Montag, 30. Juni 2014

Totale Bürokratie IV, oder Der Untergang der Linken.

 

Historisch hat „links“ mit Caritas und Sorge für die Bedürftigen nichts zu tun. Der Ausdruck stammt aus der Sitzordnung der französischen Abgeordnetenkammer unter der bourbonischen Restauration. Rechts saßen die Vertreter der dynastischen Legitimität, links saßen die, die (noch) der Revolution anhingen. Und so blieb es. Links und rechts definierten sich durch Nähe oder Ferne zur Revolution.

Zur demokratischen zunächst. Dann, mit der Pariser Juniinsurrektion 1848, zur sozialen, „roten“. Hatte sich nicht im Proletariat ein besonderer Stand herangebildet, der schon keiner mehr war, der in sich die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft darstellte, und dessen partikulare Interessen daher in eins fielen mit dem Freiheitsinteresse „des“ Menschen? Seither datiert das besondere Verhältnis der Linken zur Arbeiterschaft. Aber nicht, weil sie bedürftig, sondern sofern sie revolutionär war. Sofern! 

Die (flüchtige) Aktualität der Revolution 

Die Aktualität der Revolution war nach der Pariser Kommune die stille, nach dem Oktober 1917 die ausdrückliche Prämisse aller Politik.

Das 20. Jahrhundert kündigte sich an als „Epoche der Weltrevolution“. Daraus ist dann nichts gewor den. Die Arbeiterbewegung beschied sich nach ihrem revolutionären Fehlstart in Russland mit dem ihr Nächstliegenden, der Versorgung der dringendsten Not und der Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse.

„Hineinwachsen“ in die Marktwirtschaft, durch die regulierten Kanäle von Gewerkschafts- und Parteiapparaten und eines aufnahmefähigen Öffentlichen Diensts – das war der wirkliche Ausgleich der Klassengegensätze, war der real existierende “Sozialismus”.

Mit dem Untergang der Sowjetunion ist das Ende der Weltrevolution dann gewissermaßen auch amtlich geworden. Ob die Degeneration der Arbeitermacht zum feudalbürokratischen Vergeudungs- und Verknappungssystem der Breschnew und Honecker unvermeidlich war, ist eine Frage für sich. Auf jeden Fall ist der Linken mit der Revolution auch ihr logischer Grund verloren gegangen.

Gemeinsam mit der revolutionären Prämisse entfällt zugleich das privilegierte Verhältnis der Linken zur Arbeiterschaft. Ohne Revolution keine „Bildung des Proletariats zur Klasse“, und ohne diese kein Klassenkampf. Die Interessen der Arbeiter sind ständische Interessen und so gut oder schlecht wie die andern. Bleibt übrig das Intimverhältnis der “Linken” – ab hier mit Gänsefüßchen – zum Öffentlichen Dienst… 

Das ideelle Erbe 

Wie steht es aber um ihr ideelles Erbe? Hat sie da nichts, woran sie sich klammern kann?

Da ist zunächst der Fortschritt. Den unendlichen Fortschritt unseres Erkennens leugnet keiner. Auch keine ‘Rechte’. Der Fortschritt der Technik ist schon zweifelhafter. Dass man nicht alles soll, was man kann, meint man nicht mehr nur ‘rechts’. Und vollends strittig ist der Fortschritt in unsern Lebensformen. Das aufklärerische Vertrauen in die grenzenlose Perfektibilität des Menschen scheitert nicht daran, dass jene aufgehört hätten, sich zu verändern, sondern daran, dass Vollkommenheit kein bestimmbarer Begriff ist, sondern eine “Idee”. ‘Es gibt’ sie nur als Problem, nicht als Lösung.

Dann die Gerechtigkeit. Gerecht findet es der Erfolgreiche, wenn er die Früchte seines Erfolges selbst verteilt, wie ihm gut dünkt. Der Erfolglose findet es gerecht, wenn er an den Erfolgen der Glücklichen teilhaben kann. Gerechtigkeit ist kein Begriff, sondern eine Idee, und die gibt es nur als Problem und nicht als Lösung.

Und die Freiheit? Die ist gar zum wundesten Punkt der abgestandenen “Linken” geworden. Jeder Fortschritt in Richtung auf Gerechtigkeit in unsern Lebensformen wurde bezahlt mit einer Ausweitung der Eingriffe des Staates in die persönlichen Angelegenheiten seiner Bürger. Und natürlich mit der Ausweitung der Öffentlichen Dienste. Das ist keine Lösung, sondern das Problem! Was von der Linken selig übrig bleibt und nicht abtreten will, ist nicht die Interessenvertretung der Arbeiterschaft, sondern der Bürokratien. 

Das Veralten der Bürokratien 

Zum Wesen der Industriegesellschaft gehört die Aufteilung der Menschen in Ausdenker – Unternehmer und Ingenieure – und Ausführer: alle andern, die mangels eigener Produktionsmittel ihre Arbeitskraft an einen Ausdenker verkaufen, der über deren Verwendung verfügt. Dazwischen schiebt sich im Lauf von fast zwei Jahrhunderten die wuchernde Schicht der Vermittler nicht erst in der Öffentlichkeit und ihren Behörden, sondern schon in den Fertigungshallen. Anfangs waren sie produktionstechnisch nötig. Später wurden sie – als Masse – politisch nützlich. Ohne sie hätte die industrielle Zivilisation jedenfalls keinen Bestand gehabt.
  
Aber wir stehen am Ende der Industrie- gesellschaft. Ob für das, was danach kommt, ‘Wissensgesellschaft’ ein intelligentes Wort ist, sei dahingestellt.
 
