehmen sowie im Bereich Unternehmensführung, Sie erleichtert den weltweiten Dialog und fördert die Zusammenarbeit zwischen dem privaten Sektor, der Wissenschaft, den Regierungsbehörden, den internationalen Organisationen und den Medien. Ebenso gilt das Hauptaugenmerk der Organisation auch den spirituellen und säkularen Gemeinschaften sowie allen anderen Interessengruppen. Das WFEB hält einen Sonderberaterstatus im Wirtschafts-und Sozialrat der Vereinten Nationen inne. Präsidentin des World Forum for Ethics in Business ist Rajita Kulkarni. Vorstandsmitglieder sind Abha Joshi-Ghani, Vice-President, Leadership, Learning and Innovation, The World Bank; Jo Leinen, Mitglied des Europäischen Parlaments, Nirj Deva, Mitglied des Europäischen Parlaments, Madhu Rao, Vice-Chairman der Shangri-La Hotelkette, Roland Glaser, früherer CEO der Minerva Schulen und Ram Lakhina, Vorsitzender der Indischen Industrie- und Handelskammer in den Niederlanden. Managing Directors des WFEB sind Christoph Glaser und Ewald Poeran. Weitere Informationen unter: http://wfeb.org/
Im Mittelpunkt der Forschung am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb stehen die Erforschung von Innovations- und Wettbewerbsprozessen sowie die Erarbeitung von Vorschlägen für die Gestaltung der Rahmenbedingungen für diese Prozesse. Die Forschungsfragen werden in einer rechtswissenschaftlichen und einer wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung untersucht. Das Institut wurde im Jahr 1966 als Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht gegründet. Nach der Einrichtung einer neuen wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung wurde es im Jahr 2013 in Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb umbenannt. Das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb ist eines von 83 Instituten der Max-Planck-Gesellschaft, eine von Deutschlands führenden Forschungsorganisationen. In der Auswahl und Durchführung ihrer Forschungsaufgaben sind die Max-Planck-Institute frei und unabhängig. Sie verfügen daher über einen eigenen, selbst verwalteten Haushalt, der durch Projektmittel von dritter Seite ergänzt werden kann. Die Forschung am Institut muss den wissenschaftlichen Exzellenzkriterien der Max-Planck-Gesellschaft genügen, was durch regelmäßige Evaluation überprüft wird. Weitere Informationen unter: http://ip.mpg.de/
Samstag, 20. Mai 2017
Sozialität und Paarbildung.
aus derStandard.at, 4. April 2017, 10:18
Wurzeln der Kooperation liegen in engen Zweier-Freundschaften
Österreichischer Biomathematiker Martin Nowak entdeckte Formel für die Entwicklung von Zusammenarbeit in einer Gesellschaft
Wien – Enge Zweierfreundschaften sind mehr wert als ein loses Netzwerk an Bekanntschaften, wenn es um den Zusammenhalt in einer Gesellschaft geht: Zu diesem Schluss kommt ein Team um den österreichischen Biomathematiker Martin Nowak. Die Forscher fanden erstmals eine Gleichung, wie die natürliche Selektion in einer realistischen Bevölkerung Kooperation hervorbringt. Die Studie erschien im Fachmagazin "Nature".
Bisher konnte man nur ausrechnen, wie Kooperation in einer Population entsteht, wenn jeder exakt gleich viele Bekanntschaften hat, erklärte Nowak, der an der Harvard University (USA) forscht. Die mathematische Beschreibung eines wirklichkeitsnahen Beziehungsnetzwerks sei eigentlich so komplex, dass sie laut gängiger Computerwissenschaft gar nicht möglich ist – ausgenommen in Grenzfällen.
Grenzfälle in Beziehungsnetzwerken
"Wenn die Evolution nur schwach wirkt und vieles vom Zufall abhängt, ist genau so ein Grenzfall", sagte Nowak. Bei regelmäßigen Treffen mit Mathematik-Kapazundern wie dem Fields Medaillen-Gewinner Shing-Tung Yau und dem Mathematik-"Jungstar" Ben Allen sei man schließlich auf die Formel gekommen.
Schon 1992 hat Martin Nowak mit seinem damaligen Mentor Robert May (heute Lord May of Oxford) in "Nature" eine Arbeit veröffentlicht, bei der gezeigt wurde, dass bestimmte Beziehungsstrukturen in einer Bevölkerung Kooperation ermöglichen. "Seit damals sucht man nach der allgemeinen Formel, die jetzt gefunden wurde", erklärte er. Wenig Kooperation auf Basis von Facebook
Die Forscher untersuchten mit dieser Formel verschiedenste Beziehungsnetzwerke bei Menschen, Delfinen und Primaten. Am wenigsten Kooperation brachte dabei das soziale Internet-Netzwerk Facebook hervor, berichten sie.
"Am besten für die Kooperation sind stabile paarweise Beziehungen, also Partnerschaften und Freundschaften", sagte Nowak. Sie bilden quasi das Rückgrat der Zusammenarbeit in einer Gesellschaft und könnten durch eine große Zahl an losen Bekanntschaften und Verbindungen niemals ersetzt werden. (APA, red,)
Abstract
Nature: "Evolutionary dynamics on any population structure."
Wurzeln der Kooperation liegen in engen Zweier-Freundschaften
Österreichischer Biomathematiker Martin Nowak entdeckte Formel für die Entwicklung von Zusammenarbeit in einer Gesellschaft
Wien – Enge Zweierfreundschaften sind mehr wert als ein loses Netzwerk an Bekanntschaften, wenn es um den Zusammenhalt in einer Gesellschaft geht: Zu diesem Schluss kommt ein Team um den österreichischen Biomathematiker Martin Nowak. Die Forscher fanden erstmals eine Gleichung, wie die natürliche Selektion in einer realistischen Bevölkerung Kooperation hervorbringt. Die Studie erschien im Fachmagazin "Nature".
Bisher konnte man nur ausrechnen, wie Kooperation in einer Population entsteht, wenn jeder exakt gleich viele Bekanntschaften hat, erklärte Nowak, der an der Harvard University (USA) forscht. Die mathematische Beschreibung eines wirklichkeitsnahen Beziehungsnetzwerks sei eigentlich so komplex, dass sie laut gängiger Computerwissenschaft gar nicht möglich ist – ausgenommen in Grenzfällen.
Grenzfälle in Beziehungsnetzwerken
"Wenn die Evolution nur schwach wirkt und vieles vom Zufall abhängt, ist genau so ein Grenzfall", sagte Nowak. Bei regelmäßigen Treffen mit Mathematik-Kapazundern wie dem Fields Medaillen-Gewinner Shing-Tung Yau und dem Mathematik-"Jungstar" Ben Allen sei man schließlich auf die Formel gekommen.
