Montag, 26. Mai 2014

Besitztumseffekt.

aus derStandard,

Besitz macht ökonomisch unvernünftig
Die Angehörigen der Hadza in Tansania handeln wirtschaftlich "rationaler", obwohl sie am Marktgeschehen gar nicht teilnehmen

von Adrian Lobe

Wien - Was wir besitzen, werten wir auf. Das gilt auch für ganz banale Objekte. Dahinter steckt ein psychologischer Mechanismus, der sogenannte Besitztumseffekt (im Original: Endowment-Effekt), der vom US-Wirtschaftswissenschafter Richard Thaler 1980 erstmals beschrieben und von Ökonomen um Daniel Kahneman, Wirtschaftsnobelpreisträger 2002,  experimentell bestätigt wurde.

Kahneman und Kollegen ließen Probanden eine Tasse für einen Preis zwischen 0,25 und 9,25 US-Dollar kaufen. Die Käufer waren bereit, dafür im Schnitt drei Dollar zu bezahlen. Die anderen Teilnehmer bekamen die gleiche Tasse geschenkt und verlangten beim Weiterverkauf sieben Dollar - viel mehr, als die anderen zahlen wollten.

Besitz macht Gegenstände wertvoller

Die Erklärung der Ökonomen: Selbst der kurzzeitige Besitz eines Gegenstands lässt ihn subjektiv wertvoller erscheinen. Der Grund dürfte darin liegen, dass Verluste höher gewichtet werden als Gewinne. Doch handelt es sich beim Besitztumseffekt um eine anthropologische Konstante? Ist er allen Menschen angeboren und damit ein universelles Phänomen?

Forscher um Nicholas Christakis (Harvard University) sind diesen Fragen nachgegangen. Dazu reisten sie zu einem der letzten Jäger-und-Sammler-Völker dieser Erde, den Hadza im Norden Tansanias, die in kleinen Gruppen von 30 Personen völlig abgeschieden von der Umgebung leben.
Wovon Kommunisten nur träumen können, ist bei den Hadza eine soziale Norm. Die Männer jagen wilde Tiere, die Frauen sammeln Früchte, das Essen wird geteilt. Und das schlägt auch auf den Besitztumseffekt durch, wie die Ökonomen in einer Studie zeigen konnten, die als Pre-Print publiziert wurde und demnächst im Fachblatt "American Economic Review" erscheinen wird.

Die Forscher schenkten 91 Hadza einmal Kekse, ein anderes Mal ein Feuerzeug. Nachdem sie das Geschenk erhalten hatten, konnten sie es gegen Kekse mit anderem Geschmack oder ein anderes Feuerzeug eintauschen. In westlichen Kulturkreisen wurde dieses Experiment schon mehrmals durchgeführt. Das Ergebnis hier: Die Probanden hielten das, was sie bekommen hatten, für wertvoller - und tauschten kaum.

Ökonomisch "klügeres" handeln

Ganz anders bei den Hadza: Gut die Hälfte der Versuchsteilnehmer war bereit, ihr Geschenk zu tauschen. Das ist auch der Anteil, den man bei rational handelnden Individuen bei gleichwertigen Gütern erwarten würde. Das besitzlose Volk ohne marktwirtschaftliche Erfahrungen agierte ökonomisch "klüger" als die Menschen in der westlichen Konsumgesellschaft.

Die Wissenschafter schließen daraus, dass der Besitztumseffekt kein universelles Phänomen ist, sondern von der Kultur geprägt wird, in der man lebt. In einer Gesellschaft, die keinen Besitz kennt, gibt es logischerweise auch keinen Besitztumseffekt.


Abstract: American Economic Review: Evolutionary Origins of the Endowment Effect: Evidence from Hunter-Gatherers


Nota

Dass die Hazda 'keinen Besitz kennen', wird kaum stimmen, vermutlich kennen sie sogar Eigentum. Allerdings wohl nicht bei den gewöhnlichen Gebrauchsgegenständen: Jäger-und-Sammler leben typischerweise nomadisch, da lässt sich nicht viel anhäufen, wie sollte es transportiert werden?  Mit den Jagdwaffen, die das wichtigste, wenn nicht einzige Produktionsmittel der Jäger-und-Sammler sind, verhält es sich aber typischerweise anders. Da kommt es auf die durch Erfahrung bewährte Qualität an, die wird geschätzt und nicht blindlings getauscht. Sollte das bei den Hazda anders sein?
JE


Sonntag, 25. Mai 2014

Enge und lockere Gesellschaften.

 
Hans Makart, Bacchus und Ariadne
aus Die Presse, Wien, 21. 5. 2014


Wie der Bürgerkrieg heute noch den US-Süden einschnürt
Ein altes Konzept, das Gesellschaften in „enge“ mit rigiden Normen und „lockere“ mit Toleranz einteilt, wurde aktualisiert und für die USA fruchtbar gemacht.

 

Wenn man der ganzen Menschheit empfehlen würde, sich die besten Regeln der Welt zu geben, würde jede Gruppe, nach eingehender Beratung, ihre eigenen Sitten wählen; und jede Gruppe würde sich als die bei Weitem beste betrachten.“ Mit diesen Worten brachte Herodot vor 2400 Jahren als Erster das Staunen darüber zu Papier, wie unterschiedlich Gesellschaften organisiert sind, und ihre Denk- und Verhaltensweisen auch. Das frappiert heute noch mehr, erst kommen in den TV-Nachrichten die Hardcore-Fundamentalisten aus Nigeria, dann folgt der Eurovisions-Contest. Haben die jeweiligen Gesellschaften ihre Werte und Normen ausverhandelt, wie Herodot das imaginierte? Und welchen Handlungsspielraum hatten sie?

Damit tun sich die Sozialwissenschaften, die ohnehin kaum mehr existieren, schwer, eine der Letzten an der Front ist Michele Gelfand, Psychologin an der University of Maryland. Sie knüpft an eine Tradition an, die im frühen 20. Jahrhundert Gesellschaften in „apollinische“ und „dionysische“ einteilte (Ruth Benedict, 1934) oder auch in „kooperative“ und „individualistische“ (Margareth Mead, 1937), das waren ethnologische Arbeiten über „primitive“ Kulturen, sie brachten etwa ans Licht, dass in bäuerlichen Gesellschaften rigidere Normen herrschen, bei Jägern und Sammlern laxere, Bauern müssen einfach stärker kooperieren.

Bedrohungen machen alles eng

Ob sich mit dem Begriffspaar auch heutige Gesellschaften fassen lassen, testete 1965 Perrti Pelto (University of Minnesota), er brachte Begriffsschärfe in den Dualismus: Gesellschaften sind entweder „eng“ oder „locker“, in engen ist alles streng normiert und sanktioniert, in lockeren gibt es Raum für Abweichler. Ihren Hintergrund haben die Modelle in Umwelt und Geschichte: In unsicheren Regionen, in denen Naturkatastrophen und Epidemien und Kriege drohen, in denen also das Notwendigste ständig in Gefahr ist, geht alles in die Enge: Normen und Sanktionen sind hart, an straff organisierter Ordnung liegt mehr als an Freiheit. Das schlägt durch auf die Mentalität, auch der Blick wird eng, er duldet keine Vielfalt und achtet auf Selbstdisziplin, von außen unterstützt durch viel Polizei, von innen durch einen starken Glauben.

Das Konzept hat Gelfand 2011 für einen internationalen Vergleich aktualisiert, in 33 Nationen bzw. Städten erhob sie Enge und Lockerheit (Science, 332, S.1102). Ganz grob passte das Bild: Im sicheren Groningen in den Niederlanden war der „Enge-Wert“ tief („Tightnes-Score“: 3,3), im geplagten Hyderabad in Pakistan war er hoch (12,3), Österreich lag mit Linz im Mittelfeld (6,8).