In dem Maße aber, wie die ausführenden Tätigkeiten auf elektronisch gesteuerte Maschinen übergehen, bleibt für das lebendige Arbeitsvermögen nur noch das spezifisch Menschliche zurück: die schiere Intelligenz, das Ausdenken selber. Nun aber für alle. Denn das Arbeitsmittel dafür heißt PC und Internet, und die stehen (pp) Jedem offen.

Das Management wird lean, die Wege werden kurz, die Hierarchien werden flach. Die Sonderstellung der Vermittler hat sich verüberflüssigt. Natürlich wissen sie das, dafür haben sie ein Gespür, wenn schon für sonst nichts. Mit Klauen und Nägeln krallen sie sich an ihre Besitzstände. Wo immer je etwas unternommen werden will, schieben sie ihre Bedenken ein und pochen auf ihre Regularien. An die Stelle des historischen Gegensatzes von Links und Rechts ist der Widerspruch zwischen den unternehmenden Ausdenkern und der würgenden Bürokratie getreten.


Sonntag, 29. Juni 2014

Totale Bürokratie III: Zwischen Oder und Elbe.



Das feudalbürokratische Vergeudungs- und Verknappungssystem


Man kann Gesellschaftsformen danach unterscheiden, durch welche Institution sie sicherstellen, dass ein Mehrprodukt entsteht, das akkumuliert werden kann und für Fortschritt sorgt.

Im Feudalzeitalter ist es der nur bedingte bäuerliche Besitz am Boden, durch den der Grundherr am Mehrprodukt teilhat und den Bauern zur Steigerung seiner Produktivität drängt. In der bürgerlichen Gesellschaft ist es der Austausch von Kapital und Arbeit, aus dem der akkumulierbare, neues Kapital bildende Mehrwert hervorgeht. Feudaladel und Bourgeoisie haben zu ihrer Zeit zum gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen.

Ein parasitärer Auswuchs

Und wie war das mit der Sowjetbürokratie? Unter Stalin entstand eine Schwerindustrie, das ist wahr. Zugleich hat die Terrorherrschaft der Bürokratie – Zwangskollektivierung und Hungersnot, die Große Säuberung und der Gulag, die Zwangsumsiedlung ganzer Völkerschaften – ungezählte Millionen Menschenleben gekostet. Das war nicht zuletzt auch eine gewaltige Vernichtung von Produktivkraft.

Ob die Bürokratie zur Entwicklung der Produktivkräfte beiträgt, ist rein zufällig. Einem ökonomischen Zwang dazu unterliegt sie nicht. Auch sie verschlingt einen Teil des Mehrprodukts. Akkumuliert sie einen andern Teil? Welchen Teil sie verschlingt, das unterliegt keinerlei wirtschaftlichem Mechanismus, es ist rein willkürlich. Es kann auch mehr sein als das Mehrprodukt – sie macht auch vor der Substanz nicht halt, nichts hindert sie daran. Sie zehrt nur. Sie ist ein Parasit.

Der deutsche Stalinismus

Das stalinistische System ist in der sowjetischen Zone Deutschland fix und fertig an die Stelle des nationalsozialistischen Totalitarismus getreten. Vor dem Krieg war das sächsisch-thüringische Industrierevier neben dem Ruhrgebiet das zweite wirtschaftliche Herz Deutschlands. Am Ende der DDR konnte davon nicht mehr die Rede sein. Die Bürokratie hatte eine Desakkumulation zu Wege gebracht, Ruinen schaffen ohne Waffen.

Dabei hat nicht einmal das Politbüro geprasst wie ein orientalischer Despot. In Wandlitz war alles von fast bescheidenem kleinbürgerlichen Zuschnitt. Warum also dieser Niedergang?

1. Das Mehrprodukt fiel immer kleiner aus. Ab einem bestimmten Punkt ‘vermittelt’ die Bürokratie nicht mehr die mechanischen Fertigungsprozesse, sondern behindert sie. Sie verfügt über keinen eingebauten Zwang zur Einsparung (wie etwa der Kapitalist, der pleite geht, wenn er zu teuer produziert). Sie verfügt nicht einmal über ein Maß, um die Kosten zu ermitteln: Ohne freien Markt waren die Preise reine Phantasiegebilde von Günter Mittag. Die Produktivität konnte sinken, ohne dass es einer merkte.

2. Die Bürokratie wurde immer zahlreicher. Eine Bürokratie kann auf die Dauer nicht allein durch Terror herrschen. Sie muss sich, wie jede andere Herrschaft, endlich ‘legitimieren’. Der Terror kann für ein Weile durch ständige Beschwörung von Konterrevolution und Kriegsgefahr legitimiert werden. Aber er versetzt die Gesellschaft in Lähmung und Apathie. Auf die Dauer kann sich die Bürokratie nur legitimieren, indem sie ihre Basis erweitert. Indem sie immer mehr Andere an ihren Privilegien teilhaben lässt. Die Korruption – moralisch und materiell – wird zu ihrem allgegenwärtigen Herrschaftsmittel. Am Ende der DDR gab es kaum noch einen, der nicht durch seine Zugehörigkeit zu irgendeinem Kollektiv – “gesellschaftliche Organisation”, Blockpartei, Soliinitiative… – Zugang zu irgendeinem Vorrecht hatte, von dem die Andern ausgeschlossen waren (außer natürlich die “am meisten privilegierten gesellschaftlichen Gruppe”, die Kinder).

Bürokratische Feudalisierung 


Zugleich setzt aber das Privileg allgemeine Knappheit voraus. Eine zügige wirtschaftliche Entfaltung, ein allgemeiner Wohlstand hätte die Bedingungen der bürokratischen Herrschaft untergraben. Sie lagen gar nicht im Interesse der “Verantwortlichen”. Da war es nicht nötig, dass sie sich untereinander zu systematischer Verschwendung verschworen hätten; es reichte aus, dass sie sie nicht wirksam bekämpften: Der Bock taugt nicht zum Gärtner.