Schon 1992 hat Martin Nowak mit seinem damaligen Mentor Robert May (heute Lord May of Oxford) in "Nature" eine Arbeit veröffentlicht, bei der gezeigt wurde, dass bestimmte Beziehungsstrukturen in einer Bevölkerung Kooperation ermöglichen. "Seit damals sucht man nach der allgemeinen Formel, die jetzt gefunden wurde", erklärte er. Wenig Kooperation auf Basis von Facebook
Die Forscher untersuchten mit dieser Formel verschiedenste Beziehungsnetzwerke bei Menschen, Delfinen und Primaten. Am wenigsten Kooperation brachte dabei das soziale Internet-Netzwerk Facebook hervor, berichten sie.
"Am besten für die Kooperation sind stabile paarweise Beziehungen, also Partnerschaften und Freundschaften", sagte Nowak. Sie bilden quasi das Rückgrat der Zusammenarbeit in einer Gesellschaft und könnten durch eine große Zahl an losen Bekanntschaften und Verbindungen niemals ersetzt werden. (APA, red,)
Abstract
Nature: "Evolutionary dynamics on any population structure."
Montag, 15. Mai 2017
Dieser Zug ist abgefahren.
Samstag, 6. Mai 2017
Der Krieg ist nicht Mutter, sondern Vater aller Dinge.
Schimpanse
aus Die Presse, Wien, 04.05.2017 um 06:56Wie Krieg Schimpansen prägt
Das Verhalten nach außen schlägt durch auf die Sozialstruktur: Schimpansen tun sich mit Männchen zusammen, Bonobos mit Weibchen.
von Jürgen Langenbach
„Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab“, brachte alles Elend in die Welt: „Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen hätte.“ So sah 1755 Rousseau den Sündenfall, mit dem die Menschheit aus dem Paradies der Natur auszog. Dorthin wollte er nicht zurück, er hatte die Utopie einer ganz anderen Gesellschaftsform, aber eine Idylle war sie doch für ihn, die Natur.
Dabei geht es in ihr oft auch so zu, als hätte jemand Zäune gezogen: Da werden Reviere beansprucht und mit Klauen und Zähnen verteidigt oder auch erobert. So halten es unsere einen nächsten Verwandten, die Schimpansen, sie sind – außer uns – die einzigen, die über Nachbarn herfallen und sie erschlagen. Unsere anderen nächsten Verwandten, die Bonobos, agieren ganz anders, sie leben in äußerem Frieden und im Inneren auch, letzteren sichern sie durch exzessive Sexualität. Verwandt sind wir mit beiden in gleichen Graden: Unsere Ahnen spalteten sich vor etwa acht Millionen Jahren vom gemeinsamen Ast ab, Schimpansen und Bonobos gingen vor zwei Millionen Jahren getrennte Wege.
Ähnlicher in der Physiologie sind uns die Bonobos, das zeigen die Gene, die Muskeln auch Bernard Wood (George Washington University) hat es gerade erhoben (Scientific Reports 29. 4.). Beim Verhalten ist es anders: „Während Schimpansen ausgesprochen territorial sind, was sich in feindseligen Begegnungen zwischen Gruppen mit oft tödlichem Ausgang äußert, unterhalten Bonobos eher friedliche Beziehungen zu anderen Gruppen, Begegnungen enden nicht tödlich.“
Männchen kämpfen um Revier
So formuliert es Martin Surbeck (Leipzig), und er ist in langjährigen Feldbeobachtungen den sozialen Folgen nachgegangen: Bei Schimpansen bleiben Weibchen und Männchen eher unter sich, die Männchen suchen Freunde und Verbündete unter anderen Männchen: Zusammen kämpfen sie um das Gruppenrevier, und bei internen Rangeleien sind männliche Verbündete auch hilfreich.
Bei Bonobos tun sich auch Weibchen zusammen – aber Männchen halten sich auch an Weibchen, oft Söhne an die Mütter, die helfen ihnen, den Rang in der Gruppe zu steigern (Roy. Soc. Open Science 3. 5.) „Das Führen von Kriegen scheint einen fundamentalen Einfluss auf die Struktur einer Gesellschaft zu haben“, schließt Surbeck.
aus derStandard.at, 6. Mai 2017, 09:00 Bonobo-Weibchen
Unsere Urahnen könnten Bonobos geglichen haben
Zwei Studien rollen eine alte Frage neu auf: Die nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Schimpanse, Bonobo und Mensch
Leipzig/Washington – Seit der Bonobo (Pan paniscus), vormals "Zwergschimpanse", Ende der 1920er Jahre als eigene Spezies identifiziert wurde, wogte eine Debatte darüber, ob nun er oder doch der Gemeine Schimpanse (Pan troglodytes) unser nächster Verwandter sei. Diese Diskussion hatte durchaus weltanschauliche Hintergedanken, denn die beiden engst miteinander verwandten Menschenaffenarten unterscheiden sich in ihrem Verhalten beträchtlich.
Ungleiche Verwandte
Spätestens seit dem "Schimpansenkrieg von Gombe" in den 1970er Jahren, einer mehrjährigen brutalen Auseinandersetzung zwischen zwei Schimpansengruppen, werden die Tiere zunehmend als ähnlich gewaltbereit wie der Mensch betrachtet.
Nimmt man die Popkultur als zuverlässiges Seismometer für diffuse Gefühlslagen, kann man den Imagewandel der Schimpansen an den "Planet der Affen"-Filmen ablesen: Waren sie in der Originalserie der späten 60er und frühen 70er in Kontrast zu den vermeintlich gewalttätigen Gorillas noch Ausgeburten von Vernunft und Friedfertigkeit, so kehrten sich im Remake von 2001 die Verhältnisse um: Ein Schimpanse übernahm nun die Schurkenrolle.
Demgegenüber gelten Bonobos geradezu als "Hippies". Die in matriarchalisch geführten Gruppen lebenden Tiere verzichten weitgehend aufs Kämpfen und lösen zwischenäffische Probleme bevorzugt mit Sex – in jeder denkbaren Konstellation. Beobachtungen in der jüngeren Vergangenheit haben zwar gezeigt, dass Bonobos keine hundertprozentigen Pazifisten sind – es kann zu Kämpfen kommen, und manchmal machen sie auch Jagd auf andere Affenarten. Im Vergleich zum Gemeinen Schimpansen (und uns) werden sie ihrem "Make love, not war"-Image aber gerecht.
Was den Verwandtschaftsgrad anbelangt, wird in der Primatenforschung mittlerweile von einer genetischen Äquidistanz ausgegangen: Bonobo und Schimpanse stehen uns gleich nahe. Der letzte gemeinsame Vorfahre aller drei heutigen Spezies soll vor etwa 8 Millionen Jahren gelebt haben. Dann spaltete sich die Stammlinie des Menschen ab. Die Trennung der beiden Menschenaffenarten erfolgte wesentlich später – vielleicht vor 2 Millionen Jahren, vielleicht sogar vor weniger als einer.
