Schweizerische Untertanen
Ein Blick in den zwölften und vorletzten Band des «Historischen Lexikons der Schweiz»
Ein Blick in den zwölften und vorletzten Band des «Historischen Lexikons der Schweiz»
von Thomas Maissen · Das
«Historische Lexikon der Schweiz» nähert sich fristgerecht seiner
Fertigstellung. Auch den vorletzten, den zwölften Band prägen umfassende
Kantonsartikel: Uri auf der einen Seite und Thurgau und Tessin auf der
anderen erinnern daran, dass die Alte Eidgenossenschaft bis 1798 durch
individuelle und kollektive Untertanenverhältnisse geprägt war. Die
Urner herrschten alleine über das Urserental und die Leventina; weiter
östlich teilten sie sich bis Bellinzona mit Schwyz und Nidwalden die
Hohheitsrechte; und im restlichen Tessin, zwischen dem Maggiatal und
Mendrisio, waren die - bis auf Appenzell - übrigen eidgenössischen Orte
Teil eines zwölfköpfigen Souveräns, der sich diese Gebiete um 1512
unterwarf.
Historisches Lexikon der Schweiz, Band 12: Sti-Vin.
Schwabe,
Basel 2013. 912 S., zahlreiche Abbildungen, Fr. 298.-;
gleicher Preis
für die französische und die italienische Ausgabe.
Da die Eroberung des Thurgaus
schon 1460 erfolgte, stellten - bis 1712 ohne Bern - nur sieben der acht
alten Orte die Landvögte in der dortigen Gemeinen Herrschaft. Im Tessin
wurden die wenigen Protestanten 1555 aus Locarno vertrieben und liessen
sich wie die Pestalozzi und Orelli in Zürich nieder. Dagegen lebten im
Thurgau Katholiken und, dank Zürcher Schutz, Reformierte nebeneinander
und teilten sich in siebenundzwanzig Gemeinden die sogenannten
Simultankirchen. Ebenso eigentümlich für den Thurgau war der Stand der
teils weltlichen, teils geistlichen Gerichtsherren, darunter viele
Klöster und der Bischof von Konstanz. Sie trafen sich jährlich zu
eigenen Tagungen und übten Feudalrechte über Leibeigene aus.
Eingeschränkte Bürgerrechte
Wie die Eidgenossen eroberten die
drei rätischen Bünde 1512 Mailänder Territorium, neben den Grafschaften
Chiavenna und Bormio auch die Veltliner, die sie anfangs als «liebe und
getreue Bundsgenossen» ansprachen. Doch statt sie an den eigenen
Bundstagen mitbestimmen zu lassen, unterwarfen die Bündner die Veltliner
ihrem Landeshauptmann, der in Sondrio residierte, und mehreren
«Podestaten», die das Geld wieder eintrieben, mit dem sie ihr lukratives
Richteramt erworben hatten. Die auch durch den konfessionellen
Gegensatz genährte Unzufriedenheit eskalierte 1620 im «Veltliner Mord»
an sechshundert Reformierten, worauf die Drei Bünde in den
Dreissigjährigen Krieg hineingezogen wurden.
1797 wollte Napoleon ihnen das
Veltlin als vierten Bund angliedern, aber die Bündner lehnten die
Gleichstellung der bisherigen Untertanen ab, worauf das Veltlin an die
Cisalpinische Republik und später an Italien fiel. Gleichzeitig setzte
die Helvetische Republik 1798 erstmals das allgemeine Männerwahlrecht
durch, das aber in den folgenden Verfassungen durch Zensusbestimmungen
wieder stark eingeschränkt wurde. Auch als es die Bundesverfassung von
1848 wieder einführte, blieben etwa zwanzig Prozent der erwachsenen
Bürger davon ausgeschlossen. Als Gründe für den Ausschluss galten
Geistesschwäche (bis heute), strafrechtliche Verurteilung, fruchtlose
Pfändung und Konkurs, Sittenlosigkeit, Armengenössigkeit, Bettelei und
weitere «Defizite», die politische Unmündigkeit nahezulegen schienen.
Die jüdischen Schweizer erhielten das kantonale und eidgenössische
Stimm- und Wahlrecht erst 1856, in lokalen Angelegenheiten erst als
Folge der 1866 gewährten Niederlassungsfreiheit. Ebenfalls nur
allmählich wurden in den Kantonen Zensusbestimmungen oder der Ausschluss
von Zugewanderten, Dienstboten und Analphabeten abgeschafft. Bis 1971
war nur etwa ein Viertel der Wohnbevölkerung bei Nationalratswahlen
wahlberechtigt, ehe das Wahlrecht für Frauen, aber auch für
Zahlungsunfähige oder strafrechtlich Verurteilte diesen Anteil auf gute
sechzig Prozent ansteigen liess.
Während die Zahl der Berechtigten
beträchtlich zunahm, ging die Beteiligung an den Nationalratswahlen
stetig zurück. Sie lag allerdings auch im 19. Jahrhundert nicht überall
bei gut achtzig Prozent wie in Schaffhausen, wo noch heute Stimmzwang
besteht. Besonders die Verlierer des Sonderbundskriegs, mit Schwyz an
der Spitze (unter dreissig Prozent Beteiligung), nahmen bis 1917
deutlich weniger an den Nationalratswahlen teil, wogegen im 20.
Jahrhundert die Abweichungen vom schweizerischen Durchschnitt geringer
ausfallen. In der Zwischenkriegszeit nahmen achtzig Prozent der
Berechtigten an den Nationalratswahlen teil, ab 1939 sank der Anteil auf
gegenwärtig etwa fünfzig Prozent.
Aufschlussreiche Grafiken
illustrieren auch die Tatsache, dass die türkische Wohnbevölkerung in
der Schweiz seit den 1960er Jahren steil auf gut achtzigtausend Menschen
im Jahr 1990 anstieg, etwa acht Prozent der ausländischen Bevölkerung.
Inzwischen liegt dieser Anteil nur noch bei der Hälfte, weil viele
Türkischstämmige das Bürgerrecht erhielten. An der noch geringen Zahl
von insgesamt fünftausend Studierenden betrug um 1900 der Anteil der
Ausländer wiederum fast die Hälfte. Und 1907 war ein Viertel der
Studierenden weiblich, auch sie vor allem Ausländerinnen, namentlich aus
Russland und Deutschland. Als dort bis zum Ersten Weltkrieg das
Frauenstudium eingeführt wurde, gingen die Zahlen entsprechend zurück:
Erst 1975 betrug der Anteil der Frauen an den damals schon
sechzigtausend Studierenden wieder ein Viertel, und heute stellen sie
die Hälfte der hundertdreissigtausend Studierenden.
Streiks
Nicht zuletzt war die Zeit
unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg der Höhepunkt von
Arbeitskämpfen mit jährlich rund dreihundert verschiedenen Streiks, was
auch im internationalen Vergleich Spitzenwerte waren, die dank
Arbeitsfrieden und Hochkonjunktur in der Nachkriegszeit weitgehend
vergessen gingen. Dass dies vergängliche Errungenschaften sein können,
beweist das frühe 21. Jahrhundert mit zwar anzahlmässig weiterhin
wenigen Streiks, aber solchen, an denen viele sich beteiligten.
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