Dabei kamen auch Details ans Licht wie die stärkere Unterdrückung der Linkshändigkeit in engen Gesellschaften, aber man rieb sich beim Betrachten der Statistik schon die Augen: Am lockersten ging es demnach in der Ukraine zu (Odessa: 1,6), es folgte Ungarn (Budapest: 2,6). Die Analyse sagte also eher etwas über die Städte als über die Länder, das war auch in den USA so, die mit Washington einen Score von 5,1 hatten. Deshalb ist Gelfand nun am Exempel der USA in die Feinheiten gegangen, sie hat alle 50 Bundesstaaten verglichen und ein unterschiedliches Bild gefunden, mit einem starken Lockerheits/Enge-Gefälle von Norden (und Westen) nach Süden: Rechts unten ist es eng, Mississippi, Alabama, Arkansas liegen an der Spitze des „Tightness-Score“ (mit Werten um die 75, Gelfand hat diesmal anders skaliert).

Ganz locker ist es im Westen (Kalifornien: 27,37), es folgt der Norden: In beiden Regionen gibt es mehr Alkohol- und Drogenkonsum, aber relativ wenige Insassen in Gefängnissen und wenig Diskriminierung. Im Gegenzug wieder sind Kreativität und Wohlbefinden größer (Pnas, 19. 5.). Woher das alles? Im Süden ist die Natur bedrohlicher, dort gibt es die Hurrikans, dort grassieren Infektionskrankheiten. Und im Süden hat die Geschichte tiefe Spuren hinterlassen, die des Bürgerkriegs, der betraf den Norden natürlich auch, aber ausgekämpft wurde er im Süden.

Kultur als Anpassung an lokale Umwelt

Die Erinnerung an diese Bedrohung hat sich gehalten. „Enge und Lockerheit sind Anpassungen an lokale Umwelten, die das Verständnis kultureller Differenzen auf vielen Ebenen ermöglichen“, schließt Gelfand, die allerdings auch weiß, dass das Konzept nicht alles erklärt: Es gibt lockere „Inseln“ in engen Regionen und enge in lockeren.

Und natürlich spielt auch mit, was bei Gelfand nur über einen Umweg einfließt, die Sozioökonomie. Eine ihrer Auswirkungen hat Soziologe Jens Ambrasat (FU Berlin) in Deutschland erhoben (Pnas, 19. 5.): Er hat Testpersonen Wörter vorgelegt, die entweder sichere Sozialbezüge implizierten („Lebensgefährte“, Verbündeter“) oder bedrohliche („Störenfried“, „Krimineller“). Sozioökonomisch gehobene Testpersonen reagierten mit weniger Emotion auf die Sicherheit, aber mit mehr auf die Bedrohung.



Freitag, 23. Mai 2014

Rudern macht frei.

aus Der Standard,

Am Anfang mussten alle rudern  
Wie Europa in den antiken Reichen der Griechen und Römer seinen Ausgang nahm
von Alois Pumhösel

Um ein Schiff durch Rudern fortzubewegen, bedarf es koordinierter Anstrengung. Immerhin sitzen alle im selben Boot, und nur Zusammenarbeit führt ans Ziel. Eine Gemeinschaft bildet sich. Das Überqueren der Meere trug in der Antike auch dazu bei, dass sich die Vorstellung von einer idealen Gemeinschaft veränderte. Hin zu mehr Teilhabe Einzelner. Hin zur Demokratie.

Athen konnte seine Stellung als Seemacht im fünften Jahrhundert vor Christus nur halten, indem es tausende Bewohner des Stadtstaats, die selbst nicht der Aristokratie angehörten, als Ruderer einsetzte. "Es gab immer einen Zusammenhang zwischen dem Beitrag, den der Einzelne zur Wehrhaftigkeit einer Polis leistet, und seiner politischen Partizipation. Entsprechend dieser Korrelation wollten die Ruderer auch Mitspracherechte haben", beschreibt der deutsche Althistoriker, Altphilologe und Wissenschaftsvermittler Karl-Wilhelm Weeber im Gespräch mit dem Standard eine der Grundlagen für die Entstehung der Demokratie im alten Athen.

Als die gegenwärtige Finanzkrise über Griechenland hereinbrach, schrieb Weeber sein Buch Hellas sei Dank! Was Europa den Griechen schuldet (Siedler), um daran zu erinnern, wo die Fundamente der europäischen Kultur gelegt wurden: Was ist schon eine Wirtschaftskrise gegen die Entwicklung der Demokratie, der Philosophie, des Theaters?

Im alten Griechenland führte die neue politische Anteilnahme der "Kakoi" , der "Schlechten", zu einem neuen Selbstbewusstsein. "Nachdem die Aristokraten jahrhundertelang gepredigt hatten, dass sie nichts wert sind, stellen die Unterdrückten nun fest: Wir schaffen das auch!" - Ein Quantensprung im sozialen Zusammenleben, der einen vergleichsweise großen Teil der Gesellschaft mit neuem Ehrgeiz versah. Für Vollbürger wurde es selbstverständlich, sich einzubringen - eine Eigenschaft, die heute wieder als Vorbild dienen könnte. Die Rhetorik, Mittel der effektiven Beeinflussung, wurde zur Kunstform.

Warum aber waren die Griechen so erfolgreich? Warum sind ihre Lehren nicht im Staub der Geschichte versunken wie viele andere? Auch sie waren beeinflusst von älteren Kulturen und hatten etwa astronomisches Wissen von den Babyloniern übernommen. Auch der Chronist Herodot glaubte, dass von den Barbaren einiges zu lernen sei. "Die Griechen haben nicht alles erfunden, aber sie haben über den Tellerrand hinausgesehen", sagt Weeber.

Antike Horizonterweiterung

Offenheit und Wissensdrang, Annahmen hinzuschreiben und der Kritik preiszugeben, einen Diskurs entstehen lassen - das seien alles Dinge, die uns die Griechen mit auf den Weg gegeben haben, erklärt Weeber. "Sie haben uns gelehrt, aus den Erfahrungen ein System abzuleiten und Methodiken zu entwickeln."

Dass die Lehren der Griechen die Zeiten überdauern konnten, ist den Römern zu verdanken. Auch sie legten eine erstaunliche Offenheit und Adaptionsfähigkeit an den Tag: "Bei allem Machtstreben, bei aller Gewalt, die sie ausgeübt haben, war es eine große Leistung der Römer, dass sie ihre kulturelle Unterlegenheit gegenüber den Griechen erkannt haben", erklärt Weeber, der mit dem Buch Rom sei Dank! bereits auch die Leistungen der Römer gepriesen hat. "Sie haben das Fremde angenommen. Sie haben es zum Vorbild und nicht platt gemacht."

Die Römer übernahmen griechische Grundlagen in Medizin, Mathematik, Theater, Ästhetik, Literatur, Philosophie. Sie entwickelten sie weiter und verbreiteten sie in den eroberten Gebieten. "Die kulturelle Missionierung war ein Mittel der Herrschaftssicherung, ein Mittel, lokale Eliten an sich zu binden", sagt Weeber.

Die Römer waren es auch, die den Grundstein für moderne Rechtssysteme legten. "Die Abkopplung des Rechts von der Willkür der Priester ist früh in der römischen Zeit passiert." Mit der Zeit kam eine große Fallsammlung zustande, systematische Rechtsregeln gingen hervor. Man konnte etwa nicht zweimal für dasselbe Delikt angeklagt werden. Im Zweifel lag das Recht aufseiten des Angeklagten. Und, so Weeber: "Das Eigentumsrecht wurde sehr hoch angesiedelt, das merken wir heute noch in den europäischen Rechtsordnungen." Die Römer sind also mitschuld, dass wir materiellen Dingen so viel Bedeutung geben, könnte man folgern.

Kirche konserviert

Ausgerechnet das Christentum sorgte dafür, dass das antike Wissen nicht vergessen wurde. Die Kirche hielt die lateinische Sprache, den "Transmissionsriemen in die Neuzeit", am Leben. Dank ihr wissen wir heute etwa, dass im Mythos Zeus als weißer Stier die phönizische Königstochter Europa mit eindeutigen Absichten übers Meer nach Kreta entführte. Die alten Griechen und Römer entführten dagegen die Europäer in eine Welt, in der systematisches Denken und gemeinsame Entscheidungen als Ideale gelten.


