Hineingeschlittert und nicht herausgekommen
Wichtige neue Bücher zum Ersten Weltkrieg werfen die Frage nach der Kriegsschuld noch einmal auf
von Cord Aschenbrenner
Im kommenden Jahr wird der Erste Weltkrieg in den Fokus der Erinnerungskultur rücken. Nicht wenige Bücher sind bereits in den vergangenen Wochen und Monaten erschienen. Nachfolgend werden einige, die herausragen, vorgestellt.
Es ist hundert Jahre her, da brachte im Dezember 1913 die sogenannte Liman-Krise die diplomatischen und politischen Kreise Europas in Wallung. Auf Bitten des Osmanischen Reiches hatte das Deutsche Reich eine Militärmission unter dem Generalleutnant Otto Liman von Sanders nach Konstantinopel geschickt, die die klapprigen osmanischen Streitkräfte reformieren sollte. Liman sollte zudem Kommandogewalt haben und Chef eines osmanischen Armeekorps werden. Das veranlasste die russische Presse zu einem kollektiven Wutschrei: Die Dardanellen und der Bosporus in deutscher Hand! Insbesondere im russischen Aussenministerium sorgte man sich, dass die Deutschen erstens fortan einen für die russische Wirtschaft immens wichtigen Seeweg kontrollieren würden und zweitens dauerhaft am Bosporus Fuss fassen könnten.
Wichtige neue Bücher zum Ersten Weltkrieg werfen die Frage nach der Kriegsschuld noch einmal auf
von Cord Aschenbrenner
Im kommenden Jahr wird der Erste Weltkrieg in den Fokus der Erinnerungskultur rücken. Nicht wenige Bücher sind bereits in den vergangenen Wochen und Monaten erschienen. Nachfolgend werden einige, die herausragen, vorgestellt.
Es ist hundert Jahre her, da brachte im Dezember 1913 die sogenannte Liman-Krise die diplomatischen und politischen Kreise Europas in Wallung. Auf Bitten des Osmanischen Reiches hatte das Deutsche Reich eine Militärmission unter dem Generalleutnant Otto Liman von Sanders nach Konstantinopel geschickt, die die klapprigen osmanischen Streitkräfte reformieren sollte. Liman sollte zudem Kommandogewalt haben und Chef eines osmanischen Armeekorps werden. Das veranlasste die russische Presse zu einem kollektiven Wutschrei: Die Dardanellen und der Bosporus in deutscher Hand! Insbesondere im russischen Aussenministerium sorgte man sich, dass die Deutschen erstens fortan einen für die russische Wirtschaft immens wichtigen Seeweg kontrollieren würden und zweitens dauerhaft am Bosporus Fuss fassen könnten.
Christopher Clark, Herfried Münkler
«Die Liman-Episode löste eine
gefährliche Eskalation der Stimmung unter den zentralen russischen
Akteuren aus», schreibt der als souveräner Preussen-Kenner
bekanntgewordene australische Historiker Christopher Clark in seinem
neuen Werk «Die Schlafwandler». Deutschland lenkte schliesslich ein,
Liman wurde aus der Schusslinie genommen, noch gab es keinen
kontinentalen Krieg. Aber insgesamt hatte die Affäre gezeigt, wie
kriegerisch man in Russland mittlerweile gestimmt war.
Die Liman-Krise ist eine von
vielen in Christopher Clarks Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs; die
finale war die «Julikrise» 1914, die nach der Ermordung des
österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajevo ihren Lauf nahm. Der in
Cambridge lehrende Historiker zeichnet detailliert ein überaus
spannendes Panorama der Vorkriegszeit und betrachtet dabei auch die
Mentalität, man könnte auch sagen: den Geisteszustand der Handelnden.
Überwiegend geht es um einige hundert Menschen, «Falken» und «Tauben»,
in den Kanzleien, Ministerien, Botschaften und Herrscherhäusern West-,
Mittel- und Osteuropas - um diejenigen, die die Geschicke ihrer Länder
durchdachten, besprachen und lenkten, die also Geschichte «machten».
Clark, ein brillanter Autor, der sich in die grosse Tradition der
britischen Geschichtsschreibung mit nüchterner Darstellung und
lebendiger Szenerie einreiht, zeigt die Politiker und Diplomaten des
Dreibundes und der Entente bei der politischen Arbeit unter zunehmender
Anspannung.
Clark nennt sie Schlafwandler:
«wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität
der Greuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten».
Für ihn ist der Kriegsbeginn «eine Tragödie, kein Verbrechen». Weil man
nämlich nicht den einen Schuldigen wie in einem
«Agatha-Christie-Thriller (. . .) über einen Leichnam gebeugt auf
frischer Tat ertappen» könne. Sein Monumentalgemälde birgt
Überraschungen, weil Clark neu erschlossene Quellen zitieren kann, die
zeigen, dass Deutschland keineswegs der planvoll agierende
Hauptverantwortliche für den Krieg war, wie es der Hamburger Historiker
Fritz Fischer und seine Schule in den sechziger Jahren behaupteten.
