Donnerstag, 12. Dezember 2013

Die neolithische Verirrung.

aus Die Presse, Wien, 13. 12. 2013

In der Steinzeit waren Tische vielfältig gedeckt  
Forscher rekonstruieren immer detaillierter, wie die Menschen sich vor der Erfindung der Agrikultur ernährten. Das war regional ganz verschieden, in England etwa nahmen sie, was Flusstäler boten.



Der „schwerste Fehler in der Geschichte der Menschheit“ sei vor etwa 10.000 Jahren passiert, schrieb Multitalent Jared Diamond 1987. Er meinte die Neolithische Revolution, in der die ersten Ahnen sesshaft wurden und die Agrikultur entwickelten. Von dieser bzw. ihrem Kern – der Domestizierung von Gräsern zu Getreide und damit der Umstellung der Ernährung auf Kohlenhydrate, Stärke vor allem – leben wir heute alle. Aber den Pionieren bekam die neue Kost nicht gut: Die Lebenserwartung sank, die Körper wurden kleiner – in Anatolien haben sie heute noch nicht die frühere Größe erreicht –, und es kamen neue Krankheiten, gut sichtbare etwa am Gebiss und die Leibesfülle betreffend, verstecktere im Stoffwechsel und am Herzen.

Zudem wurden die Menschen abhängig von den Ernten, also vom Wetter. Kam Dürre, konnten sie nicht einfach weiterziehen wie ihre Ahnen, die Jäger und Sammler. Diese waren frei, sie waren gesund, und die Sehnsucht nach beidem hat sich seit einigen Jahren amalgamiert: Wenigstens bei Tisch wollen manche Büromenschen leben wie Jäger und Sammler, sie köcheln sich eine Steinzeit- oder auch Paläodiät. Deren Wurzeln reichen noch weiter zurück als Diamonds Fluch über den Segen der Landwirtschaft: 1975 postulierte Walter Voegtlin in „The Stone Age Diet“, das dem Menschen angemessene Essen sei Fleisch. In den 1980er-Jahren wurde es populär, inzwischen ist es unüberschaubar und reicht vom Ratgeber („Ein Mammut auf den Teller!“) bis zu avanciertesten Steinzeitrezepten, „Spargelpfanne mit Garnelen“ und Ähnlichem etwa aus dem „Urgeschmack-Kochbuch für Gourmets“.

„Stone Age Diet?“ „Paleofantasy!“

Schmecks! Tierisches Protein war drin, das von Würmern und Insekten in Früchten, so viel darf man unterstellen, Schimpansen mampfen es heute noch mit Genuss. Alles andere ist „Paleofantasy“ (Marlene Zuk, University of Minnesota), nur eins steht fest: Es gab keine Paläodiät, es gab regional höchst unterschiedliche Paläodiäten. Und die sind schwer zu rekonstruieren, etwa deshalb, weil sich zwar Tierknochen eher gut erhalten haben, von Pflanzen aber kaum Reste blieben. Man muss schon genau hinschauen, etwa in die Asche von Herden, die vor 25.000 Jahren in Dolní Věstonice im heutigen Tschechien brannten. Alexander Pryor (Cambridge) hat es getan, er fand viele Spuren von – Paläodiätisten werden es nicht gern hören – stärkehaltigen Pflanzen (Antiquity, 87, S.971).

Und Tony Brown (University of Southampton) führt nun eine breite Palette vor (PLoS One, 10.12.). Er hat nachgesehen, wo sich die Jäger und Sammler in England gern aufhielten, die Hinterlassenschaften zeigen es: Steinwerkzeuge, diese häufen sich in breiten Flusstälern. Dann rekonstruierte Brown, was es dort zu jagen und sammeln gab; die Flüsse spendeten reich – etwa Fett: Aale und Biber –, sie lockten auch jagdbares Wild an.

Und in den Flüssen spross es reich – Wasserkresse, Wasserlilien –, auf dem Schwemmland auch. Die Liste ist lang, sie deckt die großen Gruppen ab – Proteine, Kohlenhydrate, Fette, Mineralien –, und sie deckt die etwa 50 Mikronährstoffe ab, die der Mensch braucht, Vitamin C etwa ist in Fischleber und vielen Beeren. „Man kann spekulieren, dass die Flusstäler als ,gesunde‘ Plätze gern aufgesucht wurden“, spekuliert Brown.

Aber irgendwann zogen sie doch weiter, sie fanden andere Nahrung, sie stellten sich um. Nicht nur sie, auch die Bakterien in ihren Därmen taten es (Nature, 11.12.): Peter Turnbaugh (Harvard) hat Freiwillige fünf Tage lang auf höchst einseitige Diäten gesetzt, entweder nur Gemüse oder nur Fleisch, selbst ein Vegetarier tat bei Letzterem mit. In kürzester Zeit stellten sich die Bakterien auf die neue Kost um.


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