Nota.

Das erklärt so gut wie gar nichts. Die Überlieferung aus der griechisch-römischen Antike geschah im Oströmische Reich und später im islamischen Raum viel ausdauernder und viel unmittelbarer als im Westreich und den barbarischen Herrschaften der Völkerwanderung. Die müssten demnach viel 'westlicher' geprägt sein als Europa. 

Europa entstand vielmehr im Mittelalter aus der Rivalität der feudalen mit den kirchlichen Gewalten. Zwischen beiden konnte sich eine bürgerliche Welt auftun.
JE 

 

Donnerstag, 22. Mai 2014

Religionen und Sozialstaat.

„Religion hat Wohlfahrtsstaaten weit mehr beeinflusst als bekannt“

Viola van Melis 
Zentrum für Wissenschaftskommunikation
Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 

Studie aus dem Exzellenzcluster schließt Forschungslücke für 13 Länder Europas

Religionsgemeinschaften haben laut einer neuen Studie aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ weit mehr Einfluss auf die Entstehung europäischer Wohlfahrtsstaaten gehabt als bislang bekannt. „Vor allem in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden, in denen Staat und Kirchen sowie die Konfessionen untereinander konkurrierten, entwickelten Religionen viel Einsatz für den Wohlfahrtssektor“, sagt der evangelische Theologe und Sozialethiker Prof. Dr. Hans-Richard Reuter vom Exzellenzcluster der Uni Münster. „In Ländern wie Spanien oder Polen hingegen, wo der Katholizismus lange ein Monopol innehatte und eng an den Staat gebunden war, haben Religionen kaum Einfluss auf die bis heute schwächere Ausprägung von Sozialstaatlichkeit genommen.“ Sie bestimmten insofern entscheidend mit, wie und wie stark sich der Wohlfahrtssektor in einem Land entwickelte. Die Studie untersucht 13 europäische Länder. Es handelt sich um die bislang größte Untersuchung zum Einfluss von Religionen auf die Sozialstaaten Europas.

Da der Faktor Religion in der europäischen Wohlfahrtsforschung zuvor wenig auftauchte, schließt die Studie eine Forschungslücke, wie die Leiter der Untersuchung, Prof. Reuter und der katholische Theologe und Religionssoziologe Prof. Dr. Karl Gabriel erläutern. Die Untersuchung ist unter dem Titel „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa“ im Tübinger Verlag Mohr Siebeck erschienen. Herausgeber des ersten von zwei Bänden sind neben Prof. Reuter und Prof. Gabriel der katholische Theologe Dr. Stefan Leibold und der evangelische Fachkollege Andreas Kurschat vom Exzellenzcluster. Der zweite Band wird unter dem Titel „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland“ voraussichtlich im Frühjahr 2015 erscheinen.

„Wenig Sozialstaat in Ländern mit Orthodoxie und Islam“

Die Autoren untersuchen religiös-konfessionelle Einflüsse auf die sozialstaatliche Entwicklung in dreizehn europäischen Ländern von der Industrialisierung bis zur Gegenwart. Auf dieser Grundlage arbeiten die Forscher verschiedene Länder-Typen nach der Stärke von Wohlfahrtsstaatlichkeit und dem religiösen Einfluss darauf heraus. „Zugleich zeigt jedes einzelne Land eine einzigartige Gestalt in der Entwicklung seines Wohlfahrtssystems“, so die Wissenschaftler. Die schwächsten Formen des Sozialstaats finden sich in den untersuchten christlich-orthodox und osmanisch geprägten Staaten. „Während die Wohlfahrtsstaaten Westeuropas sowohl Klassenspaltung als auch Konflikte zwischen Kirche und Staat institutionell verarbeiteten, entwickelte die Orthodoxie in Ländern wie Griechenland, Russland und Bulgarien nie ein konfliktreiches Gegenüber, das zu Aktivitäten im sozialen Sektor hätte führen können.“ Ähnliches stellten die Forscher für den Islam und die Türkei fest.

In Ländern mit mehr Sozialstaat waren es der Untersuchung zufolge häufig „religiös erweckte und charismatische Persönlichkeiten“, die den Anstoß zum sozialen Engagement der Religionsgemeinschaften gaben. In Deutschland zählten dazu auf katholischer Seite „Arbeiterbischof“ Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877) und der Sozialethiker und Politiker Franz Hitze (1851-1921). Als wegweisende Protestanten nennen die Autoren Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), den Theologen Johann Hinrich Wichern (1808-1881), Sozialpolitiker Theodor Lohmann (1831-1905) und Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898).

Einen besonders starken Einfluss der Religion auf den Sozialstaat fanden die Forscher in gemischt-konfessionellen Staaten wie Deutschland und den Niederlanden. Ausschlaggebend dafür war das Zusammentreffen der Konkurrenz zwischen Kirchen und Staat mit derjenigen zwischen den Konfessionen. Das gilt auch für Länder, in denen Religion und Staat Interessenskonflikte austrugen und institutionell eigenständig blieben, wie die Herausgeber schreiben. „Dabei reagierten die Religionen nicht nur auf Modernisierung und Wohlfahrtsstaatsentwicklung, sondern wirkten selbst aktiv darauf hin.“ Prof. Gabriel: „Wie nirgendwo sonst entdeckten in Deutschland die gut organisierten Katholiken die Sozialpolitik als bevorzugtes Feld ihres Ringens um gesellschaftliche Anerkennung und politische Emanzipation.“ Eine Rolle spielte dabei, dass Religion und Aufklärung sich nicht ausschlossen.

Auch in anderen mittel- und nordwesteuropäischen Ländern wie dem lutherisch geprägten Schweden und Dänemark sowie dem anglikanisch beeinflussten Großbritannien gelang es, Impulse der Aufklärung und des Christentums miteinander zu verbinden, wie die Autoren darlegen. „Auf diese Weise erhielten die bürgerlich-nationalen Revolutionen keine antichristliche, sondern eine mit dem christlichen Erbe positiv verbundene Ausrichtung.“

Weniger ausgeprägt und auch weniger religiös beeinflusst seien die Wohlfahrtsstaaten im Süden und Osten Europas. „In Spanien oder Polen etwa war der Katholizismus staatlich eng eingebunden und hatte eine religiöse Monopolstellung inne. Folglich blieb der Konkurrenzkampf aus – sowohl zwischen Religion und Staat als auch zwischen einzelnen Konfessionen“, so die Herausgeber. Etwas ausgeprägter sei der Wohlfahrtsstaat In Italien, der zumindest einige „langfristig wirkende katholische Elemente“ aufweise.

Die Studie des Exzellenzclusters entstand im Projekt A7 „Die religiöse Tiefengrammatik des Sozialen“. Beteiligt waren internationale Sozialwissenschaftler, Historiker, Theologen und Juristen. Sie untersuchten die Wohlfahrtsstaatlichkeit in Bulgarien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Polen, Russland, Schweden, Spanien und der Türkei. Dabei ging es um den Einfluss von Katholizismus, Luthertum, anglikanischer Staatskirche und freikirchlichem Protestantismus sowie Calvinismus, Orthodoxie und Islam. Prof. Reuter: „Die Länderauswahl folgte dem Ziel, ein breites geographisches, religionskulturelles und sozialstaatliches Spektrum abzudecken.“ (han/vvm) 
 

Weitere Informationen:http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/en/aktuelles/2014/mai/PM_Studie_...
Nota.  

So kann man Sozialwissenschaft also auch betreiben. Der naive, leichtgläubige Zeitgenosse hätte vermutet, dass der Wohlfahrts- und Sozialstaat am stärksten dort ausgeprägt ist, wo die Industrialisierung am frühesten eingesetzt hat, der Klassenkampf heftig und die Arbeiterbewegung stark war. Das sind zufällig dieselben Länder, die das Exzellenzcluster nennt. Denn überall, wo Kirche und Staat miteinander stritten und Konfessionen konkurrierten (also wo die Reformation eine Rolle gespielt hat), war der religiöse Einfluss nicht stark genug war, um die Arbeiterschaft vom Sozialismus fernzuhalten. Aber das Exzellenzcluster dreht die Sache einfach um; fast wollen sie uns sagen, der Sozialstaat sei eine Errungenschaft des... Protestantismus. Da wird denn sogar Bismarck zum mitfühlenden Samariter.
JE   

Die Reformation war keine Freiheitsbewegung.