Fischer hatte in seinem Buch «Griff nach der Weltmacht» dem Kaiserreich
ein bewusstes Hinsteuern auf den Krieg attestiert. Mindestens so viel
Schuld wie bei Deutschland als Kriegstreiber sieht Clark bei Frankreich;
Deutschland habe sich nicht ohne Grund von der Triple-Entente aus
Grossbritannien, Frankreich und Russland eingekreist gefühlt, deren
militärisches Potenzial immer grösser geworden sei. Das heisse nicht,
«dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der
österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten».
Mit anderen Worten: Christopher
Clark erzählt eine andere Geschichte, als sie wenigstens in Deutschland
seit der «Fischer-Kontroverse» gängig gewesen ist. Am ehesten steht er
aufseiten des ehemaligen britischen Kriegspremiers Lloyd George, von dem
das Diktum stammt, keiner habe 1914 den Krieg gewollt, die Regierungen
seien in ihn «hineingeschlittert». Eine der Erkenntnisse Clarks ist,
dass es in Europa 1914 «keine Begeisterung für den Krieg an sich»
gegeben habe, wohl aber einen «defensiven Patriotismus, denn die
Zusammenhänge dieses Konflikts waren so komplex und seltsam, dass die
Soldaten und Zivilisten in allen kriegführenden Staaten überzeugt sein
durften, dass sie einen Verteidigungskrieg führten . . .»
Zeichnet Christopher Clark ein
Bild der Aussenpolitik Europas vor 1914, so setzt der deutsche
Politikwissenschafter und Ideenhistoriker Herfried Münkler in seinem
bald tausendseitigen Opus mit dem Kriegsbeginn erst ein. Er wirft,
anders als Clark, nur einen kurzen Blick auf Serbien und die
«Krisenregion Balkan» und widmet sich dann der Welt von 1914 bis 1918:
dem «Grossen Krieg» mit seinen zehn Millionen Opfern. So hiess der Erste
Weltkrieg bisher nur bei Deutschlands westlichen Nachbarn. Es scheint
sich die Idee durchzusetzen, dass der Erste nicht nur als Vorläufer des
Zweiten Weltkriegs zu verstehen oder vom Zweiten her zu betrachten sei -
was eine deutsche Perspektive war, die zudem zu sehr Deutschland als
Hauptverantwortlichen sieht, was Münkler, so wie Clark, «keineswegs»
tut. Man müsse vielmehr, so der an der Humboldt-Universität lehrende
Autor, den ersten Krieg wieder als «für sich allein stehendes, komplexes
Ereignis behandeln».
Sein Buch ist die erste deutsche Gesamtdarstellung seit über vierzig Jahren - eine, die nicht nur den Blick auf die Opfer lenkt oder den «Krieg des kleinen Mannes» beschreibt (dessen alleinige Perspektive nach Münklers Urteil zu viele deutschsprachige Historiker eingenommen haben, ohne damit wirklich erklären zu können, warum etwa der Krieg so lange gedauert hat), sondern auch die Perspektiven der Schlachtenlenker und die «komplexen Interaktionszusammenhänge» rekonstruiert.
Sein Buch ist die erste deutsche Gesamtdarstellung seit über vierzig Jahren - eine, die nicht nur den Blick auf die Opfer lenkt oder den «Krieg des kleinen Mannes» beschreibt (dessen alleinige Perspektive nach Münklers Urteil zu viele deutschsprachige Historiker eingenommen haben, ohne damit wirklich erklären zu können, warum etwa der Krieg so lange gedauert hat), sondern auch die Perspektiven der Schlachtenlenker und die «komplexen Interaktionszusammenhänge» rekonstruiert.
War der Erste Weltkrieg
zwangsläufig? Münkler ist überzeugt, er hätte vermieden werden können,
hätte es auf allen Seiten mehr Weitsicht und Urteilsvermögen gegeben.
Ähnlich wie Clark sieht er «ein Lehrstück der Politik (. . .), in dem
das Zusammenspiel von Angst und Unbedachtheit, Hochmut und grenzenlosem
Selbstvertrauen auf einen Weg führte, auf dem schliesslich keine Umkehr
mehr möglich schien» - weder in den letzten Julitagen 1914 noch während
des Krieges.
Der Autor zeigt aber, welche Optionen den militärischen und politischen Protagonisten zur Verfügung standen, hätten sie anders gehandelt, als sie es taten - und auch, welche Rolle Zufälle und Unvorhergesehenes spielten.
Der Autor zeigt aber, welche Optionen den militärischen und politischen Protagonisten zur Verfügung standen, hätten sie anders gehandelt, als sie es taten - und auch, welche Rolle Zufälle und Unvorhergesehenes spielten.
Bewundernswert an Münklers Buch
ist, neben seiner guten Lesbarkeit und dem gewissermassen zivilen Stil,
der nicht nachlassende, bis ins Kleinste kenntnisreiche Zugriff des
Autors auf sein Sujet: Der Krieg wird an allen seinen Fronten sichtbar,
ebenso als politische Herausforderung, als Antrieb gesellschaftlichen
Wandels, als Laboratorium kommender Konflikte. Ein umfassendes
Standardwerk.