Unterschiedliche Wege
Der Grund für die Trennung dürfte ein geografisches Hindernis gewesen sein: der Kongo-Fluss. Bonobos kommen nur südlich des Kongo vor und sind reine Regenwaldbewohner. Nach traditioneller Auffassung ist die Nahrungssuche in ihrem Verbreitungsgebiet leicht genug, um ein ruhiges Leben ohne größere Konkurrenzkämpfe mit benachbarten Bonobogruppen oder innerhalb der eigenen zu führen.
Schimpanse
In der aktuellen Ausgabe von "Royal Society Open Science" führen Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie diese These weiter. Bei Beobachtungen von Schimpansen- und Bonobogruppen in mehreren afrikanischen Ländern stellte das Team um Martin Surbeck einen durchgängigen Unterschied in den Sozialkontakten der beiden Spezies fest: Bonobos egal welchen Geschlechts wenden sich primär an Weibchen – und am liebsten an ihre Mütter. Bei Schimpansen hingegen herrscht eine viel stärkere Geschlechtertrennung.
Die Forscher vermuten, dass dies mit dem aggressiven Verhalten von Schimpansen zusammenhängt. Männchen kooperieren sowohl bei Jagden als auch bei den immer wieder stattfindenden Angriffen auf benachbarte Schimpansengruppen: zwei Faktoren, die bei Bonobos weitestgehend entfallen. "Das Führen von Kriegen scheint einen fundamentalen Einfluss auf die Struktur einer bestimmten Gesellschaft zu haben", philosophiert Surbeck.
Bonobo-Mutter
Parallel dazu ist in "Scientific Reports" eine US-Studie erschienen, die den Bonobo ein kleines bisschen näher an den Menschen heranrückt als den Schimpansen – wenn auch nicht genetisch. Forscher um Rui Diogo von der Howard University in Washington gingen die anatomischen Merkmale der drei Spezies durch, insbesondere die Funktionalität der Muskulatur. Zuvor waren auch Erbgut-Analysen durchgeführt worden.
Die Forscher sprechen von einer "mosaikartigen" Evolution der drei Spezies: In einigen Aspekten ähneln Bonobos stärker Menschen als Schimpansen, in anderen ist es umgekehrt – und wieder andere Merkmalsausprägungen werden nur von Menschen und Schimpansen geteilt. Jede der beiden Menschenaffenarten teile mit dem Menschen etwa drei Prozent genetische Merkmale, die in der anderen nicht enthalten sind.
Der Urform am nächsten
Der wichtigste Befund aus der vergleichenden Analyse waren aber Hinweise darauf, dass sich die Anatomie der drei Arten im Lauf der Zeit unterschiedlich stark weiterentwickelt haben muss. Und die Bonobos – vielleicht weil sie in einem weitgehend unverändert gebliebenen Habitat zuhause sind – hätten sich körperlich am wenigsten verändert.
Schimpansenkind
Was mit anderen Worten heißt: Die Bonobos hätten das Aussehen der gemeinsamen Stammform aller drei Spezies am stärksten bewahrt – und damit auch jenes Vorfahren des Menschen, der vor acht Millionen Jahren lebte. Allerdings betrifft dies nur das Äußere. Wie sich unser Urahn verhielt, ob friedlich oder kriegerisch, bleibt reine Spekulation. (jdo)
Links
- Scientific Reports: "Bonobo anatomy reveals stasis and mosaicism in chimpanzee evolution, and supports bonobos as the most appropriate extant model for the common ancestor of chimpanzees and humans"
- Royal Society Open Science: "Sex-specific association patterns in bonobos and chimpanzees reflect species differences in cooperation"
Donnerstag, 4. Mai 2017
Der alte Maulwurf, oder Das garantierte Grundeinkommen.
aus Der Standard, Wien, 4. Mai 2017
"Bei Grundeinkommen in den USA wäre Trump nie Präsident geworden"
Für Populisten und Wutbürger wäre in einer Gesellschaft mit Grundeinkommen wenig Platz, glaubt Unternehmer Häni
Interview von Verena Kainrath
STANDARD: Sie fragen Menschen regelmäßig, was sie arbeiten würden, wenn für ihr Einkommen gesorgt wäre. Was würden Sie denn tun?
Häni: Das Gleiche, aber besser. Es geht beim bedingungslosen Grundeinkommen ja nicht um mehr Geld, sondern um mehr Freiheit. Könnten Menschen ihre Fähigkeit freier einbringen, würde das zu besseren Arbeitsresultaten führen und die Gesellschaft dynamisieren.
STANDARD: Was macht Sie so sicher, dass der Mensch im Grunde seiner Seele nicht doch ein Faulpelz ist?
Häni: Bei Kindern können Sie das gut beobachten: Wenn Sie ihnen was auftragen, ohne ihnen zu vermitteln, ob es Sinn macht, wollen sie es nicht machen. Dann ist Faulheit etwas Gesundes. Das Grundeinkommen setzt keinen besseren Menschen voraus, und es ist auch keine karitative Veranstaltung. Es geht darum, eine Gesellschaft durch weniger Bevormundung auf gesündere Beine zu stellen.
STANDARD: Mit Einkommen, an das keinerlei Leistung geknüpft ist?
Häni: Menschen sind weniger manipulierbar und verführbar, ist ihre Existenz gesichert. Hätten die USA das bedingungslose Grundeinkommen, wäre Trump niemals Präsident geworden. In Österreich hätten populistische Bewegungen am rechten Rand weniger Zulauf. Wir hätten weniger Wutbürger, dafür mehr Mutbürger.
STANDARD: Eine These. Bisher hat jedoch keine einzige Gesellschaft Erfahrungen damit.
Häni: Sie haben recht. Meine Erfahrung aber ist, dass Menschen arbeiten wollen; sie wollen es nur selbstbestimmt tun. Zudem stecken wir durch die Digitalisierung im Umbruch. Fleiß und Gehorsam waren einst große Tugenden. In Zukunft sind wir mit ihnen schlecht aufgestellt. Was es braucht, sind keine gehorsamen, sondern kreative und selbstbestimmte Menschen. Das Grundeinkommen ist überfällig und nur eine Frage der Zeit. Offen ist, ob es aus der Not heraus kommen wird, oder ob wir es hinbringen, es uns gegenseitig zuzusprechen.
STANDARD: Gönnen Menschen ihren Mitmenschen eine Existenz ohne Bedingungen? Überschätzen Sie ihre Menschlichkeit nicht erheblich?
Häni: Das Gönnenkönnen müssen wir noch lernen. In der Schweiz waren bei der ersten Abstimmung 23,1 Prozent dafür. Das ist ein bemerkenswerter erster Schritt.
STANDARD: Werden die Schweizer weitere Anläufe dazu nehmen?