Im Januar 1527 werden in der Limmat in Zürich die ersten Märtyrer der Täuferbewegung ersäuft, hier Felix Manz, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert.
Im Januar 1527 werden in der Limmat in Zürich die ersten Märtyrer der Täuferbewegung ersäuft, hier Felix Manz, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert.
aus nzz.ch, 21. Mai 2014, 11:00

Die Intoleranz der Reformatoren
Soll man Ketzer verfolgen?

 

Am 27. Oktober 1553 liess Jean Calvin den spanischen Arzt Miguel Servet verbrennen. Dieser hatte die Dreieinigkeit in Zweifel gezogen, worauf ihm der Genfer Reformator gemeinsam mit dem altgläubigen Bischof von Lyon nachstellte. «Oh, Jesus, Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner», waren Servets letzte Worte auf dem Scheiterhaufen. Sie waren zugleich sein letzter theologischer Widerstand: Hätte er stattdessen Jesus als «ewigen Sohn» angefleht, wäre, was er sprach, orthodox gewesen. – Dürfen solche (für uns) marginalen Glaubensdifferenzen über Leben und Tod entscheiden? Soll man Ketzer verfolgen? So formulierte der savoyische Arzt Sebastian Castellio 1554 den Buchtitel seiner lateinischen Schrift, die nun, von Werner Stingl, erstmals ins Deutsche übersetzt und von Wolfgang Stammler herausgegeben worden ist. Dem Verständnis von Castellios Werk dient nicht nur ein hilfreicher Anhang, sondern auch ein längerer Auszug aus Hans Rudolf Guggisbergs einschlägiger Castellio-Biografie von 1997, in der die Argumente der Toleranz-Debatte dargelegt und historisch eingeordnet werden. Die zeitlose Kernbotschaft lautete: «Hominem occidere non est doctrinam tueri sed hominem occidere» – «einen Menschen töten heisst nicht eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten».
 
Kommentierte Anthologie

Castellio trat nicht für Servets antitrinitarische Überzeugungen ein, aber entschieden für Barmherzigkeit auch gegenüber «Irrenden» und damit gegen Calvins «Zügellosigkeit des Richtens». Die beiden kannten sich. Castellio war als humanistischer Reformator und Lehrer in Strassburg und Genf ein Weggefährte Calvins gewesen, bis er 1545 nach Basel auswich. Dort erschien «De haereticis, an sint persequendi» in Form einer Anthologie, in der Castellio unter Pseudonymen eigene Texte mit solchen von Kirchenvätern, Reformatoren und Freidenkern verband, die gegen die Unduldsamkeit argumentierten. In dieser Reihe, die von Augustin über Luther und Erasmus zu Sebastian Franck führte, zitierte Castellio raffiniert auch Calvin selbst. In der ersten Auflage seines Hauptwerks, der «Institutio Christianae religionis», hatte Calvin 1535 diejenigen verworfen, die Falschgläubige «zu unserem Glauben» zwingen, «indem sie sie aus ihrer Gemeinschaft ausstossen und ihnen jegliche menschlichen Liebesdienste versagen und sie mit Schwert und Waffen verfolgen».

Dieser Satz fehlte in späteren Auflagen. Während Castellio bezweifelte, dass Menschen die göttliche Wahrheit eindeutig erkennen könnten und auf dieser Grundlage Mitmenschen hinrichten dürften, war das Toleranzpostulat der anderen Reformatoren nicht prinzipiell, sondern situativ und provisorisch. Sie forderten von der alten Kirche die Freiräume, um die neu erkannte Wahrheit zu verkünden. Dass sich diese Wahrheit und damit Gottes Wille dann durchsetzen musste, war für sie unbezweifelbar: Hatte die Reformation einmal obsiegt, so war Toleranz nicht nur überflüssig, sondern sie erzürnte auch den eifersüchtigen Gott, der keine Relativierung der Wahrheit duldete.

So bekämpften sich die verschiedenen reformatorischen Bewegungen untereinander fast ebenso unerbittlich, wie sie allesamt mit den Katholiken stritten. Castellio klagte, dass «jeder für einen Ketzer gilt, der anders denkt als wir». Luther bezeichnete die Zürcher Reformierten als «verfluchte Rotte der Schwermer, Zwingler und dergleichen». Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger verwarf seinerseits die Täufer als «schantliche, verderpliche, nydige und uffruerische sect». Die Anfänge der Täuferbewegung lagen für ihn nicht in Zürich, wo ihre ersten Anhänger 1527 hingerichtet wurden, sondern in Sachsen, bei den Zwickauer Propheten und Thomas Müntzer. Damit machte der Zürcher Luthers Heimat und dessen frühes Umfeld für die Sektenbildung verantwortlich. – Christian Moser, der eine voluminöse Studie zu Bullingers um 1567 verfasster Geschichte der Zürcher Reformation vorgelegt hat, versteht Bullingers tendenziöse «Täuferhypothese» nicht als «bewusste Fälschung», sondern erkennt «durchaus plausible Schlüsse», die der Reformator aus dem ihm vorliegenden Material gezogen habe. Allerdings verfolgte Bullinger dieselbe Strategie des Schuldexports, als er einen Zusammenhang zwischen der Zürcher Reformation und den Bauernrevolten von 1524/25 bestritt: Der «gmein uruewig man» auf der Zürcher Landschaft habe seine aufrührerischen Ideen aus den Gebieten nördlich des Rheins und erneut von Thomas Müntzer empfangen.
 
Graubünden

Während Moser sich der gelehrten Historiografie, der Quellenauswertung und humanistischen Arbeitsweise widmet und einen reichen Anhang mit Texteditionen und Handschriften-Beschreibungen zur Verfügung stellt, interessiert sich Ulrich Pfister vor allem für die Umsetzung der Reformation als Glaubenspraxis im Alltag; und parallel dazu für die Umgestaltung der allumfassenden, katholischen Kirche zu einer Konfessionskirche. Graubünden ist hierfür trotz Überlieferungsproblemen ein hervorragender Untersuchungsgegenstand, wählten doch die verschiedenen Gerichtsgemeinden in einem langen Prozess ihre Pfarrer und damit ihr Bekenntnis nach dem Mehrheitsprinzip selbständig, was zu einem konfessionellen Flickenteppich führte.

Voraussetzung dafür war das Ilanzer Glaubensgespräch von 1526, das in seltener Weise «jedermann» die Wahl zwischen dem reformierten und dem katholischen Glauben freistellte; faktisch gemeint waren aber zusehends die Gemeinden, nicht die individuellen Gläubigen. Täufer und andere «Irrlehren» waren explizit verboten, auch wenn in der Folge selbst antitrinitarische Anhänger von Servet vor allem aus Italien nach Graubünden flohen. Vor allem die Evangelischen nutzten das Argument der Glaubensfreiheit zudem, um ihre Minderheiten in Gemeinden zu schützen und ihnen Anteil am Kirchengut zu gewähren. – Vormoderne Toleranz war kein Grundprinzip, sondern ein Argument, womit die jeweiligen Obrigkeiten das Konfliktpotenzial des Glaubensstreits sowohl entschärfen als auch eskalieren lassen konnten.

Sebastian Castellio: Das Manifest der Toleranz. Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll. Aus dem Lateinischen von Werner Stingl. Alcorde, Essen 2013. 440 S., Fr. 45.90.
Christian Moser: Die Dignität des Ereignisses. Studien zu Heinrich Bullingers Reformationsgeschichtsschreibung. Brill, Leiden/Boston 2013. 2 Bände, 1110 S., Fr. 312.90.
Ulrich Pfister: Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert. Ergon, Würzburg 2013. 544 S., Fr. 104.90.

