Samstag, 7. Dezember 2013

Ukraine, II.

aus NZZ, 7. 12. 2013

«Wir wollen ein besseres Leben»
Kiewer Proteste zielen auch auf Aufbrechen quasifeudaler Wirtschaftsstrukturen ab
 

von Rudolf Hermann, Kiew 

Für die aus den verschiedensten Schichten stammenden Leute, die in Kiew demonstrieren, ist Europa ein Symbol für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten. Im herrschenden quasifeudalen System sehen sie keine Zukunft. 

«Wir wollen ein besseres Leben», ist ein Satz, den man auf dem Kiewer Maidan Nesaleschnosti, dem Unabhängigkeitsplatz, dieser Tage oft hören kann. Er folgt als Antwort auf die Frage, was der Beweggrund dafür gewesen sei, sich den Massendemonstrationen gegen Präsident und Regierung anzuschliessen. Was jedoch die genauen Vorstellungen von diesem «besseren Leben» angeht, sind sie so unterschiedlich, wie es auch die Leute sind, die den Satz äussern.

Abschreckender Teufelskreis

Für die zahlreichen jungen Menschen, die unter den Demonstrierenden überwiegen, ist es die Aussicht auf eine nach Westen offene Ukraine, die sich als Teil Europas versteht und nicht nur Reise-, sondern auch breite Weiterbildungs- und Arbeitsperspektiven im europäischen Raum bietet. Wer unter 30 ist, hat die Sowjetunion entweder gar nicht mehr oder kaum mehr bewusst erlebt. Hingegen weiss man von den Möglichkeiten, die die Altersgenossen etwa in den baltischen Staaten haben. Diese waren einst ebenfalls Sowjetrepubliken, sind heute aber Teil der EU. Für eine etwas ältere Generation, etwa Kleingewerbler, steht hingegen eher im Vordergrund, dass man sich ein Staatswesen wünscht, das Raum für persönliche und geschäftliche Entfaltung bietet. Personen, die unternehmerisch tätig sein wollen, treffen auf viele Hindernisse, von der Bürokratie und dem Kontakt mit korrupten Beamten, die den Einstieg erschweren, über mafiaähnliche Strukturen, die schnell zur Stelle sind und ihren Anteil einfordern, wenn eine Geschäftsidee funktioniert, bis zum Problem von Raider-Attacken auf florierende Firmen und einer Gerichtsbarkeit, die nicht in der Lage oder willens ist, Eigentumsrechte zu schützen.

Diese Missstände werden von der Bevölkerung zu einem guten Teil - und auch zu Recht - mit dem Erbe des totalitären Kommunismus verbunden. Dieser stellte mit seiner vertikalen Machtstruktur und einer politisch manipulierten Justiz ein quasifeudales System dar. Wer die Fäden in der Hand hielt, konnte seine Günstlinge sehr schnell sehr reich werden lassen, sie aber eben so rasch wieder fallenlassen. In seinen Grundzügen besteht dieses System noch heute und äussert sich in der oligarchischen Durchdringung der Schlüsselbereiche der ukrainischen Wirtschaft. Unter Janukowitsch hat es sich nicht aufgeweicht, sondern im Gegenteil wieder verfestigt.

Von einer EU-Assoziation (und möglichen späteren Mitgliedschaft) erhofft sich die protestierende Bevölkerung, dass sie zu transparenteren Verwaltungsstrukturen führt. Die Enttäuschung über die abrupte Abkehr der Administration Janukowitsch vom Kurs der EU-Annäherung fiel deshalb so heftig aus, weil viele nun befürchten, im alten Kreislauf gefangen zu bleiben. Druck zu dessen Durchbrechung erwartet man gerade aus Russland keinen.

Skepsis im Osten

Die zahlreichen Fähnchen von Aktivistengruppen aus der Provinz auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz zeigen, dass der Protest keineswegs nur die Sache der Hauptstädter ist. Auch punkto Alter und beruflicher Herkunft herrscht grosse Durchmischung. So hätte man ausgediente Armeeoffiziere nicht unbedingt unter den Manifestanten erwartet. Er sei früher in (Ost-)Deutschland stationiert gewesen, erklärte einer von ihnen gegenüber der Zeitung «Segodnja», und wisse, wo das Land heute stehe. Es sei ihm ein Anliegen, dass die jungen Ukrainer einst ebenfalls leben könnten wie in Europa.

Wie vielen auf dem Unabhängigkeitsplatz bewusst ist, dass sich das «bessere Leben» nicht schon bei einer Vertragsunterzeichnung mit der EU einstellt und dass es eine Durststrecke zu überwinden gibt, muss dahingestellt bleiben. Befürchtungen über die Folgen verschärfter europäischer Konkurrenz hegt man hingegen im Osten des Landes, wo die Schwerindustrie und der Maschinenbau konzentriert sind. Dies sind Branchen, die sich überdurchschnittlich an den Exporten nach Russland beteiligen - einem Land, das gleich um die Ecke ist. Polen hingegen, das beim Bruttoinlandprodukt pro Kopf 1990 etwa gleichauf lag wie die Ukraine, laut der Weltbank heute jedoch mehr als dreimal so viel erwirtschaftet, ist viel weiter weg als für die Westukrainer, die das Beispiel direkt vor Augen haben.



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