Die Wege der Privilegierung waren nur zum kleinen Teil regulär und offiziell. In der großen Masse waren sie informell: Einer kennt einen, der wieder einen kennt… “Seilschaften” nannte man das schließlich, eine Hand wusch die andre. Es entstanden Abhängigkeitsverhältnisse in rein persönlichem, gefolgschaftlichen Rahmen, im Schatten der sichtbaren Hierarchien. Die innere Verfassung des bürokratischen Corps nahm schließlich ausgeprägt feudale Züge an. Zersplitterung und durchgängige Mediatisierung - kanonisch erfasst im Begriff der Nischengesellschaft.

Selbst das, was man die Besitz- oder Eigentumsverhältnisse nennen könnte, ähnelte einem feudalen Lehens-Verhältnis. Zwischen Parteifunktionären und Betriebsdirektoren bestanden Vasallitäten, die in gegenseitiger Loyalität begründet waren, aber in jedem Fall nur bedingt galten – je nach den Gleichgewichten im bürokratischen Gesamtgefüge.

Die gesellschaftlichen Produktivkräfte hatten gegen Ende der DDR angefangen zu schrumpfen. Schon der Augenschein einer Bahnfahrt durch Leuna und Merseburg machte es deutlich. Ohne die Kredite aus der Bundesrepublik wäre das System schon Jahre vorher zusammen gebrochen.
 
Der unaufhaltsame Untergang
 
Es ist wahr, die horrenden Kosten der Hochrüstung haben ihren – aus den genannten Gründen nicht kalkulierbaren – Teil zum Raubbau an der Substanz beigetragen. Aber der Kalte Krieg und sein kleiner Bruder, die Friedliche Koexistenz, waren kein Paletot, den die östlichen Regimes an der Garderobe hätten ablegen können. Sie waren der kümmerliche, jämmerliche Rest, den Stalins “Sozialismus in Einem Land” von der Weltrevolution schließlich übrig gelassen hat. Aber völlig darauf verzichten konnten sie nicht. Nur unter dem Etikett “Sozialismus” (eingeschränkt durch “realexistierend”) konnte die Bürokratie ihre Herrschaft schlecht und recht legitimieren, sie musste Friedenslager und Siegerseite der Weltgeschichte bleiben bis zum bittern Ende… 

Ach, bitter? Manchem Betriebsleiter ist es gar nicht so schwer gefallen, sich vom feudalbürokratischen Bonzen zum kapitalistischen Boss zu mausern, und hätte die Bundesrepublik nicht mit der D-Mark auch die Öffentlichkeit nach Ostdeutschland gebracht, wären wir dort Zeugen der selben Art von “ursprünglicher Akkumulation des Kapitals” geworden wie in Boris Jelzins Wildem Osten; na ja, allzu viele (lebende) Zeugen nicht…


Samstag, 28. Juni 2014

Totale Bürokratie II: Stalins Konterrevolution


 

Lenins bester Text heißt “Staat und Revolution”. Er schrieb ihn wenige Wochen vor dem Oktober. Er handelt davon, wie – nach Marx’ Prognose – nach der Machtergreifung des Proletariats der Staat absterben sollte. Die Diktatur des Proletariats würde vom ersten Tag an daran arbeiten, sich wieder abzuschaffen.

Es ist dann anders gekommen.

In der Theorie hatte es nahe gelegen, dass die Arbeiterklasse zuerst in dem Land an die Macht kommt, wo sie durch die industrielle Entwicklung zahlenmäßig am stärksten und am dichtesten organisiert ist. In diesem Land wird freilich auch die Bourgeoisie stark und wohl organisiert sein. Konnte unter Umständen die Arbeiterklasse zuerst in einem Land siegen, wo die Bourgeoisie besonders schwach, aber die Arbeiter- bewegung trotzdem – relativ – stark war?!


Revolution und Bürgerkrieg


Seit der ersten russischen Revolution von 1905 war das keine rein theoretische Frage. In einem grenzenlosen agrarischen Ozean gab es einige hoch moderne industrielle Inseln, deren Produktivität jedem Vergleich standhielt, und deren blutjunges, traditionsfreies Proletariat konzentrierter und revolutionärer war als im wohlhabenden Westen. Und der russischen Bourgeoisie, eingeklemmt zwischen zarischer Selbstherrschaft und proletarischer Revolution, bangte vor ihrem eigenen Schatten. Tatsächlich hat sie dann 1917 so gut wie keine Rolle gespielt.

Ans Absterben des Staates war freilich nicht zu denken. Nach wenigen Wochen brach ein Bürgerkrieg aus, der im Land verheerender war als der Weltkrieg. Ein Krieg führender Staat stirbt nicht ab. Er geht unter, wenn der verliert, er wird allmächtig, wenn er siegt. Der bolschewistische Staat musste allmächtig sein: Das Land war völlig desorganisiert, alle Ordnung aufgelöst, von der Industrie war neben der Rüstungsproduktion nichts übrig geblieben. Der wirtschaftliche Neuaufbau erforderte an allen Orten: den Staat. Die wenigen hunderte oder tausende Revolutionäre von 1917, die den Bürgerkrieg überlebt hatten, wurden ausnahmslos für administrative Leitungsaufgaben gebraucht. Eine Arbeiterklasse musste sich unter ihrer Initiative überhaupt erst wieder heran bilden. 