Mittwoch, 21. Mai 2014

Religion stammt aus der Angst.

institution logoReligion als Instrument der Angstbewältigung

Viola van Melis  
Zentrum für Wissenschaftskommunikation
Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster  

Neurobiologe Robert-Benjamin Illing zur Entstehung von Religion in der Evolution – Streitgespräch „Entsteht Religion im Gehirn?“ mit dem Theologen Dirk Evers

Religion lässt sich aus Sicht des Freiburger Neurobiologen Prof. Dr. Robert-Benjamin Illing primär als Instrument der Angstbewältigung ansehen. „Mit Angstgefühlen sind unsere Vorfahren seit Urzeiten vertraut. Im Zuge der Zivilisations- und Bewusstseinsentwicklung sah sich der Mensch jedoch mit neuen Ängsten konfrontiert: vor Krankheit, Verfall und Tod“, sagte der Wissenschaftler am Dienstagabend in der Reihe „Streitgespräche über Gott und die Welt“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in Münster. „Anders als vor Schlangen oder Leoparden können wir vor Existenzängsten und Sinnkrisen nicht physisch fliehen, weil sie in uns wohnen“, so der Forscher. „Im Rahmen unserer kognitiven Möglichkeiten fassen wir die neuen Ängste deswegen in Mythen und entwickeln daraus Religionen, um ihnen doch zu entkommen.“

Die Welt biete nicht nur für vielfältige Lebensformen, sondern auch für vielfältige kognitive Kreationen zahlreiche „ökologische Nischen“, so Illing. „Sie war ein vergleichsweise armseliger Ort, als es in ihr noch keine Seele, kein Ich, keine Werkzeuge, keine Freiheit, keinen Gott gab. Jetzt gibt es all das in ihr dank des Menschen. Und was sich bewährt, entspricht ihrer Hausordnung.“

Die Veranstaltung trug den Titel „Neurologie und Kognitionswissenschaft: Entsteht die Religion im Gehirn?“ In den vergangenen Jahren hatten zahlreiche Neurowissenschaftler versucht, den Sitz religiöser Vorstellungen im Gehirn genau zu lokalisieren. Neurobiologe Illing hingegen folgte in seinen Ausführungen evolutionsbiologischen Erklärungen: Der Mensch stelle anhand spärlicher äußerer Wahrnehmungen ständig Vermutungen über Gedanken und Absichten anderer Menschen an. „Mit diesem kognitiven Instrumentarium treten wir auch der Natur gegenüber, wenn wir etwa in Pilzkreisen Feenringe sehen oder Opferriten durchführen, um Vulkane zu besänftigen.“

Elektrochemische Zustände im Gehirn

Der Neurobiologe führte aus: „Wie unsere Sinnesorgane entstand auch unser Gehirn nicht aus dem Nichts, sondern als Zwischenergebnis einer Jahrmillionen langen stammesgeschichtlichen Entwicklung.“ Während der Evolution sei es zu einer zunehmend spezifischen Anpassung unserer Sinnes- und Gehirnfunktionen an eine immer komplexer werdende Umwelt gekommen. „Um uns darin schnell und sicher zu orientieren, produzieren unsere Sinnes- und Denkorgane unablässig nützliche, aber keineswegs unfehlbare Hypothesen über Dinge, Gesetzmäßigkeiten und Absichten“, sagte Illing. „Deshalb ist die Welt weder so, wie wir sie sehen, noch so, wie wir sie denken.“

Der evangelische Theologe Prof. Dr. Dirk Evers aus Halle schloss an Illings Position an. Auch er vertrat die Auffassung, Religion entstehe nicht im Gehirn. Vielmehr bilde sie sich „im sozialen Raum sprachfähiger Subjekte“ heraus, „denn im Gehirn entstehen – nach allem, was wir wissen – Muster elektrochemischer Zustände.“ Religiöse Vorstellungen und Verhaltensweisen sollten nach den Worten des systematischen Theologen gerade für solche Aspekte menschlicher Existenz stehen, die evolutionsbiologisch nicht funktional zu beschreiben sind. Dabei warf der Wissenschaftler die Frage auf, „ob ‚die‘ Religion überhaupt ein sinnvoller Singular ist, wenn man sich die Vielfalt religiöser und quasi-religiöser Erscheinungen kulturübergreifend vor Augen führt.“

Streitgespräch „Beginn des Lebens“

Mit Blick auf das Christentum plädierte Evers dafür, „es nicht als Erweiterung des Weltwissens, sondern als eine Perspektive auf die Wirklichkeit überhaupt“ zu sehen, die die menschliche Existenz von der Geschichte Jesu Christi her verstehe. Moderator der Diskussion war der evangelische Theologe Prof. Dr. Traugott Roser aus Münster. Das nächste Streitgespräch am Dienstag, 27. Mai, befasst sich unter dem Titel „Der Beginn des Lebens“ mit medizinethischen Fragen zum Lebensanfang. Es diskutieren die Medizinethikerin Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert aus Münster und der evangelische Theologe Prof. Dr. Reiner Anselm aus Göttingen. Die Moderation übernimmt der Rechtsphilosoph Prof. Dr. Thomas Gutmann vom Exzellenzcluster.

In der Reihe „Streitgespräche über Gott und die Welt“ diskutieren im Sommersemester Theologen und Nicht-Theologen aktuelle Themen wie Hirnforschung, Wirtschaftsethik und Friedenspolitik. Veranstalter sind der Exzellenzcluster und die Evangelisch-Theologische Fakultät. Die Streitgespräche sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr in Hörsaal F1 im Fürstenberghaus am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Das Format trägt den Untertitel „Disputationen zwischen Theologie, Natur- und Gesellschaftswissenschaften“. (mit/vvm) 
 

Weitere Informationen: http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2014/mai/PM_Religion_u...    

Nota.  
Nicht im Gehirn - wo sonst? In der Bauchspeicheldrüse? Wenn er sagen will: Nicht im Verstand, nicht aus der Reflexion - dann hat er sicher Recht, und dergleichen hat wohl noch keiner behauptet. Aber der Hirnforscher sagt - diesmal hat er Recht -, alles entsteht im Gehirn, was nicht vom autonomen Nervensystem betrieben wird; und selbst das untersteht dem Gehirn, wenn auch nicht der Großhirnrinde. Nur die Atheisten werden ihm zustimmen: Nein, nicht im Gehirn, sondern in seinen Löchern.
JE 

Freitag, 16. Mai 2014

Big Data und Sozialphysik.

aus nzz.ch, 15. Mai 2014, 05:30

Die neue Sozialphysik

Kaeser ⋅ Die Idee, dass die Sozialwissenschaften durch exakte Modelle zu seriösen Prognoseinstrumenten werden, ist ein alter methodologischer Wunschtraum. Der Statistiker Adolphe Quetelet und der Philosoph Auguste Comte zum Beispiel trugen sich im 19. Jahrhundert mit der Vision einer Sozialphysik, die unter Kenntnis der Anfangsbedingungen bestimmte soziale Ereignisse mit ähnlicher Präzision voraussagen würde wie die Himmelsmechanik den Lauf der Planeten. Schon immer wurden solche «terrible simplifications» in der Soziologie als Daten-Positivismus kritisiert. Inzwischen erhält die Idee, die Gesellschaft sei eine Art soziales Gas, Unterstützung von einer anderen verführerischen Idee: von der Gesellschaft als einem Netzwerk.

Deshalb versteht sich die Sozialphysik heute als Netzwerkforschung. Und in Netzen gibt es nicht Menschen, sondern Knoten, nicht Beziehungen, sondern Kanten, nicht Klassen, sondern Cluster. Ein mathematisches Modell erklärt, wie wir sozial ticken – oder besser gesagt: klicken. Alex Pentland, einer dieser neuen Soziologen, spricht ruhmredig von einer «Wiedererfindung der Gesellschaft im Sog von Big Data» und hält mit seiner Vision nicht hinterm Berg: «Wer du tatsächlich bist, wird bestimmt durch den Ort, wo du deine Zeit verbringst, und die Dinge, die du kaufst (. . .) Indem Wissenschafter diese Art von Daten analysieren, können sie dir eine Menge Dinge über dich erzählen. Sie können dir sagen, ob du eine Person bist, die ihre Kredite zurückzahlt, oder ob du Diabetes-anfällig bist.»