Häni: Ja. Wir haben sie am Abstimmungssonntag gefragt, ob sie denken, dass es eine zweite Abstimmung geben wird. 69 Prozent gingen davon aus. Es wird nicht heute oder morgen sein – aber vielleicht schneller, als wir denken.
STANDARD: Die Finnen und Niederländer experimentieren derzeit damit. Was hören Sie von ihnen?
Häni: Aus den Niederlanden gibt es noch keine Resultate, Finnland gibt nicht viel dazu her. Dort wird getestet, was passiert, ist Arbeitslosengeld an keine Bedingung geknüpft. Mit bedingungslosem Grundeinkommen hat das aber wenig zu tun.
STANDARD: In Österreich wird ein Mindesteinkommen diskutiert. Ist das für Sie eine Alternative?
Häni: Das ist ein Festhalten am alten System, ein Pflaster auf der infizierten Wunde. Man versucht, einen Schaden aus der Vergangenheit zu flicken. Dass man von der Erwerbsarbeit leben kann, muss selbstverständlich sein, alles andere ist eine Schande.
STANDARD: Auch ein Frauenvolksbegehren soll Baustellen beim Einkommen hierzulande beseitigen.
Häni: Eine weitere Schande ist es, dass unsere Gesellschaft Frauen derart benachteiligt. Das höchste Armuts- risiko ist es, Frau und alleinerziehend zu sein. Das Grundeinkommen ist eine gute Antwort darauf. Es ist uremanzipatorisch.
STANDARD: Die Gretchenfrage aber bleibt die Finanzierung.
Häni: Es ist kein zusätzliches Einkommen, wir müssen deswegen ja nicht mehr Geld drucken. Die entschei- dende Frage ist, warum wir es nicht wollen. Ist es Angst vor Machtverlust? Angst, man könne Menschen nicht an der Leine führen? Ich aber will in keiner Gesellschaft leben, in der die Toiletten geputzt werden, nur weil Leute, die das tun, Existenzangst haben. Mit Details der Finanzierung sollten wir uns nicht aufhalten, bevor der Grundsatz entschieden ist.
STANDARD: Und was wird aus den Jobs, die keiner machen will?
Häni: Die müssen wir besser wertschätzen. Wieso verdient die Kindergärtnerin weniger als der Investment- banker, obwohl ihre Arbeit wahrscheinlich wertvoller für die Gesellschaft ist? Investmentbanker schaffen sich im Übrigen durch die Digitalisierung selbst ab, weil Computer besser Lottospielen können als sie.
STANDARD: Was ist mit Sozialleistungen? Wer bezahlt Krankenversicherungen, Pensionen, Unterhalt? Was ist mit jenen, die zusätzliche staatliche Hilfestellung benötigen?
Häni: Keine soziale Errungenschaft wird abgeschafft. Wo höhere Sozialleistung nötig ist, wird sie natürlich bestehen bleiben. Es geht nicht um ein Sparprojekt.
STANDARD: Die Kluft zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Kritiker des Grundeinkommens sehen darin kein probates Mittel, um diese Entwicklung zu bremsen.
Häni: Es ist auch kein Umverteilungsprojekt von Geld, sondern eine Umverteilung von Macht. Es wird immer Menschen mit viel und mit weniger Geld geben. Aber Konkurrenz um die Existenz ist menschenunwürdig und verderblich. Gibt es den prekären Niedriglohnbereich nicht mehr, tut dies der gesamten Gesellschaft gut.
STANDARD: Die Wirtschaft leidet bereits jetzt unter Fachkräftemangel. Was, wenn sich das Gros der Leute entscheidet, lieber zu garteln, als sich zum Mechatroniker ausbilden zu lassen, lieber Bilder zu malen, als IT-Experte zu werden?
Häni: Die Menschen werden ihren Talenten mehr nachgehen, was zu einer höheren Qualifizierung führen wird. Unser Fachkräftemangel hat mit dem Schulsystem von heute zu tun: Und es braucht etwa für das Handwerk ebenso mehr Wertschätzung wie für den Bereich der Pflege.
STANDARD: Warum kam eine der Initialzündungen für das Grundeinkommen gerade aus der vermögenden Schweiz?
Häni: Es geht um großen zivilisatorischen Fortschritt, um unsere Gesellschaft auf die nächste Stufe zu bringen. Die Schweiz hat dazu mit der Volksabstimmung das richtige politische Instrument.
STANDARD: Würde die Schweiz mit einem Grundeinkommen nicht ein Magnet für Zuwanderer werden?
Häni: Nein, das Grundeinkommen ist migrationsneutral. Man müsste natürlich mit einer Frist regeln, ab wann und wie lange man dazu berechtigt ist.
STANDARD: Sie selbst kämpfen seit bald 30 Jahren fürs Grundeinkommen. Was treibt Sie dabei eigentlich an?
Häni: Ich habe den Eindruck, die Menschen arbeiten unter ihren Möglichkeiten. Hören wir doch endlich auf damit, ihnen die Lust am Leben zu nehmen. Viele sind frustriert, rennen im Halbschlaf rum, ducken sich und halten den Mund. Als Arzt würde ich mehr Selbstbestimmung und einen Schuss Anarchie verschreiben.
Daniel Häni (50) gründete die "Initiative Grundeinkommen" und war einer der führenden Köpfe hinter der Schweizer Volksabstimmung. Einst Hausbesetzer, führt er heute in Basel mit 80 Mitarbeitern das größte Kaffeehaus der Schweiz. Häni veröffentlichte jüngst mit Philip Kovce ein Manifest zum Grundeinkommen: "Was würdest Du arbeiten, wenn für Dein Einkommen gesorgt wäre?"
Homepage der Grundeinkommens-Initiative
Nota. - Was passieren würde, wenn niemand mehr zu Erwerbsarbeit gezwungen würde, weil für seinen Lebensunterhalt gesorgt iat, sehen wir an unseren Kindern. Wovor ihnen am meisten graut, ist Langeweile, und wenn sie die Schule verabscheuen, dann aus diesem Grund. Dass Kinder nur das gern tun, was keine Anstrengung kostet, kann nur glauben, wer noch nie auf einem öffentlichen Sportplatz, nie in einer Badeanstalt und sogar noch nie in einem städtischen Park gewesen ist. Man muss sie im Gegenteil immer wieder mal bremsen und zur Ruhe anhalten; dann merken sie nach einer Viertelstunde, dass Muße nicht nur erbaulich ist, sondern sogar fesselnd sein kann.
Mit andern Worten, dass bei einem garantierten Grundeinkommen die Gesellschaft an Faulheit zugrunde ginge, ist keine Befürchtung, sondern eine wissentliche Lüge.
Sicher wird es immer einen Grundbestand an Leuten geben, die von Natur träge sind. Den gibt es auch heute, auch heute wird er von den andern durchgeschleppt. Aber heute sind sie dabei gezwungen, etwas zu tun, was sie nicht gerne tun, und das tun sie schlecht. Unterm Strich schadet diese Sorte erzwungener Erwerbsarbeit der Gesellschaft.