Oliver Janz, Adam Hochschild
Das Zeug zum Standardwerk hat auch
das deutlich schmalere Buch von Oliver Janz, Geschichtsprofessor an der
Freien Universität Berlin. Janz hat eine schlankere, aber dennoch
kraftvolle Darstellung verfasst, in der er die These aufstellt, dass der
Krieg, den man als den ersten globalen betrachten müsse, nicht 1918
beendet gewesen sei, sondern erst um 1923, durch seine Folgekonflikte im
Osten - zuvörderst den russischen Bürgerkrieg -, in Ostmitteleuropa und
Südosteuropa. Zudem habe der Krieg bereits Züge eines «entgrenzten»
Konflikts getragen, es sei also die völkerrechtlich bestimmte Grenze
zwischen Militär und Zivilbevölkerung immer wieder verwischt worden.
Auch dies geschah überwiegend im Osten; dort waren die Opfer des Krieges
auch wesentlich höher als an der Westfront - die dennoch das kollektive
Bild vom Ersten Weltkrieg wesentlich stärker geprägt hat.
Schliesslich korrigiert Janz auch
das Bild der angeblich so kriegsbegeisterten Deutschen: «In keinem Land
sind im Juli 1914 mehr Menschen gegen den Krieg auf die Strasse gegangen
als in Deutschland.» Die Führung der Sozialdemokraten nutzte die
Ablehnung des Krieges vor allem in der Arbeiterschaft jedoch nicht
ausreichend, um Druck auf die Reichsregierung auszuüben, sondern stellte
sich vielmehr hinter diese.
Eine Geschichte der
Kriegsverweigerer hat, wenigstens teilweise, der amerikanische
Journalist Adam Hochschild geschrieben. Er beschreibt den Krieg fast
überwiegend aus britischer Perspektive - derjenigen der Befürworter des
Krieges und der seiner Gegner und Gegnerinnen, von denen es in
Grossbritannien mehr als in anderen Ländern gegeben habe. Dem Krieg zu
widersprechen, sich gegen seine Familie, seine Freunde, seine
gesellschaftliche Klasse zu stellen, erforderte grossen Mut in einer in
England genauso wie in Deutschland vor Nationalismus glühenden
Gesellschaft.
Hochschild beschreibt fesselnd und anschaulich, dabei geschickt die Quellen nutzend, Angst, Leid und Tod ebenso wie den Wahnsinn und die Verblendung der Befehlshaber während dieser vier Jahre dauernden Katastrophe. Eine Geschichte des Grossen Krieges ist es nicht, wie der deutsche Titel suggeriert; wohl aber eine seiner Schrecken - etwa der Sommeschlacht.
Hochschild beschreibt fesselnd und anschaulich, dabei geschickt die Quellen nutzend, Angst, Leid und Tod ebenso wie den Wahnsinn und die Verblendung der Befehlshaber während dieser vier Jahre dauernden Katastrophe. Eine Geschichte des Grossen Krieges ist es nicht, wie der deutsche Titel suggeriert; wohl aber eine seiner Schrecken - etwa der Sommeschlacht.
Ernst Piper
Mit der Haltung der
Intellektuellen beider Seiten beschäftigt sich die «Kulturgeschichte des
Ersten Weltkriegs» von Ernst Piper, unter anderem. Pipers Interesse
gilt auch den Werken der Kriegsteilnehmer, so dem des fast vergessenen
Expressionisten August Stramm, der 1915 an der Ostfront fiel, oder dem
des ebenfalls im Krieg, aber durch Kokain umgekommenen Georg Trakl.
Piper geht es vor allem, wie er schreibt, um «die jeweiligen diskursiven
Anstrengungen zur Legitimation des kriegerischen Handelns
beziehungsweise des Handelns in Kriegszeiten, also der umfangreichen
Literatur im Kontext der geistigen Mobilmachung». Ähnlich akademisch ist
mancher Satz in diesem Buch geraten, andererseits geht es dann wieder
ganz handfest um Propaganda, um die Kriegsziel-Diskussionen, mit anderen
Worten: um die Ideen und ihre ganz unterschiedliche Materialisierung.
Immer wieder bettet Piper dies gekonnt und kenntnisreich in die
Geschichte des Kriegsverlaufs in Ost und West ein, wobei er nicht nur
die Mittelmächte, sondern auch ihre Gegner in den Blick nimmt. Und das
Land, das intellektuelle Kriegsgegner aller Länder bei sich duldete: die
Schweiz.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Deutsche Verlagsanstalt, München 2013. 895 S., Fr. 55.-.
Herfried Münkler: Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918.
Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 923 S., Fr. 42.90.
Oliver Janz: 14 - Der Grosse Krieg. Campus, Frankfurt am Main 2013. 415 S., Fr. 26.-.
Adam Hochschild: Der Grosse Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg. Aus dem amerikanischen Englisch von Hainer Kober. Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 525 S., Fr. 39.90.
Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Propyläen-Verlag, München 2013. 586 S., Fr. 38.90.
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