Die Grenzen der Käuflichkeit
Eine Studie der amerikanischen Philosophin Debra Satz über Waren und Werte
von Robin Celikates · Autos, Waffen, Wählerstimmen, Finanzderivate, Sex und Kinderarbeit kann man - im Prinzip - auf Märkten kaufen. Dass deregulierte Märkte nicht unbedingt ein Segen sind, konnte man daher bereits vor der jüngsten globalen Finanzkrise wissen. Aber warum ist ein Markt für Gebrauchtwagen eigentlich weniger problematisch als ein Markt für menschliche Organe oder Finanzderivate? Intuitiv leuchtet vielleicht ein, dass bestimmte Dinge schlichtweg nicht als Waren auf Märkten gehandelt werden sollten. Allerdings ist es nicht ganz so einfach, dafür auch gute Argumente anzuführen.
Keine Verteufelung
Das nun in deutscher Übersetzung vorliegende, völlig jargonfreie und doch anspruchsvolle Buch der US-amerikanischen Philosophin Debra Satz bietet Abhilfe. Wer meint, nicht alles solle gleichermassen auf Märkten gehandelt werden, hat laut Satz die richtige Intuition. Allerdings wird man ihr aus der «eindimensionalen», allein auf Effizienz ausgerichteten und vermeintlich wertneutralen Perspektive der Wirtschaftswissenschaften nicht gerecht werden können. Zugleich will Satz aber auch den umgekehrten Fehler vermeiden. Sie will weder den Markt als solchen verwerfen - denn als soziale Institution ist er vor allem aufgrund seiner Funktion als effizienter Mechanismus der Verhaltenskoordination und Ermöglichung von Tauschbeziehungen unersetzlich. Noch will sie einfach behaupten, bestimmte Güter - etwa Schwangerschaft - seien intrinsisch oder ihrer Natur nach keine Waren, denn eine solche Behauptung scheint von strittigen anthropologischen oder religiösen Annahmen abhängig zu sein.
Den Schlüssel zur normativen Bewertung von Märkten findet Satz vielmehr in der Idee der demokratischen Gleichheit. Märkte sind ihres Erachtens nämlich insofern problematisch, als sie unvereinbar damit sind, dass sich alle Bürger vor, in und nach dem Tauschprozess untereinander als Gleiche begegnen. Diese noch relativ abstrakte Idee zerlegt die Autorin in vier Parameter, die auf die Quellen sowie die Effekte von Märkten abzielen. Satz spricht von «toxischen» Märkten, wenn diese sich der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Marktteilnehmer verdanken, deren Verwundbarkeit ausbeuten und/oder extrem schädliche Konsequenzen für Einzelne oder die Gesellschaft als ganze haben. Damit rücken sowohl soziale Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse als auch die Frustration grundlegender menschlicher Interessen in den Mittelpunkt ihrer Marktkritik.
Ein grosser Vorzug von Satz' Theorie liegt darin, dass sie nicht an einfachen moralischen Empfehlungen interessiert ist. Ihr geht es um Differenzierung, denn nicht alle Märkte sind gleich. Unter Rückgriff auf die noch immer unausgeschöpften theoretischen Ressourcen der klassischen politischen Ökonomie von Adam Smith bis Karl Marx betont sie nicht nur das soziale Eingebettetsein von Märkten (gegen den Mythos des autonomen Marktes), sondern auch deren Unterschiedlichkeit. Gerade diese Heterogenität verbietet es, in allgemeine Loblieder oder pauschale Verdammungen «des Marktes» einzustimmen - vielmehr müssen die Voraussetzungen, Funktionsweisen und Effekte von Märkten kontextspezifisch untersucht werden. Auch für den Umgang mit «toxischen» Märkten ist der Kontext relevant, denn ein Verbot ist nicht immer die beste Lösung. Stattdessen muss man fragen, was etwa die Effekte eines strikt durchgesetzten Verbots von Kinderarbeit oder von Prostitution wären und ob ein solches die Situation der sozial schwächsten Akteure tatsächlich verbessern würde.
Die Leistungsfähigkeit ihres differenzierten Ansatzes stellt Debra Satz in Kapiteln über Reproduktionsarbeit, Prostitution, Kinderarbeit, freiwillige Versklavung und Organhandel unter Beweis. In doppelter Stossrichtung gegen ungezügelten Marktliberalismus wie gegen rigiden Moralismus führt sie überzeugend aus, dass etwa Leihmutterschaft nicht aufgrund des «Wesens» von Schwangerschaft, sondern wegen der mit ihr in unseren Gesellschaften einhergehenden Verschärfung ungleicher Geschlechterverhältnisse eine problematische Form der «Kommodifizierung» ist. Satz geht es nicht um paternalistische Bevormundung, sondern um die Bedingung der Möglichkeit einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich vernünftigerweise als rechtlich Gleiche betrachten können. Letztlich ist Debra Satz Sozialdemokratin: Bestimmte Güter sollten nicht als Waren gehandelt werden, da dies die demokratische Gleichheit zwischen den Bürgerinnen und Bürgern unterminieren würde, und aus demselben Grund sollte ein jeder Zugang zu bestimmten Gütern - etwa dem Stimmrecht oder einer angemessenen Schulbildung - haben.