Weiß einer nicht, was ich meine? Der soll sich nurmal bei uns (Ich wohne in Berlin) in der Öffentlichen Ver- waltung umsehen!
*
Auf die Frage nach der Finanzierbarkeit hat Häni die richtige Antwort gegeben: Die entscheidende Frage ist, warum wir es nicht wollen.
In den westlichen Gesellschaftten ist die Produktivität der Arbeit - der Arbeit derer, die noch immer welche haben - so exorbitant, dass sie alle, die nicht arbeiten (wollen oder) dürfen, mühelos miternähren könnte, wenn die Gesellschaft dafür organisiert wäre. Das Dass steht außer Frage. Ein Wie wird sich selbstverständlich nicht finden lassen, wenn man es gar nicht erst will. Wenn man es aber will, wird man einen Weg finden. Was wie objektive Hindernisse aussieht, wird sich im Grunde auf subjektive Bedingungen zurückführen lassen.
Das ganze Problem liegt im Wollen. Wer nicht will und warum er nicht will - das muss die Kampagne ans Tageslicht bringen; das allein wäre schon all den Aufwand wert.
JE
"Bei Grundeinkommen in den USA wäre Trump nie Präsident geworden"
Für Populisten und Wutbürger wäre in einer Gesellschaft mit Grundeinkommen wenig Platz, glaubt Unternehmer Häni
Interview von Verena Kainrath
STANDARD: Sie fragen Menschen regelmäßig, was sie arbeiten würden, wenn für ihr Einkommen gesorgt wäre. Was würden Sie denn tun?
Häni: Das Gleiche, aber besser. Es geht beim bedingungslosen Grundeinkommen ja nicht um mehr Geld, sondern um mehr Freiheit. Könnten Menschen ihre Fähigkeit freier einbringen, würde das zu besseren Arbeitsresultaten führen und die Gesellschaft dynamisieren.
STANDARD: Was macht Sie so sicher, dass der Mensch im Grunde seiner Seele nicht doch ein Faulpelz ist?
Häni: Bei Kindern können Sie das gut beobachten: Wenn Sie ihnen was auftragen, ohne ihnen zu vermitteln, ob es Sinn macht, wollen sie es nicht machen. Dann ist Faulheit etwas Gesundes. Das Grundeinkommen setzt keinen besseren Menschen voraus, und es ist auch keine karitative Veranstaltung. Es geht darum, eine Gesellschaft durch weniger Bevormundung auf gesündere Beine zu stellen.
STANDARD: Mit Einkommen, an das keinerlei Leistung geknüpft ist?
Häni: Menschen sind weniger manipulierbar und verführbar, ist ihre Existenz gesichert. Hätten die USA das bedingungslose Grundeinkommen, wäre Trump niemals Präsident geworden. In Österreich hätten populistische Bewegungen am rechten Rand weniger Zulauf. Wir hätten weniger Wutbürger, dafür mehr Mutbürger.
STANDARD: Eine These. Bisher hat jedoch keine einzige Gesellschaft Erfahrungen damit.
Häni: Sie haben recht. Meine Erfahrung aber ist, dass Menschen arbeiten wollen; sie wollen es nur selbstbestimmt tun. Zudem stecken wir durch die Digitalisierung im Umbruch. Fleiß und Gehorsam waren einst große Tugenden. In Zukunft sind wir mit ihnen schlecht aufgestellt. Was es braucht, sind keine gehorsamen, sondern kreative und selbstbestimmte Menschen. Das Grundeinkommen ist überfällig und nur eine Frage der Zeit. Offen ist, ob es aus der Not heraus kommen wird, oder ob wir es hinbringen, es uns gegenseitig zuzusprechen.
STANDARD: Gönnen Menschen ihren Mitmenschen eine Existenz ohne Bedingungen? Überschätzen Sie ihre Menschlichkeit nicht erheblich?
Häni: Das Gönnenkönnen müssen wir noch lernen. In der Schweiz waren bei der ersten Abstimmung 23,1 Prozent dafür. Das ist ein bemerkenswerter erster Schritt.
STANDARD: Werden die Schweizer weitere Anläufe dazu nehmen?
Häni: Ja. Wir haben sie am Abstimmungssonntag gefragt, ob sie denken, dass es eine zweite Abstimmung geben wird. 69 Prozent gingen davon aus. Es wird nicht heute oder morgen sein – aber vielleicht schneller, als wir denken.
STANDARD: Die Finnen und Niederländer experimentieren derzeit damit. Was hören Sie von ihnen?
Häni: Aus den Niederlanden gibt es noch keine Resultate, Finnland gibt nicht viel dazu her. Dort wird getestet, was passiert, ist Arbeitslosengeld an keine Bedingung geknüpft. Mit bedingungslosem Grundeinkommen hat das aber wenig zu tun.
STANDARD: In Österreich wird ein Mindesteinkommen diskutiert. Ist das für Sie eine Alternative?
Häni: Das ist ein Festhalten am alten System, ein Pflaster auf der infizierten Wunde. Man versucht, einen Schaden aus der Vergangenheit zu flicken. Dass man von der Erwerbsarbeit leben kann, muss selbstverständlich sein, alles andere ist eine Schande.
STANDARD: Auch ein Frauenvolksbegehren soll Baustellen beim Einkommen hierzulande beseitigen.
Häni: Eine weitere Schande ist es, dass unsere Gesellschaft Frauen derart benachteiligt. Das höchste Armuts- risiko ist es, Frau und alleinerziehend zu sein. Das Grundeinkommen ist eine gute Antwort darauf. Es ist uremanzipatorisch.
STANDARD: Die Gretchenfrage aber bleibt die Finanzierung.
Häni: Es ist kein zusätzliches Einkommen, wir müssen deswegen ja nicht mehr Geld drucken. Die entschei- dende Frage ist, warum wir es nicht wollen. Ist es Angst vor Machtverlust? Angst, man könne Menschen nicht an der Leine führen? Ich aber will in keiner Gesellschaft leben, in der die Toiletten geputzt werden, nur weil Leute, die das tun, Existenzangst haben. Mit Details der Finanzierung sollten wir uns nicht aufhalten, bevor der Grundsatz entschieden ist.
STANDARD: Und was wird aus den Jobs, die keiner machen will?
Häni: Die müssen wir besser wertschätzen. Wieso verdient die Kindergärtnerin weniger als der Investment- banker, obwohl ihre Arbeit wahrscheinlich wertvoller für die Gesellschaft ist? Investmentbanker schaffen sich im Übrigen durch die Digitalisierung selbst ab, weil Computer besser Lottospielen können als sie.
STANDARD: Was ist mit Sozialleistungen? Wer bezahlt Krankenversicherungen, Pensionen, Unterhalt? Was ist mit jenen, die zusätzliche staatliche Hilfestellung benötigen?