 

“Sozialismus in Einem Land” oder permanente Revolution 

Die Staatsmacht an sich reißen kann das Proletariat “in Einem Land”; weil eine Staatsmacht ja immer nur in einem Land herrscht. Anders kann auch eine Weltrevolution nicht beginnen. Aber das Kapital herrscht auf einem Weltmarkt. Ein Land, das daraus ausbricht, schneidet sich von den Ressourcen des Erdballs ab. Ist es gar ein wirtschaftlich zurück gebliebenes und noch dazu vom Krieg verwüstetes Land, bedeutet ‘Vergesellschaftung’ zunächst einmal nur die Verallgemeinerung des Mangels. Es gibt keine Reichen mehr, nur noch Arme. Dabei kann es nicht bleiben, weil sonst mit der Streit um das Notwendige nur “die ganze alte Scheiße”, wie Karl Marx sagte, von vorn beginnt.

Umso mehr, als die starke staatliche Macht, die nun die Produktion neu aufzubauen hat, zugleich auch die Verteilung besorgt. Und das Verteilen ist voller Versuchung. Wer an der Quelle sitzt, hat ein Privileg. Mit den Privilegien ist es wie mit der Gravitation. Viele widerstehen ihnen, aber nicht alle. Und die eine Seite wird immer größer, die andre immer kleiner. Da helfen keine Moralisierungskampagnen und keine Beschwörung des richtigen Bewusstsein, sondern nur… das Fortschreiten der Revolution in die Welt.

“Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker ‘auf einmal’ und gleichzeitig möglich”, weil er die universelle Produktivkraft und den darauf beruhenden Weltverkehr voraussetzt, hieß es bei Karl Marx. Na ja, vielleicht nicht am selben Tag, aber doch in dem einem und selben fortlaufenden Prozess, mit Rückschlägen zwar, aber ohne Unterbrechung; Revolution “in Permanenz”, wie Marx zu präzisieren nicht vergaß.

Welche Politik?

Doch permanent ist die Revolution nicht von alleine; man muss es wollen. Die revolutionäre Krise nach dem Ersten Weltkrieg war erst 1923 einer kurzen Stabilisierung gewichen. Und prompt ergriff in Sowjetrussland die Fraktion die Macht, die ausdrücklich den “Sozialismus in Einem Land” zu ihrem Programm erklärte. Es war die Fraktion der ermüdeten alten Revolutionäre und der habgierigen jungen Bürokraten. Sie verwandelte die Kommunistische Internationale zu einem Instrument der sowjetischen Diplomatie: Einfluss auf die Innenpolitik der westlichen Länder nehmen, um Druck auf deren Außenpolitik zu üben: ‘Frieden mit der Sowjetmacht’ war die Losung, die Revolution konnte warten.

Hätten, bei einer andern Politik, weitere Revolutionen in Europa siegen und der Sowjetmacht zu Hilfe kommen können? Man weiß es nicht, denn es wurde nicht versucht. Der herrschenden Fraktion wäre es nicht gelegen gekommen; es hätte ihren Sieg untergraben. Die Alternative Stalin oder Trotzki war die Wahl zwischen der bürokratischen Konterrevolution in Russland und der permanenten Revolution in der Welt.
 


Eines hätte eine andere Politik der deutschen Kommunisten auf jeden Fall verhindern können und verhindern müssen: die Machtergreifung des Nationalsozialismus, jenem “letzten Bollwerk gegen den Bolschewismus”, nachdem die parlamentarische Demokratie abgedankt hatte.

Ohne Stalin kein Hitler. Und ohne Hitler kein Stalin: Der Große Terror der dreißiger Jahre und das Auswuchern der bürokratischen Herrschaft zum totalitären Moloch folgten dem nationalsozialistischen Modell. Vom “Zwillingsgestirn Hitler-Stalin” hat Leo Trotzki bitter gesprochen.

Die ganze alte Scheiße?

Viel schlimmer!




Freitag, 27. Juni 2014

Totale Bürokratie I: Die Ursprünge.



Die bürgerliche Welt ächzt unter dem Bleigewicht öffentlicher und privater Verwaltungen. Ist Bürokratisierung, wie Max Weber meinte, das unausweichliche Schicksal moderner, rationalisierter Gesellschaften?

Die Bürokratisierung der Welt 

Die Klage über die Bürokratie begann mit der Romantik: Das “Fabrikmäßige” der (damals) modernen Staatsgebilde wurde mit den vermeintlich seelenvolleren ‘persönlichen’ Verhält- nissen der Feudalzeit verglichen und natürlich für zu leicht, nein: für zu schwer befunden. Und in E.T.A. Hoffmanns “Goldenem Topf” ist der öffentlich Bedienstete geradezu der Inbegriff des Philisters.
 
Max Webers Urteil über die “Rationalität” bürokratischer Herrschaft sticht dagegen merkwürdig ab. Ist jedes Mal dasselbe gemeint, wenn der eine oder der andere von Bürokratie redet? Immerhin spielen viele Bedeutungsnuancen hinein, vom Obrigkeitsstaat über die industrielle Arbeitsteilung und Schwindel erregende Hierarchien bis zum Informationsverlust auf zu langen Wegen. Tatsächlich hat das Phänomen der Bürokratisierung der modernen Welt mannigfaltige Quellen.

Obrigkeitsstaat

Die staatlichen Bürokratien sind in den (kontinental) europäischen Ländern ein Erbe des Obrigkeitsstaats. Die absoluten Monarchien waren aus den feudalaristokratischen Königtümern hervorgegangen, indem sich die Krone in ihrem Machtkampf mit dem Hochadel auf das (steuerzahlende) Bürgertum stützte. Ludwig XIV., Vorbild aller Allein- herrscher, fesselte die gesamte französische Aristokratie an seinem Hofstaat zu Versailles und zog sie damit zugleich aus der politischen Verwaltung seines Reiches ab. Die frei werdenden obrigkeitlichen Ämter konnte er den meistbietenden Bürgerlichen feilbieten, die er damit unmittelbar den Interessen der Krone dienstbar machte. 