Wie wollen wir leben?
Allerdings kann man sich fragen, ob Satz' Theorie der Grenzen des Marktes weit genug geht. Unterschätzt ihr sozialdemokratischer Regulierungsoptimismus nicht die Eigenlogik kapitalistischer Märkte, die sich ja nicht allein aufgrund politischer Versäumnisse in alle gesellschaftlichen Teilbereiche ausbreiten? Zudem droht die demokratische Gleichheit jene aussen vor zu lassen, die vielleicht am verwundbarsten sind: Flüchtlinge und andere Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus. Und auch die schädlichen Effekte von Märkten für die Natur kommen nur insofern in den Fokus, als diese auch die Beziehungen unter Bürgern tangieren. Die damit aufgeworfenen Fragen belegen jedoch nur, dass Satz recht hat: Märkte sind nicht ethisch neutral. Uns über sie und ihre Grenzen zu verständigen, heisst, uns darüber zu verständigen, in was für einer Gesellschaft wir überhaupt leben wollen.
Debra Satz: Von
Waren und Werten. Die Macht der Märkte und warum manche Dinge nicht zum
Verkauf stehen sollten. Aus dem Englischen von Michael Adrian und
Bettina Engels. Hamburger Edition, Hamburg 2013. 340 S., Fr. 49.90.
Nota.
Sozialdemokratische Gesundbeterei, was sonst? Das Prinzip der rechtlichen Gleichstellung der Staatsbürger stammt historisch-reell aus der tatsächlichen Gleichheit der tauschenden Warenbesitzer auf dem Markt; nicht andersrum. Die geweitete politische Form sollte die Dynamik der gesellschaftlichen Wirklichkeit freisetzen, nämlich aus dem Korsett feudaler, vorbürgerlicher Privilegien befreien.
Die Sache hatte von Anbeginn einen Haken: Die einander am Markt begegnenden Subjekte müssen Waren anzubieten haben - sonst können sie sie nicht gegen andere Waren eintauschen. Um Waren anzubieten, müssen sie sie produzieren können. Müssen außer der Kraft und Geschicklichkeit auch die Werkstoffe und Geräte besitzen, die zu ihrer Herstellung nötig sind.
Mit der Einbeziehung der Landwirtschaft in das Marktgeschehen begann in Europa das große Bauerlegen alias "die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals". Eine ganze Klasse von Menschen entstand, die keine Waren anbieten können, weil sie ihr Produktionsmittel, den Boden, verloren hatten. So mussten sie ihre Arbeitskraft selbst zu Geld machen; verkaufen an einen Andern, der sich ihrerer fruchtbringend bedienen kann, weil er die nötigen sachlichen Mittel dazu besitzt. Das, was aus der Verwendung der Arbeitskraft neu an Brauchbarem hinzukommt, gehört dem, der sie gekauft, und nicht dem, der sie verkauft hat. Unmittelbar ist nichts Ungerechtes, ist kein Verstoß gegen 'die Gleichheit' daran. Die Ungleichheit war längst zuvor entstanden, als die Masse der Bauern von ihrem Land vertrieben worden waren.
Die Herrschaftsform der Demokratie lässt sich vernünftiger Weise aus dem Prinzip der Gleichheit gar nicht herleiten. Vom politischen Standpunkt des Gemeinwesens aus ist es vorderhand gar nicht wichtig, ob sich jeder in gleichem Maße 'einbringen' und 'verwirklichen' kann. Dem Gemeinwesen liegt daran, dass 'das Richtige' - was immer das sei - getan wird, und um zu entscheiden, was das Richtige ist, braucht man die richtigen Leute, und nicht alle, die 'betroffen' sind - und nichtmal alle, die den Mund auftun.
Wer aber entscheidet nun darüber, welches die richtigen Leute sind? Auch nicht Alle, sondern wiedrum - die richtigen Leute... Die Katze beißt sich in den Schwanz. Das Problem ist institutionell gar nicht zu lösen. Da 'man' im Vorhinein nicht beurteilen kann, wer dem Gemeinwohl am besten dienen wird, muss man es im Nachhinein tun: auf Verdacht ein paar auswählen und nach einem nicht allzu langen Zeitraum prüfen, ob sie sich bewährt haben. Das wird en détail vielleicht auch nicht Jeder können; aber der große Durchschnitt in der Regel schon, und jedenfalls mit mehr gesundem Menschenverstand als irgendwer sonst; nämlich sofern der Meinungskampf öffentlich geführt wird. Rechtsstaat und bürgerliche Freiheiten haben den Sinn, den gesunden Menschenverstand zu pflegen und zu fördern, indem sie Öffentlichkeit garantieren.
Gleichheit ist ein Gebot des freiheitlichen Rechtsstaats um der Öffentlichkeit willen, aber nicht die Grundlage der Demokratie. Die Reihenfolge ist umgekehrt.
J.E.
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