Häni: Keine soziale Errungenschaft wird abgeschafft. Wo höhere Sozialleistung nötig ist, wird sie natürlich bestehen bleiben. Es geht nicht um ein Sparprojekt.
STANDARD: Die Kluft zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Kritiker des Grundeinkommens sehen darin kein probates Mittel, um diese Entwicklung zu bremsen.
Häni: Es ist auch kein Umverteilungsprojekt von Geld, sondern eine Umverteilung von Macht. Es wird immer Menschen mit viel und mit weniger Geld geben. Aber Konkurrenz um die Existenz ist menschenunwürdig und verderblich. Gibt es den prekären Niedriglohnbereich nicht mehr, tut dies der gesamten Gesellschaft gut.
STANDARD: Die Wirtschaft leidet bereits jetzt unter Fachkräftemangel. Was, wenn sich das Gros der Leute entscheidet, lieber zu garteln, als sich zum Mechatroniker ausbilden zu lassen, lieber Bilder zu malen, als IT-Experte zu werden?
Häni: Die Menschen werden ihren Talenten mehr nachgehen, was zu einer höheren Qualifizierung führen wird. Unser Fachkräftemangel hat mit dem Schulsystem von heute zu tun: Und es braucht etwa für das Handwerk ebenso mehr Wertschätzung wie für den Bereich der Pflege.
STANDARD: Warum kam eine der Initialzündungen für das Grundeinkommen gerade aus der vermögenden Schweiz?
Häni: Es geht um großen zivilisatorischen Fortschritt, um unsere Gesellschaft auf die nächste Stufe zu bringen. Die Schweiz hat dazu mit der Volksabstimmung das richtige politische Instrument.
STANDARD: Würde die Schweiz mit einem Grundeinkommen nicht ein Magnet für Zuwanderer werden?
Häni: Nein, das Grundeinkommen ist migrationsneutral. Man müsste natürlich mit einer Frist regeln, ab wann und wie lange man dazu berechtigt ist.
STANDARD: Sie selbst kämpfen seit bald 30 Jahren fürs Grundeinkommen. Was treibt Sie dabei eigentlich an?
Häni: Ich habe den Eindruck, die Menschen arbeiten unter ihren Möglichkeiten. Hören wir doch endlich auf damit, ihnen die Lust am Leben zu nehmen. Viele sind frustriert, rennen im Halbschlaf rum, ducken sich und halten den Mund. Als Arzt würde ich mehr Selbstbestimmung und einen Schuss Anarchie verschreiben.
Daniel Häni (50) gründete die "Initiative Grundeinkommen" und war einer der führenden Köpfe hinter der Schweizer Volksabstimmung. Einst Hausbesetzer, führt er heute in Basel mit 80 Mitarbeitern das größte Kaffeehaus der Schweiz. Häni veröffentlichte jüngst mit Philip Kovce ein Manifest zum Grundeinkommen: "Was würdest Du arbeiten, wenn für Dein Einkommen gesorgt wäre?"
Homepage der Grundeinkommens-Initiative
Nota. - Was passieren würde, wenn niemand mehr zu Erwerbsarbeit gezwungen würde, weil für seinen Lebensunterhalt gesorgt iat, sehen wir an unseren Kindern. Wovor ihnen am meisten graut, ist Langeweile, und wenn sie die Schule verabscheuen, dann aus diesem Grund. Dass Kinder nur das gern tun, was keine Anstrengung kostet, kann nur glauben, wer noch nie auf einem öffentlichen Sportplatz, nie in einer Badeanstalt und sogar noch nie in einem städtischen Park gewesen ist. Man muss sie im Gegenteil immer wieder mal bremsen und zur Ruhe anhalten; dann merken sie nach einer Viertelstunde, dass Muße nicht nur erbaulich ist, sondern sogar fesselnd sein kann.
Mit andern Worten, dass bei einem garantierten Grundeinkommen die Gesellschaft an Faulheit zugrunde ginge, ist keine Befürchtung, sondern eine wissentliche Lüge.
Sicher wird es immer einen Grundbestand an Leuten geben, die von Natur träge sind. Den gibt es auch heute, auch heute wird er von den andern durchgeschleppt. Aber heute sind sie dabei gezwungen, etwas zu tun, was sie nicht gerne tun, und das tun sie schlecht. Unterm Strich schadet diese Sorte erzwungener Erwerbsarbeit der Gesellschaft.
Weiß einer nicht, was ich meine? Der soll sich nurmal bei uns (Ich wohne in Berlin) in der Öffentlichen Ver- waltung umsehen!
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Auf die Frage nach der Finanzierbarkeit hat Häni die richtige Antwort gegeben: Die entscheidende Frage ist, warum wir es nicht wollen.
In den westlichen Gesellschaftten ist die Produktivität der Arbeit - der Arbeit derer, die noch immer welche haben - so exorbitant, dass sie alle, die nicht arbeiten (wollen oder) dürfen, mühelos miternähren könnte, wenn die Gesellschaft dafür organisiert wäre. Das Dass steht außer Frage. Ein Wie wird sich selbstverständlich nicht finden lassen, wenn man es gar nicht erst will. Wenn man es aber will, wird man einen Weg finden. Was wie objektive Hindernisse aussieht, wird sich im Grunde auf subjektive Bedingungen zurückführen lassen.
Das ganze Problem liegt im Wollen. Wer nicht will und warum er nicht will - das muss die Kampagne ans Tageslicht bringen; das allein wäre schon all den Aufwand wert.
JE
Dienstag, 2. Mai 2017
De Maizière im Wortlaut.
Wer sind wir? Und wer wollen wir sein? Als Gesellschaft. Als Nation. Die Fragen sind leicht gestellt, die Antworten schwer: Neil MacGregor versucht sie in seinen "Erinnerungen einer Nation" auf über 600 und Dieter Borchmeyer in "Was ist deutsch?" gar auf über 1000 Buchseiten.
Einige Dinge sind klar. Sie sind auch unstreitig: Wir achten die Grundrechte und das Grundgesetz. Über allem steht die Wahrung der Menschenwürde. Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat. Wir sprechen dieselbe Sprache, unsere Amtssprache ist Deutsch. Für all das haben wir ein Wort: Verfassungspatriotismus. Ein gutes Wort. Aber ist das alles? Demokratie, Achtung der Verfassung und Menschenwürde gelten in allen westlichen Gesellschaften.
Ich meine: Es gibt noch mehr. Es gibt so etwas wie eine "Leitkultur für Deutschland". Manche stoßen sich schon an dem Begriff der "Leitkultur". Das hat zu tun mit einer Debatte vor vielen Jahren. Man kann das auch anders formulieren. Zum Beispiel so: Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet.