Seit ihrem Entstehen erfüllt die staatliche Bürokratie über ihre behördliche Funktion hinaus auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe: die aufstrebenden Elemente der unteren Klassen an die bestehende Ordnung zu binden. Zugleich bildet sie ein besonderes Sozialcorps mit eigenen Standesinteressen, die nicht mit denen des Souveräns identisch sind.

Die Kontrolle der behördlichen Machtausübung durch den Souverän ist offenbar das Schlüsselproblem. Nur seinen Interessen sollen sie dienen, und sofern in einem demokratischen Staatswesen das Interesse des Souveräns kein anderes ist als das Interesse aller Bürger, kann die bürokratische Herrschaft als ‘rational’ gelten – vorausgesetzt freilich, sie unterliegt der öffentlichen Kontrolle ihres Souveräns.

Eines muss ohne Zorn und Eifer eingesehen werden: Wer eine öffentlich kontrollierbare Behörde will, muss ein Mindestmaß an Bürokratismus immer in Kauf nehmen. Denn nur, wenn obrigkeitliche Entscheidungen säuberlich in ‘Vorgänge’ zergliedert werden, die ihrerseits jeweiligen ‘Stellen’ zugeordnet sind, lassen sich die Entscheidungsgänge nachträglich rekonstruieren und vor Gericht anfechten. Es gibt keinen Rechtsstaat ohne einen Grundbestand von Bürokratie. Wo dieses Minimum endet und der Missbrauch beginnt, ist im Einzelfall immer strittig, und sicher ist es nicht die Bürokratie selbst, die hier zum Richter berufen ist.

Industrielle Arbeitsteilung

Und warum gelingt es den Demokratien nicht, die ihnen nach Max Weber so adäquate ‘bürokratische Herrschaftsform’ in rationellen Grenzen zu halten? Weil die bürgerliche Gesellschaft selber, nämlich die industrielle Arbeitsteilung in der mechanischen Fabrik, ein nie versiegender Quell der Bürokratisierung ist.

Wachsende Produktivität, so hatte Adam Smith gelehrt, heißt wachsende Arbeitsteilung; Aufteilung nicht nur der gesellschaftlichen Produktion in verschiedene, nur durch den Austausch einan- der verbundene Zweige, sondern Aufteilung der Fertigungsgänge selbst im Innern der Fabrik in ihre einzelnen Sequenzen, Einsparung eines jeden Handgriffs, der ebenso gut durch die Maschine erledigt werden kann, und Zusammensetzung des Endprodukts Teilchen für Teilchen. ‘Taylorismus’ und Fließband – so hießen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Zukunftslosungen, die bis nach Sowjetrussland klangen.

Jeder Arbeiter ein geschulter Spezialist des einen, für ihn noch übrig bleibenden Handgriffs; und das Ganze zusammengehalten durch den Spezialisten fürs Zusammenhalten, den Organisator, den Planer, den Leiter, den Bürokraten. In einer Produktionsweise, wo alles aufs Analysieren und Vereinzeln ankommt, wird das nachträgliche Vermitteln der Teile schließlich zu einer selbstständigen Aufgabe.

Es blieb nicht aus, dass die rationelle Organisationsform der mechanisierten Fabrik ihrerseits zum Vorbild wurde für eine rationelle staatliche Verwaltung im demokratischen, bürgerlichen Staat. Dies umso sicherer, als es… die Behörde selber ist, die sich für ihre Rationalisierung zuständig macht und bis heute jeden einzelnen Schritt zur ‘Entbürokratisierung’ plant, durchführt und kontrolliert. Und so lange es der Stand der Staatsbediensteten ist, der nicht nur die Verwaltung besorgt, sondern in den Kommunikationswegen der politischen Parteien wie in den Volksvertretungen den Ton angibt! Es ist nur auf dem Papier eine öffentliche Kontrolle. Tatsächlich handelt es sich um eine Geschlossene Gesellschaft.

Wohlfahrtsstaat

Galt dies alles zu Zeiten des liberalen Konkurrenzkapitalismus, so gilt es erst recht unter den organisierten Formen kapitalistischer Herrschaft, die ihren politischen Ausdruck im Wohlfahrtsstaat

fanden. Er ist zur gleichen Zeit diesseits und jenseits des Atlantik entstanden, in den USA im New Deal, in Deutschland in der natio nalsozialistischen Volksgemeinschaft.

Seither hat sich in Europa mehr noch als in Amerika die Ansicht als selbst- verständlich durchgesetzt, dass der Staat selber für das Wohlergehen – happiness – seiner Bürger verantwortlich ist, und nicht nur die Chance des freien pursuit of gewährleistet. Je mehr Bereiche des öffentlichen und selbst privaten Lebens behördlicher Fürsorge überantwortet werden, umso tiefer wuchert die Hydra der Bürokratie ins Innere der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Arbeiterbewegung selbst kommt dem entgegen. Mit wachsendem Organisationsgrad entwickelt sie selber einen Hang zur Bürokratisierung. Noch der wildeste Streik braucht am Ende Leute mit Geschick, die die günstigsten Bedingungen für die Wiederaufnahme der Arbeit aushandeln. Besser als wilde Streiks sind aber die gut vorbereiteten, besser als zufälliges Geschick ist eine gezielte Bildung. Die Tagesgeschäfte des Klassenkampfs erfordern ihre eigenen Spezialisten.

Am besten Professionelle. Unter denen macht sich an Stelle revolutionärer Ungeduld realpolitischer Reformersinn breit. Der Wohlfahrtsstaat ist eine Resultante des Klassenkampfs. Hier verbinden sich die sozialpolitischen Konzessionen, die die Arbeiterbewegung der bürgerlichen Herrschaft abringen konnte, mit jenen vorbeugenden Maßnahmen, die seit Bismarcks Sozialgesetzen der Staat selbst ergriff, um dem Klassenkampf seine revolutionäre Spitze abzubrechen; und es ist im Detail mühsam, eins vom andern zu scheiden.