Wir haben es hier mit einem Übergang von Daten zu Metadaten zu tun. Befürworter der Überwachung spielen diese gerne mit der Beschwichtigung herunter, dass man ja nicht Daten, sondern «nur» Metadaten sammle. Der Inhalt einer Nachricht interessiere nicht, wohl aber die Adresse oder die Websites, die man anklicke. Das ist ein Wolf-im-Schafpelz-Argument. Metadaten verraten mehr, als einem lieb ist. Man erinnert sich an den sogenannten AOL-Skandal 2006. Der Onlinedienst America Online gab die Daten einer halben Million Nutzer anonymisiert zu Forschungszwecken frei. Wie sich herausstellte, liess sich die Identität einiger Nutzer relativ schnell aus ihrem Verhalten bestimmen. Reporter der «New York Times» ordneten innert Stunden einer bestimmten Nummer die Person Thelma Arnold zu, eine 62-jährige Witwe.

Auch wenn in diesem Fall durchaus noch auf Inhalte Bezug genommen wurde – Partner-, Medikamenten-, Kreditsuche –, so zeichnet sich eine Entwicklung ab, die man als inhaltsfreie Identifikation bezeichnen könnte. Das Individuum spielt keine Rolle, nur seine Klick-Geschichte. Stewart Baker, ehemaliger leitender Berater bei der NSA, bemerkte kürzlich mit erstaunlicher Freimütigkeit, dass der Unterschied zwischen Daten und Metadaten mit der Zeit hinfällig werde. «Metadaten sagen absolut alles über jemandes Leben. Wenn man genügend Metadaten hat, benötigt man eigentlich gar keinen Inhalt (. . .) Es ist schon sehr befremdlich, wie wir Menschen voraussagbar sind.»

Dass es faszinierende neue Phänomene gibt, die primär auf dem Kommunikationsverhalten im Netz beruhen, ist unbestritten. Soziophysikalische Erklärungen werden also umso zutreffender, je mehr sich der Mensch wie ein Knoten oder «Hub» im Netz aufführt. Denn desto mehr ähnelt er der Stanzform der Sozialphysiker: einem prognostizierbaren Zombie aus Metadaten.

Donnerstag, 15. Mai 2014

Ein Fallschirmjäger unter den Soziologen.

aus nzz.ch, 15. Mai 2014, 05:30 

Ulrich Beck wird siebzig
Der Risiko-Soziologe
Mit seinem Buch «Die Risikogesellschaft», kurz vor der Katastrophe von Tschernobyl erschienen, avancierte Ulrich Beck zum Gegenwartsdiagnostiker. Sein soziologischer Blick ist grossräumig geblieben.

von Joachim Güntner

Für die Geschichtswissenschaft hat der französische Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie einmal die «Trüffelsucher» von den «Fallschirmspringern» unterschieden. Die einen heften ihren Blick auf Details und machen dort die erstaunlichsten Entdeckungen, bleiben freilich auch im bodennahen Gestrüpp der Wirklichkeit hängen; die anderen nehmen die Empirie nur als Anstoss, wollen die grossen Linien der Entwicklung erfassen und den Horizont des Wahrscheinlichen aufreissen. Natürlich ist das eine idealtypische Kategorisierung, man wird stets Mischformen der beiden Perspektiven finden. Zugleich hat sie etwas Triftiges. Unter den Soziologen zählt Ulrich Beck zweifellos zu den Fallschirmjägern. Er praktiziert ein weiträumiges Analysieren und Denken, worin noch der alte sozialphilosophische Anspruch fortlebt, man müsse gesellschaftliche Tendenzen «auf den Begriff» bringen.

In den zurückliegenden drei Jahrzehnten hat Ulrich Beck dies in beeindruckender Weise unternommen. Er lieferte prägnante Stichworte zur weltgesellschaftlichen Situation der Zeit: Risikogesellschaft, reflexive Modernisierung, Zweite Moderne, Globalisierungsfalle. Mit der Einsicht in Individualisierungsschübe, welche den Einzelnen aus überkommenen Ordnungen lösen und mit der Aufgabe konfrontieren, sich seine Biografie selbst zu basteln, stand Beck nicht allein. Aber er hat, sei es in fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem englischen Kollegen Anthony Giddens oder seiner Frau Elisabeth Beck-Gernsheim, die Konturen der Individualisierung im späten 20. Jahrhundert auf denkbar kenntliche Weise verschärft. Wohltuend an seiner Diagnose war, dass sie sich vom kulturkonservativen Lamento fernhielt, die Gesellschaft zerfalle in atomisierte Egos. Selbst wenn Beck über die Liebe in Zeiten der Globalisierung nachdachte, pochte er darauf, dass Bindung an ferne Geliebte über die Distanz hinweg möglich sei. Bisweilen mochte man den Eindruck haben, er verallgemeinere dabei etwas zu sehr seine eigene Lebensform – die einer Scientific Community, deren soziale Absicherung es erlaubt, als akademischer Jetset überall heimisch zu werden und unter seinesgleichen Rückhalt zu finden.

«Die Gesellschaft ist nichts anderes als eine umfassende Versicherung gegen die Risiken, die sie durch ihre eigene Entwicklung verursacht.» Dieser Satz steht nicht bei Ulrich Beck, sondern bei dem französischen Philosophen François Ewald, dessen Werk «L'Etat Providence» wie in brüderlichem Geiste zu Becks Analyse der «Risikogesellschaft» geschrieben scheint (zur deutschen Ausgabe «Der Vorsorgestaat» hat Beck ein umfassendes Nachwort beigesteuert). Beide Autoren legen dar, wie die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts im Zuge der technologischen Modernisierung von den Eigentümlichkeiten der Risikogesellschaft überformt wird. In fortgeschrittenen Gesellschaften werden die hungernden Mäuler satter und die Bäuche dicker, die Not der Subsistenz schwindet, die Verhältnisse zivilisieren sich.

Doch was einst «Gefahr» hiess, wandelt nun, eingedämmt, seinen Charakter: Mit dem Fortschritt wachsen die «Risiken», denn die Mittel, welche wir zur Daseinserleichterung durch Grosstechnologien in die Hand bekommen, zeitigen unbeabsichtigte Nebenfolgen. Auch betreffen diese Nebenfolgen nicht nur die Nutzniesser einer Technologie und Wirtschaftsform, sondern sie globalisieren sich. Alles und alle hängen irgendwie zusammen. Becks Buch «Die Risikogesellschaft», kurz vor der Kernschmelze im Reaktor von Tschernobyl 1986 erschienen, erfuhr durch die «atomare Wolke», die sich grenzüberschreitend in Europa verteilte, exemplarische Bestätigung. Der Autor stieg zum Gegenwartsdiagnostiker auf, sein Werk wurde zum Buch der Stunde.

Es konnte nicht ausbleiben, dass mit dem Wachsen von Ulrich Becks Nimbus auch die Lust dieses Linksliberalen an Interventionen wuchs. Beck ist bekennender Kosmopolit und Anhänger der europäischen Einigung wider alle Rückfälle ins Nationalistische. Dabei bleibt ihm durchaus nicht die Einsicht verwehrt, dass das Bedürfnis nach heimatlicher Verortung zu den Windschattenphänomen der Globalisierung zählt. Doch für Beck gilt als ausgemacht, dass antieuropäische Bewegungen den nationalen Interessen schaden. Für «die Bewältigung globaler Risiken», sagt er, gebe es «nur einen, nämlich den kosmopolitischen Weg». Dazu gehören für ihn die Dominanz europäischen Rechts über nationale Verfassungen sowie eine Weltfriedensordnung, die ohne die Autorität eines Hegemonen auskommt. Beck betrachtet sich nicht als Idealisten. Er vertraut auf die Lehren eines faktischen, eines «banalen» Kosmopolitismus. Die Vermischung der Zivilisationen birgt Konflikte, setzt aber auch wechselseitige Anerkennung in Gang. Nur den Gesellschaften, die sich abschotten, erscheint die Moderne als Zumutung. «Weil aber Staaten überleben wollen», schreibt Beck in «Der kosmopolitische Blick» (2004), «müssen sie zusammenarbeiten.» Heute, am 15. Mai, wird der Soziologe des Risikos siebzig Jahre alt.