Ich finde den Begriff "Leitkultur" gut und möchte an ihm festhalten. Denn er hat zwei Wortbestandteile. Zunächst das Wort Kultur. Das zeigt, worum es geht, nämlich nicht um Rechtsregeln, sondern ungeschriebene Regeln unseres Zusammenlebens. Und das Wort "leiten" ist etwas anderes als vorschreiben oder verpflichten. Vielmehr geht es um das, was uns leitet, was uns wichtig ist, was Richtschnur ist. Eine solche Richtschnur des Zusammenlebens in Deutschland, das ist das, was ich unter Leitkultur fasse.
Wer ist "wir"? Wer gehört dazu? Auch diese Frage wird oft gestellt und viel diskutiert. Für mich ist die Antwort klar: Wir – das sind zunächst einmal die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Nicht jeder, der sich für eine gewisse Zeit in unserem Land aufhält, wird Teil unseres Landes. In unserem Land gibt es darüber hinaus viele Menschen, die seit langer Zeit hier leben, ohne Staatsbürger zu sein – auch sie gehören zu unserem Land. Wenn ich aber von "wir" spreche, dann meine ich zuerst und zunächst die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unseres Landes.
Wenn wir eine Leitkultur für Deutschland beschreiben, sind wir den Bedenken einer undifferenzierten Verallgemeinerung ausgesetzt. Wer Grundsätze benennt, muss sich die Ausnahmen vorhalten lassen. Das ist so. Und es stimmt: Es gibt viele Unterschiede in unserem Land. Aber wer will bestreiten, dass es hier erprobte und weiterzugebende Lebensgewohnheiten gibt, die es wert sind, erhalten zu werden? Wohl kaum jemand. Überzeugungen und Lebensgewohnheiten hat auch kein Land nur für sich allein. Was in Deutschland gilt, kann genauso in Frankreich gelten. Umgekehrt ist auch richtig: Andere Länder, andere Sitten. Wenn eine Lebensgewohnheit im Ausland anders ist, ist sie eben anders als in Deutschland, nicht besser oder schlechter. Es ist die Mischung, die ein Land einzigartig macht und die letztlich als Kultur bezeichnet werden kann. Und ist es nicht auch genau das, was wir suchen, wenn wir reisen – die Kultur des dann anderen Landes; das Erfahren eines anderen Kulturkreises, der uns den eigenen dann auch immer wieder bewusst macht?
Ich will mit einigen Thesen zu einer Diskussion einladen über eine Leitkultur für Deutschland.
1. Wir legen Wert auf einige soziale Gewohnheiten, nicht weil sie Inhalt, sondern weil sie Ausdruck einer bestimmten Haltung sind: Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot. "Gesicht zeigen" – das ist Ausdruck unseres demokratischen Miteinanders. Im Alltag ist es für uns von Bedeutung, ob wir bei unseren Gesprächspartnern in ein freundliches oder ein trauriges Gesicht blicken. Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.
2. Wir sehen Bildung und Erziehung als Wert und nicht allein als Instrument. Schüler lernen – manchmal zu ihrem Unverständnis – auch das, was sie im späteren Berufsleben wenig brauchen. Einige fordern daher, Schule solle stärker auf spätere Berufe vorbereiten. Das entspricht aber nicht unserem Verständnis von Bildung. Allgemeinbildung hat einen Wert für sich. Dieses Bewusstsein prägt unser Land.
3. Wir sehen Leistung als etwas an, auf das jeder Einzelne stolz sein kann. Überall: im Sport, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in der Politik oder in der Wirtschaft. Wir fordern Leistung. Leistung und Qualität bringen Wohlstand. Der Leistungsgedanke hat unser Land stark gemacht. Wir leisten auch Hilfe, haben soziale Sicherungssysteme und bieten Menschen, die Hilfe brauchen, die Hilfe der Gesellschaft an. Als Land wollen wir uns das leisten und als Land können wir uns das leisten. Auch auf diese Leistung sind wir stolz.
4. Wir sind Erben unserer Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen. Unsere Vergangenheit prägt unsere Gegenwart und unsere Kultur. Wir sind Erben unserer deutschen Geschichte. Für uns ist sie ein Ringen um die Deutsche Einheit in Freiheit und Frieden mit unseren Nachbarn, das Zusammenwachsen der Länder zu einem föderalen Staat, das Ringen um Freiheit und das Bekenntnis zu den tiefsten Tiefen unserer Geschichte. Dazu gehört auch ein besonderes Verhältnis zum Existenzrecht Israels.
5. Wir sind Kulturnation. Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland. Deutschland hat großen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung der ganzen Welt genommen. Bach und Goethe "gehören" der ganzen Welt und waren Deutsche. Wir haben unser eigenes Verständnis vom Stellenwert der Kultur in unserer Gesellschaft. Es ist selbstverständlich, dass bei einem politischen Festakt oder bei einem Schuljubiläum Musik gespielt wird. Bei der Eröffnung eines großen Konzerthauses sind – wie selbstverständlich – Bundespräsident, Vertreter aus Regierung, Parlament, Rechtsprechung und Gesellschaft vor Ort. Kaum ein Land hat zudem so viele Theater pro Einwohner wie Deutschland. Jeder Landkreis ist stolz auf seine Musikschule. Kultur in einem weiten Sinne, unser Blick darauf und das, was wir dafür tun, auch das gehört zu uns.
6. In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft. Dafür stehen in unserem Land die Kirchen mit ihrem unermüdlichen Einsatz für die Gesellschaft. Sie stehen für diesen Kitt – sie verbinden Menschen, nicht nur im Glauben, sondern auch im täglichen Leben, in Kitas und Schulen, in Altenheimen und aktiver Gemeindearbeit. Ein solcher Kitt für unsere Gesellschaft entsteht in der christlichen Kirche, in der Synagoge und in der Moschee. Wir erinnern in diesem Jahr an 500 Jahre Reformation. Für die Trennung der christlichen Kirchen hat Europa, hat Deutschland einen hohen Preis gezahlt. Mit Kriegen und jahrhundertelangen Auseinandersetzungen. Deutschland ist von einem besonderen Staat-Kirchen-Verhältnis geprägt. Unser Staat ist weltanschaulich neutral, aber den Kirchen und Religionsgemeinschaften freundlich zugewandt. Kirchliche Feiertage prägen den Rhythmus unserer Jahre. Kirchtürme prägen unsere Landschaft. Unser Land ist christlich geprägt. Wir leben im religiösen Frieden. Und die Grundlage dafür ist der unbedingte Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln im staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben.
7. Wir haben in unserem Land eine Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten. Der Kompromiss ist konstitutiv für die Demokratie und unser Land. Vielleicht sind wir stärker eine konsensorientierte Gesellschaft als andere Gesellschaften des Westens. Zum Mehrheitsprinzip gehört der Minderheitenschutz. Wir stören uns daran, dass da einiges ins Rutschen geraten ist. Für uns sind Respekt und Toleranz wichtig. Wir akzeptieren unterschiedliche Lebensformen und wer dies ablehnt, stellt sich außerhalb eines großen Konsenses. Gewalt wird weder bei Demonstrationen noch an anderer Stelle gesellschaftlich akzeptiert. Wir verknüpfen Vorstellungen von Ehre nicht mit Gewalt.