Nach dem russischen Oktober erwies sich schließlich der Wohlfahrtsstaat als einzig wehrhaftes Bollwerk gegen die permanente Weltrevolution. Aber es hätte kaum ausgereicht, wäre deren Dynamik nicht zuvor in ihrem Innern gebrochen worden. Man versteht weder das New Deal noch die faschistischen Volksgemeinschaften, wenn man sie nicht als Vorder- und Rückseite einer Medaille erkennt. Man versteht weder den Nationalsozialismus noch den Stalinismus, wenn man sie nicht als die Vorder- und die Rückseite derselben Medaille erkennt.

Donnerstag, 26. Juni 2014

Residuen des bürokratischen Feudalismus.

aus nzz.ch, 25. Juni 2014, 10:00                                                                                   Junge Arbeiterinnen im Donbass,1930

Verlorene Privilegien
Die Kinder des Sowjetkommunismus fühlen sich verraten



Die Stadt Donezk, die zuerst Jusowka und später Stalino hiess, war in den dreissiger Jahren ein Vorzeigemodell des sozialistischen Aufbaus. Auch im ukrainischen Staat ist der Donbass das wichtigste Zentrum der Schwerindustrie.

Im Herbst des Jahres 1869 landete der britische Unternehmer John James Hughes mit acht Schiffen am Nordufer des Asowschen Meeres. Er brachte moderne technische Ausrüstung und hundert Facharbeiter mit, um dieses dünnbesiedelte Steppengebiet, in dem sich reiche Steinkohlelager befinden, industriell zu erschliessen. Ausgestattet mit einer Konzession der russischen Regierung, hatte er ein Stück Land am Fluss Kalmius erworben, wo er ein Metallwerk errichten liess. Im April 1871 nahm der erste Hochofen seinen Betrieb auf. Um diese erste Fabrik entstand eine Arbeitersiedlung, die nach ihrem Begründer Jusowka (Hughes-owka) genannt wurde. Jusowka (ukrainisch Jusiwka) war also keine historisch gewachsene Stadt, kein Zentrum der Verwaltung, des Handels und Gewerbes, sondern ein Industriedorf im Niemandsland. Jusowka hatte im Jahre 1884 5500 und 1913 43 000 Einwohner, die Mehrheit von ihnen aus Russland zugewanderte Industriearbeiter. Ein Jahrhundert später leben in der Stadt, dem heutigen Donezk, über eine Million Menschen.

Frühe Vorbilder

Bergbau und Metallurgie nahmen eine stürmische Entwicklung, und Jusowka wurde zu einer Boomtown im Donezbecken (Donbass), der Region, die in wenigen Jahrzehnten zum wichtigsten Schwerindustriegebiet im Zarenreich wurde. Eisenbahnen verbanden die Stadt mit dem Zentrum des Reiches und mit den Erzlagerstätten am unteren Dnjepr. In der neu erschlossenen, schwer kontrollierbaren «wilden Steppe» verbanden sich Freiheit und Gewalt zu einer explosiven Mischung, die die Geschichte des Donbass in der Folge prägte.

 

Revolution und Bürgerkrieg brachten Jusowka Zerstörungen und zwei Hungersnöte. Eine 1918 errichtete kurzlebige Sowjetrepublik Donezk-Kriwoi Rog mit der Hauptstadt Luhansk könnte den beiden heutigen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk als Vorbild gedient haben. Während Stalins ersten Fünfjahrplänen erlebte der Donbass erneut einen rapiden Aufschwung. Die Schwer- und Rüstungsindustrie, die Produktion von Kohle, Eisen und Stahl standen im Zentrum der forcierten Industrialisierung der Sowjetunion. Die Bedeutung des Donbass zeigt sich daran, dass in der Region vor 1941 zwei Drittel des Eisens und Stahls der Sowjetunion produziert wurden.


Jusowka, das 1924 programmatisch in Stalino umbenannt worden war, entwickelte sich stürmisch und zählte am Ende der 1930er Jahre 223 grosse Unternehmen und fast 500 000 Einwohner. Neben russischen Arbeitern strömten nun zahlreiche ukrainische Bauern und Juden in die Stadt. Stalino und der Donbass wurden zu Musterorten der sowjetischen Industrialisierung, zu Vorzeigemodellen des sozialistischen Aufbaus.

Das Industrieproletariat des Donbass und allen voran die Bergleute waren die Prototypen des neuen «Sowjetmenschen». Ihr Vorreiter war der Bergmann Alexei Stachanow, der am 31. August 1935 in einer Schicht angeblich 102 Tonnen Kohle förderte und damit die Arbeitsnorm um das 14-Fache übererfüllte. Die nach ihm benannte Propagandakampagne diente der Steigerung der Arbeitsleistung und allgemein der Mobilisierung der sowjetischen Bevölkerung für den Aufbau des Sozialismus. Die Stachanow-Arbeiter wurden zur Avantgarde des Proletariats stilisiert und zu Helden des sowjetischen Kinos.

Die Elite der Bergleute und Stahlarbeiter erhielt hohe Löhne und Privilegien wie den leichteren Zugang zu Wohnungen und Nahrungsmitteln. Obwohl die Masse der Industriearbeiter weiter unter kargen Bedingungen lebte, wurden auch sie gegenüber der übrigen Bevölkerung bevorzugt. Da sie ausreichend mit Lebensmitteln versorgt wurden, litten die Städte des Donbass viel weniger unter der von Stalin herbeigeführten Hungersnot von 1932/33 als die Landbevölkerung. Stalino war dagegen schwer vom stalinschen Terror und von den «Säuberungen» betroffen, denen vor allem Ingenieure, Techniker und Parteifunktionäre zum Opfer fielen. Dennoch bleiben die dreissiger Jahre in Donezk als goldenes Zeitalter in Erinnerung, und zahlreiche seiner Bürger blicken mit Nostalgie zurück auf die Jahre, als ihre Vorfahren die gehätschelten Kinder des Sowjetkommunismus waren.

