König Petar I.
aus NZZ, 21. 12. 2013
Dunkler Fleck?
Christopher Clarks serbischer Sonderfall
Christopher Clarks serbischer Sonderfall
von Andreas Ernst · Was Christopher Clarks «Schlafwandler» aus vielen Neuerscheinungen zum «Grossen Krieg» heraushebt, ist nicht die gleichmässige Verteilung der Kriegsschuld. Diesem Trend folgen viele. Hingegen ist die Rolle, die der Balkan beim Kriegsausbruch erhält, aussergewöhnlich: Der Balkan symbolisiert für einmal nicht nur die «Zündschnur», die durch die Schüsse von Sarajevo das Pulverfass Europa zur Explosion bringt. Clark zeigt vielmehr, wie Russland und Frankreich durch ihre serbische «Balkan-Connection» in den Konflikt zwischen Wien und Belgrad hineingezogen werden. Der Balkan wird vom randständigen Unruheherd zum europäischen Akteur. Serbien, schreibt Clark, erscheine zu Unrecht bis jetzt als «weisser Fleck» im Tableau des Kriegsausbruchs. Diese Sicht teilt er mit dem einschlägigen Standardwerk der serbischen bzw. jugoslawischen Geschichtsschreibung, mit Andrej Mitrovics erstmals 1984 erschienener Studie «Serbien im Ersten Weltkrieg». Doch der Vergleich zeigt auch markante Differenzen.
Im Aufbruch
Was wir bei Clark von Serbien zu
sehen bekommen, ist das faszinierende und unheimliche Bild eines Landes,
das sich in einem gewaltigen Aufbruch befindet. Es ist ein Staat,
dessen Fläche sich in den Balkankriegen 1912/1913 auf Kosten des
Osmanischen Reichs fast verdoppelt hat - der aber nicht über die Mittel
verfügt, die neuen Gebiete administrativ zu integrieren. Dafür ist der
Einfluss des Militärs massiv gewachsen, und Teile des Offizierskorps
konkurrieren erfolgreich mit der Regierung von Ministerpräsident Pasic
um die Macht. Armee und Geheimdienst unterhalten eine Art «tiefen
Staat», in dem nationalistische Geheimorganisationen wie die «Schwarze
Hand» über die Drina blicken - ins österreichisch annektierte Bosnien,
wo die Serben die grösste Volksgruppe sind. Belgrad mit seinen
irredentistischen Ambitionen erscheint als ein «serbisches Piemont».
Auch das ist bei Mitrovic ähnlich.
Aber die nationale Bewegung beschränkt sich bei ihm nicht auf Belgrad
und nicht auf die Serben. Im Gegenteil. Im österreichisch annektierten
Bosnien ist eine Befreiungsbewegung entstanden, das «Junge Bosnien», die
sich nicht primär aus der Belgrader Agitation speist, sondern von den
bosnischen Zuständen motiviert wird. Es sind Schüler serbischer, aber
auch kroatischer und muslimischer Herkunft, die gegen die koloniale
Fremdherrschaft rebellieren. Aus ihren Reihen werden sich die
Juni-Attentäter rekrutieren. Das Ziel ist für die einen die Vereinigung
aller Südslawen, für andere der Zusammenschluss mit Serbien. Bei Clark
dagegen kommt die «kriminelle Energie» aus Belgrad. Obwohl es ihm nicht
gelingt, die Spur vom Attentat in Sarajevo zur Regierung nach Belgrad
aufzuzeigen, ist für ihn Serbien die treibende Kraft bei der Ermordung
des Thronfolgerpaars durch Gavrilo Princip.
Im Vergleich zum stets als
«ultranationalistisch» bezeichneten «Serbisch-Piemont» erscheint Clarks
Österreich-Ungarn fast wie ein idyllischer Vorläufer der EU: zwar mit
unübersehbarem Demokratiedefizit, aber seine Völker erfolgreich
modernisierend. Das trifft auf manche Gebiete und bestimmte Zeiten wohl
zu - aber gewiss nicht auf Bosnien nach der Annexion 1908: Schliesslich
hatten die österreichischen «Landeschefs» die osmanische
Fronbauernschaft ganz einfach übernommen. Es ist nicht zufällig, dass
Mitrovic den Balkan viel stärker als fremdbeherrschten Raum zeichnet, in
dem die Interessen der Osmanen, Österreicher und Russen
aufeinanderprallen und vom deutschen «Drang nach Osten» überlagert
werden. Der schrittweise Rückzug der Türken eröffnet neue Chancen -
erstmals nicht nur den Mächten, sondern auch den Balkanvölkern selber:
Sie werden zu historischen Subjekten. Dieses antikoloniale Moment
entgeht Clark und ebenso die Hoffnung, die sich mit der
Befreiungsbewegung der Südslawen verband. Zu Recht dagegen zeigt er die
Kehrseite dieser Selbstbefreiung: den serbischen Kolonialismus in den
neuen Untertanengebieten Mazedonien und Kosovo.
Ein «Anti-Fischer»
Clarks imposantes Buch ist nicht
zuletzt ein «Anti-Fischer». Fritz Fischers These - der deutsche «Griff
nach der Weltmacht» als Ursache der Katastrophe - ist für Clark ein
Produkt bundesrepublikanischer Vergangenheitsbewältigung der 1960er
Jahre. Der Vorwurf der Rückprojektion allerdings fällt auf Clark zurück.
Durch Quervergleiche und Anspielungen (auf Srebrenica, Rambouillet,
Kosovo) macht er deutlich, dass er Serbien und den Balkan aus der
Perspektive der jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er Jahre sieht -
mit dem (ewigen?) serbischen Ultranationalismus als Hauptschuldigen. Das
ist bedauerlich, weil ahistorisch - und seltsam, weil mit Ressentiments
verbunden. Auf Proteste aus dem Balkan hat Clark übrigens reagiert. In
der deutschen Übersetzung erscheinen Gavrilo Princip und seine
Mitstreiter nicht mehr als «Terroristen», sondern als «Attentäter».
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