Dienstag, 13. Mai 2014

Was vom Realexistierenden übrigblieb.

Andreas Rentz/Getty Images

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Weniger Zusammenhalt in den ostdeutschen
Bundesländern
Ute Friedrich 
Pressestelle
Bertelsmann Stiftung  

12.05.2014 08:02

Studie: Bundesweit wächst der gesellschaftliche Zusammenhalt / 25 Jahre nach dem Mauerfall ist Abstand zwischen Ost und West jedoch größer denn je / Wirtschaftskraft, Wohlstand, Urbanität und Demographie entscheidende Faktoren / Akzeptanz von Vielfalt entwickelt sich ambivalent

Gütersloh, 12. Mai 2014. Die Deutschen halten heute besser zusammen als noch zu Beginn der 90er Jahre. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung belegt, dass in Deutschland insgesamt der Gemeinsinn während der vergangenen zwei Jahrzehnte gewachsen ist. Hamburg nimmt im Gesamtindex eine deutliche Spitzenstellung ein. Neben den Stadtstaaten schneiden auch Baden-Württemberg, Bayern und das Saarland überdurchschnittlich gut ab. Schwerer tun sich die ostdeutschen Bundesländer: Zwar ist auch dort der Gemeinsinn heute stärker als direkt nach der Wende, allerdings ist der Abstand zu den westlichen Bundesländern 25 Jahre nach dem Mauerfall größer denn je.

Das "Radar Gesellschaftlicher Zusammenhalt" untersucht die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, die emotionale Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und die Orientierung am Gemeinwohl anhand von 31 Indikatoren, die in neun Dimensionen zusammengeführt werden. In sieben Dimensionen belegen die ostdeutschen Bundesländer im Ländervergleich die hinteren Plätze. Das heißt allerdings keineswegs, dass die Gesellschaft dort immer weiter auseinander driftet. Denn auch im Osten hat sich der Zusammenhalt seit der Wiedervereinigung positiv entwickelt, nur offensichtlich langsamer als im Westen.

In den ostdeutschen Bundesländern beobachten die Autoren, ein Forscherteam aus Sozialwissenschaftlern der privaten Jacobs University Bremen, durchaus Parallelen zu anderen ehemals sozialistischen Staaten. So ist das relativ geringe Vertrauen der Ostdeutschen in ihre Mitmenschen typisch für Länder, in denen zuvor eher Kontrolle das gesellschaftliche Klima bestimmt hatte. "Vertrauen in Menschen ist ebenso wertvoll wie zerbrechlich. Eine Vertrauensbasis ist schnell zerstört – sie wieder aufzubauen, erfordert Zeit und Geduld", sagt Liz Mohn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung.

Beim Vertrauen in Institutionen wie Justiz und Polizei hingegen hat der Osten während der vergangenen zehn Jahre einen kräftigen Sprung nach oben gemacht.

Die Verteilungsgerechtigkeit beurteilen die Bürger im Osten deutlich schlechter als die Bürger im Westen. So sind in den ostdeutschen Ländern erheblich mehr Menschen der Meinung, die Regierung solle dafür sorgen, Einkommensunterschiede zu reduzieren. Dies spiegelt sich in einer relativ hohen Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit dem eigenen Lebensstandard: Während im Westen seit 1990 durchgehend mehr als jeder zweite Bürger meint, einen gerechten Anteil am Wohlstand zu erhalten, sackte dieser Anteil in den meisten ostdeutschen Bundesländern nach einem Zwischen-hoch wieder kräftig ab. Fast so niedrig wie direkt nach der Wende sind die Werte in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Dort empfindet nur noch jeder Fünfte seinen Lebensstandard als gerecht. "In vielen Regionen im Osten scheint der zwischenzeitliche Optimismus einer gewissen Ernüchterung gewichen zu sein", sagt Kai Unzicker, Experte für gesellschaftliche Entwicklung in der Bertelsmann Stiftung.

Die Akzeptanz von Vielfalt hat sich in Deutschland ambivalent entwickelt. Erheblich angestiegen ist in nahezu allen Bundesländern die Toleranz gegenüber Homosexuellen. Selbst in Bayern als dem in diesem Punkt am wenigsten tolerantem westdeutschen Bundesland herrscht relativ hohe Zustimmung zu der Aussage, Schwule und Lesben sollten ihr Leben führen können, wie sie möchten. Auch in den ostdeutschen Bundesländern hat sich die Akzeptanz gegenüber homosexuellen Lebensformen erhöht, liegt aber außer in Thüringen unterhalb des Bundesdurchschnitts.

Zuwanderern begegnen viele Deutsche nach wie vor mit großer Skepsis. Zwar zeigen sie sich zunehmend offener für ein gesellschaftspolitisches Engagement von Ausländern, allerdings akzeptieren sie immer seltener, wenn diese in Deutschland ihren traditionellen Lebensstil pflegen. Diese nachlassende Akzeptanz von kultureller Vielfalt erscheint unbegründet, denn die Studie zeigt: In den Bundesländern mit den höchsten Ausländeranteilen halten die Bürger am engsten zusammen.

"Offenbar empfinden noch immer viele Deutsche Zuwanderung als Bedrohung. Wir sollten stattdessen Vielfalt als Chance begreifen", sagt Liz Mohn, die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung.

Mit ihrer Analyse, welche Einflussgrößen entscheidend sind für den Grad des Zusammenhalts in einer Gesellschaft, liefert die Studie auch Erklärungen, warum die ostdeutschen Länder den Abstand zu Westdeutschland noch nicht verringern konnten: "Je höher das Bruttoinlandsprodukt eines Bundeslandes, je niedriger das Armutsrisiko, je urbaner das Wohnumfeld und je jünger die Bevölkerung, desto höher der Zusammenhalt", fasst Kai Unzicker zusammen. Damit bestätigt die Studie, dass Wirtschaftskraft und Wohlstand förderlich sind für das innere Gefüge einer Gesellschaft. Das war bereits das Ergebnis des letztjährigen Radars, das den Gemeinsinn in mehr als 30 Staaten untersucht hatte. Der innerdeutsche Vergleich zeigt nun zusätzlich, dass auch ein städtisches Umfeld und eine positive demographische Entwicklung helfen, eine Gesellschaft zusammenzuhalten.

Informationen zum "Radar Gesellschaftlicher Zusammenhalt"

Das "Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt" ist ein Index der Bertelsmann Stiftung, den ein Forscherteam unter der Leitung von Prof. Klaus Boehnke und Prof. Jan Delhey von der Jacobs University in Bremen erstellt hat. Bereits im Juli 2013 ergab ein internationaler Vergleich, dass die skandinavischen Staaten und die angelsächsischen Einwanderungsländer einen besonders hohen Zusammenhalt aufweisen. Deutschland landete hierbei im Mittelfeld der 34 untersuchten Länder, mit deutlichen Schwächen bei der Akzeptanz von Diversität. Für den innerdeutschen Vergleich der Bundesländer wurden verschiedene Befragungsstudien sowie Daten der amtlichen Statistik in einer sogenannten Sekundäranalyse zusammengeführt und ausgewertet. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird durch 31 Einzelindikatoren in neun Dimensionen erfasst, die sich den drei Themenbereichen "Soziale Beziehungen", "Verbundenheit mit dem Gemeinwesen" und "Gemeinwohlorientierung" zuordnen lassen.