Krieg und Wiederaufbau

Der Zweite Weltkrieg erreichte Stalino am 20. Oktober 1941, als es von deutschen Truppen besetzt wurde. Die Sowjets hatten einen Teil der Industrieanlagen rechtzeitig demontiert und mit den Industriearbeitern nach Sibirien evakuiert, ein Teil der Kohlegruben wurde zerstört. Dennoch gelang es den Besatzern, die Kohleproduktion wieder anzukurbeln und für ihre Zwecke zu nutzen. 250 000 Bewohner des Gebiets Stalino (8 Prozent der Bevölkerung) wurden als Zwangsarbeiter ins Reich nach Deutschland verschleppt. Zahlreiche Kriegsgefangene, kommunistische Funktionäre und alle Juden, die sich nicht hatten retten können, wurden getötet. Als die sowjetischen Truppen Stalino im September 1943 befreiten, war die Stadt weitgehend zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Schwerindustrie im Donbass rasch wiederaufgebaut, wobei Zwangsarbeiter aus den Reihen der deutschen Kriegsgefangenen und der repatriierten Sowjetbürger eingesetzt wurden. Die Produktion von Kohle, Stahl und Maschinen übertraf schon 1955 die Vorkriegswerte. Im Jahr 1961, acht Jahre nach dem Tod Stalins, erhielt die Stadt den neuen Namen Donezk, nach dem Fluss Donez, der allerdings in 100 Kilometer Entfernung an der Stadt vorbeifliesst. Die Industrie wurde diversifiziert, neben die Montanindustrie traten die chemische und die lebensmittelverarbeitende Industrie.

Die Stadt wurde neu aufgebaut, mit grosszügigen Plätzen, Verwaltungsgebäuden und vielen Pärken, die bis heute das Zentrum prägen und sich von den tristen Vororten mit ihren teilweise maroden Kohlegruben und Fabriken abheben. Dazu kamen die 1965 errichtete Universität sowie mehrere Theater und Museen. Aus dem Industriedorf war ein städtisches Zentrum geworden. Die Bevölkerung wuchs weiter an und erreichte im Jahre 1979 die Millionengrenze. Seither stagniert die Zahl. Dies entsprach der wirtschaftlichen Stagnation der Region, die von den Schwerindustrie-Komplexen im Südural und in Sibirien vermehrt in den Schatten gestellt wurde.

Nach 1991 rückte der Donbass mit seinem Herz Donezk wieder in den Vordergrund und wurde zum wichtigsten Industriegebiet der unabhängigen Ukraine. Die selbstbewussten Bergleute machten seit dem Jahr 1989 durch wiederholte Streiks auf sich aufmerksam und setzten ihre Ziele, die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und die Erhöhung ihrer Löhne, zum Teil durch. Dennoch blieben die veralteten Kohlegruben ein gefährlicher Arbeitsort, und es kam mehrmals zu schweren Unglücken, denen über 400 Bergleute zum Opfer fielen, Die Vorzeigebranche des Kohleabbaus wurde immer teurer und weniger konkurrenzfähig.

Es gelang aber, die Industrie weiter zu diversifizieren, und die Region Donezk blieb das wirtschaftlich stärkste Gebiet der Ukraine mit nicht weniger als 20 Prozent der im Land produzierten Waren und Dienstleistungen (bei einem Bevölkerungsanteil von 10 Prozent). Im Jahre 2012 waren die durchschnittlichen Einkommen in der Region Donezk nach Kiew die höchsten des Landes. Wie in Russland bemächtigten sich clevere Unternehmer in den 1990er Jahren mit teilweise fragwürdigen Methoden eines bedeutenden Teils der Industrieunternehmen und bauten ihre Stellung in der Folge aus. Der sogenannte Donezker Clan wurde zu einer bestimmenden Kraft der ukrainischen Wirtschaft und zunehmend auch der Politik. Donezk ist seit der Gründung eine der am stärksten russisch geprägten Städte der Ukraine. Fast alle Bewohner geben Russisch als Muttersprache an, und etwa die Hälfte deklariert sich als ethnische Russen. Die Donezker fanden sich nun in einem ukrainischen Staat wieder, der Ukrainisch zur Staatssprache erklärte. Zwar verfolgte die Regierung die Politik einer sanften Ukrainisierung, die in Donezk praktisch ohne Wirkung blieb, dennoch sahen viele Donezker ihre Eigenart gefährdet. Vor allem während der Präsidentschaft des nach Westen orientierten Wiktor Juschtschenko (2005–2010) wuchs die Unzufriedenheit. Diese kam in einer weit verbreiteten Sowjetnostalgie zum Ausdruck. In einer Umfrage gaben 37 Prozent der Donezker an, keine russische oder ukrainische, sondern eine sowjetische Identität zu haben.

Vom industriellen Stolz zur wirtschaftlichen Hypothek

Gemessen an der industriellen Produktion, ist der Donbass auch heute noch das wichtigste Gebiet der Ukraine. Aus dem Donbass kommen 90 Prozent der rund 80 Millionen Tonnen Kohle, die jährlich in der Ukraine gefördert werden. Viele der in Staatshand verbliebenen Kohlegruben arbeiten jedoch nicht profitabel. Eine durchgreifende Restrukturierung des Sektors ist absehbar, was die sozialen Probleme des Industriegebiets verschärfen dürfte.