8. Wir sind aufgeklärte Patrioten. Ein aufgeklärter Patriot liebt sein Land und hasst nicht andere. Auch wir Deutschen können es sein. "Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir‘s. Und das liebste mag‘s uns scheinen, so wie andern Völkern ihrs", so heißt es in der Kinderhymne von Bert Brecht. Ja, wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus. Mal wurde er zum Nationalismus, mal trauten sich viele nicht, sich zu Deutschland zu bekennen. All das ist vorbei, vor allem in der jüngeren Generation. Unsere Nationalfahne und unsere Nationalhymne sind selbstverständlicher Teil unseres Patriotismus: Einigkeit und Recht und Freiheit.
9. Unser Land hatte viele Zäsuren zu bewältigen. Einige davon waren mit Grundentscheidungen verbunden. Eine der wichtigsten lautet: Wir sind Teil des Westens. Kulturell, geistig und politisch. Die Nato schützt unsere Freiheit. Sie verbindet uns mit den USA, unserem wichtigsten außereuropäischen Freund und Partner. Als Deutsche sind wir immer auch Europäer. Deutsche Interessen sind oft am besten durch Europa zu vertreten und zu verwirklichen. Umgekehrt wird Europa ohne ein starkes Deutschland nicht gedeihen. Wir sind vielleicht das europäischste Land in Europa – kein Land hat mehr Nachbarn als Deutschland. Die geografische Mittellage hat uns über Jahrhunderte mit unseren Nachbarn geformt, früher im Schwierigen, jetzt im Guten. Das prägt unser Denken und unsere Politik.
10. Wir haben ein gemeinsames kollektives Gedächtnis für Orte und Erinnerungen. Das Brandenburger Tor und der 9. November sind zum Beispiel ein Teil solcher kollektiven Erinnerungen. Oder auch der Gewinn der Fußballweltmeisterschaften. Regionales kommt hinzu: Karneval, Volksfeste. Die heimatliche Verwurzelung, die Marktplätze unserer Städte. Die Verbundenheit mit Orten, Gerüchen und Traditionen. Landsmannschaftliche Mentalitäten, die am Klang der Sprache jeder erkennt, gehören zu uns und prägen unser Land.
Was folgt nun aus dieser Aufzählung? Manches mag fehlen, anderes kann hinzukommen. Ist das ein Bildungskanon, den alle wissen und lernen müssen, zum Beispiel in den 100 Stunden der Orientierung in unserem Integrationskurs? Schön wär’s. Kann eine Leitkultur vorgeschrieben werden? Ist sie verbindlich? Nein. Wie der Name Kultur schon sagt, geht es hier nicht um vorgeschriebene Regeln. Die Leitkultur prägt und soll prägen. Sie kann und soll vermittelt werden.
Leitkultur kann und soll vor allem vorgelebt werden. Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark. Stärke und innere Sicherheit der eigenen Kultur führt zu Toleranz gegenüber anderen. Leitkultur ist also zunächst und vor allem das, was uns ausmacht. Wenn sie uns im besten Sinne des Wortes leitet, dann wird sie ihre prägende Wirkung auf andere entfalten. Auch auf die, die zu uns kommen und bleiben dürfen. Ihnen reichen wir unsere ausgestreckte Hand.
Was aber geschieht nun mit denjenigen, die zu uns gekommen sind, die hier eine Bleibeperspektive haben, die dennoch aber eine solche Leitkultur weder kennen, vielleicht nicht kennen wollen oder gar ablehnen? Bei denen wird die Integration wohl kaum gelingen. Denn zugehörig werden sie sich nicht fühlen ohne Kenntnis und jedenfalls Achtung unserer Leitkultur.
In unserem Umgang mit diesen Menschen sollte uns eine Unterscheidung leiten: Die Unterscheidung zwischen dem Unverhandelbaren und dem Aushaltbaren. Das Unverhandelbare werden wir nicht aufgeben, wir müssen auf dessen Einhalten bestehen. Dazu gehören neben den Forderungen nach Straflosigkeit und Achtung unserer Grundwerte auch die Einhaltung von Respekt im Miteinander und die Herrschaft des Rechts vor der Religion. Wir bleiben – unverhandelbar – Teil des Westens, stolze Europäer und aufgeklärte Patrioten. Vor allem die Menschenwürde ist für uns unverhandelbar, auch im Umgang der Menschen untereinander.
Aushalten müssen wir dagegen sicher einiges. Das lässt unsere Toleranz auch zu. Wenn wir aber darauf achten, dass wir uns unserer Leitkultur bewusst sind und sie vorleben, dann wissen wir um die Stärke dieser Leitkultur, können einiges aushalten und müssen weniger aushalten, je überzeugender unsere Leitkultur wirkt. Wenn wir uns klar darüber sind, was uns ausmacht, was unsere Leitkultur ist, wer wir sind und wer wir sein wollen, wird der Zusammenhalt stabil bleiben, dann wird auch Integration gelingen – heute und in Zukunft.
Thomas de Maizière
Nota. - Das ist alles trivial. Das soll es aber auch sein: nämlich so, dass keiner im Ernst widersprechen kann. Aber dürfte: So steht es in dem Text ja drin.
Freilich könnte man - Sie und ich und jeder, der sich aufgerufen fühlt - an jeder Stelle eine Handvoll abers anfügen: Dies müsste man weiter ausführen, jenes mitberücksichtigen und anderes einschränken. Das liegt in der Natur solcher Texte, darauf wollen sie ja hinaus, und das wird in den kommenden Tagen reichlich, wahr- scheinlich überreichlich geschehen.
Die ganze Aufregung reduziert sich am Ende wirklich bloß um den Gebrauch des Wortes Leitkultur. Das finde ich auch unglücklich. Kultur bezeichnet etwas Gegebenes. Etwas historisch Gewordenes. Sie ist die sachliche Voraussetzung, wirkliche Bedingung jedweder gesellschaftlich erheblichen Tätigkeit. Das ist genug gesagt.
Ob sie aber, nachdem sie einmal so und nicht anders geworden ist, auch weiterhin so und nicht anders werden soll, dass sie also die Richtung vorgibt und leitet, muss jede Generation neu ausmachen. Sie ist der Ausgangs- punkt, den man sich nicht frei aussuchen kann. Ein Rahmen. Über die Richtung muss allezeit neu verhandelt werden, das ist ja der Zweck demokratischer Verfassungen. Demokratie ist nicht Konsens über Korrektheiten, sondern Meinungskampf.
JE
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