Rückfragen an: Kai Unzicker, Telefon: 0 52 41 / 81 81405
E-Mail: kai.unzicker@bertelsmann-stiftung.de

Stephan Vopel, Telefon: 0 52 41 / 81 81397
E-Mail: stephan.vopel@bertelsmann-stiftung.de

Die vollständige Studie, die 16 Bundesländerreports, der Methodenbericht und der komplette Datensatz finden Sie unter

Weitere Informationen:
http://www.bertelsmann-stiftung.de und
http://www.gesellschaftlicher-zusammenhalt.de


aus Süddeutsche.de, 12. Mai 2014 08:28


Studie zu gesellschaftlichem Zusammenhalt  
Was den Wir-Westen vom Ich-Osten trennt 
Toleranz, Heimatgefühl und Familiensinn haben für die Menschen in Westdeutschland einen höheren Stellenwert als im Osten. Seit der Wiedervereinigung ist der Unterschied beim Zusammenhalt sogar immer größer geworden. Die Forscher haben auch untersucht, woran das liegen könnte.

 
Von Jan Bielicki

25 Jahre nach dem Mauerfall gibt es immer noch eine Kluft zwischen West und Ost. Und sie ist seither noch tiefer geworden - jedenfalls, was den Gemeinsinn der Deutschen angeht: Die Westdeutschen halten einer neuen Studie zufolge gesellschaftlich deutlich besser zusammen als die Ostdeutschen. Danach sind die Menschen in den westlichen Bundesländern enger in ihre Familien und Freundeskreise eingebunden als die Bewohner der östlichen Länder, sie haben ein größeres Vertrauen in ihre Mitbürger und die staatlichen Institutionen, sie sind eher bereit, ihre Gesellschaft für gerecht zu halten, und auch Solidarität und Hilfsbereitschaft sind bei ihnen stärker ausgeprägt. Das geht aus einer umfangreichen Vergleichsstudie hervor, die an diesem Montag von der Bertelsmann-Stiftung vorgestellt wird und die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.

Bei Toleranz und Heimatgefühl steht der Osten hinten

Mit Abstand am stärksten ist der Gemeinsinn demzufolge in Hamburg entwickelt. Auch die andere als Bundesland selbständige Hansestadt -nämlich Bremen -, das Saarland und die großen Flächenländer Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen stehen weit oben in der Rangliste des von Sozialwissenschaftlern der privaten Jacobs University Bremen zusammengestellten "Radars gesellschaftlicher Zusammenhalt".
Die fünf neuen Länder Brandenburg, Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und als Schlusslicht Sachsen-Anhalt finden sich dagegen allesamt am Ende dieser Tabelle. Und wenig deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändern könnte: "Die Kluft zwischen West und Ost ist aktuell sogar größer, als sie es unmittelbar nach der deutsch-deutschen Vereinigung war", schreiben die Bremer Forscher. Ob es nun um die soziale Einbindung, um das Heimatgefühl oder um die Toleranz gegenüber Ausländern geht - in vielen der vermessenen Teilbereiche sind die östlichen Bundesländer seither tendenziell weiter hinter dem Westen zurückgefallen.
 
Für seine Studie hat das Bremer Forscherteam um die Soziologen Klaus Boehnke und Jan Delhey Daten des Statistischen Bundesamtes, des Bundeswahlleiters und sechs weiteren nationalen und internationalen Erhebungen für einen Zeitraum von fast 25 Jahren ausgewertet. Dabei versuchten sie, den gesellschaftlichen Zusammenhalt anhand von 31 Einzelpunkten zu messen. In den so errechneten Zusammenhalts-Index gehen Zahlen wie Wahlbeteiligung oder die Häufigkeit bestimmter Delikte ein, vor allem aber die Ergebnisse von Umfragen und die dabei gegebenen Antworten von Bürgern auf Fragen wie: Bekommen Sie Hilfe durch Freunde und Bekannte? Wie stehen Sie zu Homosexuellen als Nachbarn? Wie stark sind Sie Ihrer Heimatregion verbunden? Wie groß ist Ihr Vertrauen in Justiz, Polizei oder Stadtverwaltung? Haben Sie im vergangenen Jahr Geld gespendet? Wie oft sind Sie in Ihrer Freizeit ehrenamtlich tätig? Haben Sie schon Abzeichen oder Aufkleber einer politischen Kampagne getragen?

Wohlstand fördert den Zusammenhalt

Nach den so ermittelten Kennzahlen liegt Hamburg in fast allen der für den Zusammenhalt wichtigen Eigenschaften - ob Vertrauen, Heimatgefühl oder gesellschaftliche Teilhabe - in der Spitzengruppe. Sachsen-Anhalt dagegen findet sich in fast jedem der untersuchten Teilbereiche auf den unteren Plätzen.
Einzige Ausnahme: An soziale Regeln halten sich Hamburger, aber auch Berliner oder Bremer deutlich weniger gerne als ihre Mitbürger aus ländlich geprägten Flächenländern. Das belegt die Kriminalitätsrate, die in Städten deutlich höher ist als auf dem Land. Das aber ändert nichts an der Tatsache, das Städter in der Tendenz besser vernetzt, vertrauensvoller und gesellschaftlich engagierter erscheinen als Landbewohner. Stadtluft fördert den Zusammenhalt demnach ebenso wie Wohlstand: Wo der Reichtum groß und die Armut klein ist, wächst der Studie zufolge auch der Zusammenhalt einer Gesellschaft.

Das Gleiche gilt für Regionen, in denen die Bevölkerung im Schnitt jünger und damit aktiver ist als etwa in den Abwanderungsgebieten Ostdeutschlands.

Das gilt innerhalb der Bundesrepublik genauso wie im internationalen Vergleich. Mithilfe ganz ähnlich gewonnener Kennzahlen hatten die Bremer Wissenschaftler bereits zuvor eine Rangliste des Gemeinsinns in 34 westlichen Industrieländern gebildet und im vergangenen Sommer veröffentlicht. Die Bundesrepublik kam darin auf Platz 14 und rangierte deutlich hinter Skandinaviern, Australiern und Nordamerikanern.

Die Sozialforscher widersprechen den Thesen Sarrazins

Damals stuften die Forscher vor allem wachsende Vorbehalte gegenüber Einwanderern als "Risiko für den Zusammenhalt" ein. Während Schwule und Lesben inzwischen auf deutlich mehr Verständnis stoßen als noch in den Neunzigerjahren, hat die Bereitschaft der Deutschen, Migranten die Sitten und Gebräuche ihrer Herkunftsländer pflegen zu lassen, demnach in den vergangenen 25 Jahren eher nachgelassen. Das halten die Bremer Wissenschaftler für "bedenklich" und sehen sich in dieser Einschätzung durch ihren innerdeutschen Vergleich bestätigt: Wo viele Einwanderer leben wie in Hamburg, Bremen oder Baden-Württemberg, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt höher als in den östlichen Landstrichen der Republik mit ihrem niedrigen Migrantenanteil.
 
 
Einwanderung "in den gegenwärtigen Größenordnungen", so wenden sich die Sozialforscher gegen den Bestseller-Autor Thilo Sarrazin, "untergräbt in keiner Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie Bücher wie ,Deutschland schafft sich ab' publikumswirksam suggerieren. Ganz im Gegenteil."

Insgesamt jedoch, das hat schon der internationale Vergleich ergeben, halten die Deutschen heute enger zusammen als noch vor 25 Jahren. "Das ist eine gute Entwicklung", sagt Liz Mohn, die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung. Denn noch eine Erkenntnis ihres internationalen Vergleichs sehen die Wissenschaftler auch innerdeutsch bestätigt: Wo eine Gesellschaft zusammenhält, sind die Menschen zufriedener mit sich und ihrem Leben. "Zusammenhalt bedeutet Glück", sagt Mohn, "ohne Bindungen kann man nicht glücklich werden." Und siehe da: Die im Schnitt unzufriedensten Deutschen leben in Sachsen-Anhalt, die zufriedensten in Hamburg - HSV und Schmuddelwetter zum Trotz.