Das Selbstbild des Donbass als Wirtschaftsmotor der Ukraine gilt je länger, desto weniger. Nicht nur der Kohlesektor kämpft mit Problemen der Wirtschaftlichkeit, sondern auch die Stahlindustrie, die mit vielfach veralteten Anlagen produziert und damit in einem sich verschärfenden weltweiten Konkurrenzkampf an Wettbewerbskraft einbüsst. Im Gegensatz etwa zur nördlich gelegenen Region Charkiw, einer Nettozahlerin für den ukrainischen Zentralhaushalt, muss das Donezker Gebiet subventioniert werden. Diese Tatsache wurde der Bevölkerung vom Gouverneur des Gebiets, Taruta, unlängst in Erinnerung gerufen. Die Forderung nach mehr politischer und wirtschaftlicher Eigenständigkeit ist zwar nachvollziehbar und auch berechtigt. Doch scheint das Bewusstsein zu fehlen, dass es einem mehr auf eigene Rechnung arbeitenden Donbass nicht zwangsläufig besser gehen wird.

Separatismus und politische Unruhe haben der Region zusätzlich geschadet. Laut Angaben des ukrainischen statistischen Amts verzeichneten die Unternehmen im Donbass im ersten Quartal 2014 Verluste, die um 37 Prozent höher lagen als der nationale Durchschnitt. In absoluten Zahlen beliefen sie sich auf umgerechnet 1,8 Milliarden Euro, anderthalb Mal so viel wie für das gesamte Jahr 2013. Die Industrieproduktion ging im Vergleich zur Vorjahresperiode um 13 Prozent zurück.

Die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung der Ostukraine wurde teilweise durch den «Donezker Clan» aufgefangen und instrumentalisiert. Seine führende Persönlichkeit war Rinat Achmetow, der 1966 als Sohn eines Bergmanns tatarischer Herkunft in Donezk geboren wurde. Achmetow hatte sich ein Wirtschaftsimperium aufgebaut, das einen Grossteil der regionalen Montanindustrie, aber auch der Kommunikationsbranche und der Medien kontrollierte. Ihm gehört der Fussballklub Schachtjor (Bergmann) Donezk, den er zu einem international angesehenen Team machte, was zur Bildung einer städtischen Identität beitrug. Achmetow ist heute der reichste Ukrainer mit einem geschätzten Vermögen von 11,6 Milliarden Dollar.

Von Moskau aufgestachelt

Achmetow förderte Wiktor Janukowitsch, der ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie des Donbass stammt und von 1997 bis 2002 Vorsitzender der Gebietsverwaltung von Donezk war. Dieser setzte seine Karriere in Kiew fort, war zweimal Ministerpräsident, bevor er 2010 zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde. Im Jahre 2001 wurde die Partei der Regionen gegründet, deren Vorsitz Janukowitsch seit 2003 innehatte und die später zur grössten politischen Partei der Ukraine wurde. Sie trat als Anwalt der Bevölkerung im Osten und Süden des Landes auf, und ein bedeutender Anteil ihrer Parlamentsabgeordneten stammte aus der Region Donezk, unter ihnen zahlreiche Vertreter der Wirtschaftselite der Stadt mit Achmetow an der Spitze. Im Zuge der Proteste auf dem Maidan distanzierte sich Achmetow von Janukowitsch, was zu dessen Sturz im Februar 2014 beitrug.

Donezk verlor nun seinen bestimmenden Einfluss auf die ukrainische Politik, und Forderungen nach Autonomie und Föderalisierung wurden laut. Unabhängigkeit oder gar ein Anschluss an Russland wurden, wie alle Umfragen bestätigen, nicht angestrebt. Die bewaffneten Gruppen, die im April die «Volksrepublik Donezk» ausriefen, im Mai in einem fragwürdigen Referendum deren Unabhängigkeit beschliessen liessen und zunehmend einen Anschluss an Russland anstreben, sind von Moskau angestachelt und bewaffnet worden und können sich nicht auf eine Mehrheit der Stadtbevölkerung stützen.

Achmetow, der wie die meisten anderen ukrainischen Oligarchen einen Anschluss an Russland ablehnt und die Erhaltung des ukrainischen Staats befürwortet, versucht seinen Einfluss geltend zu machen, um die Separatisten zu stoppen. Zu diesem Zweck mobilisierte er vor kurzem seine Arbeiter, doch gelang es ihm nicht, die selbsternannten, von bewaffneten russischen Gruppen unterstützten Vertreter der «Volksrepublik Donezk» aufzuhalten. Erleben wir eine neue Phase von «Freiheit und Terror»? Die Stadt, die als Jusowka im Zentrum der Industrialisierung des Zarenreiches stand, als Stalino zur sowjetischen Musterstadt wurde und als Donezk die Wirtschaft und Politik der unabhängigen Ukraine wesentlich prägte, sieht einer ungewissen Zukunft entgegen.

Andreas Kappeler ist emeritierter Professor für osteuropäische Geschichte der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.


Nota. - Ein totalitäres Regime kann nur durch Terror herrschen. Und anders herum, nur ein totalitäres System kann allein durch Terror herrschen. Stalin hatte das Überwuchern der Bürokratie in Sowjetrussland zum Vehikel seiner persönlichen Alleinherrschaft gemacht, durch Terror; und anders hätte die Bürokratie das Erbe der Revo- lution nicht so restlos liquidieren können. Aber ohne Stalins Autokratie begann das totalitäre Regime zu brök- keln. Mehrere Prätendenten im Politbüro mussten nach Verbündeten suchen, der Terror musste durch Korruption erweitert werden, und langsam zerfiel der totalitäre Monolith zu einem undurchsichtigen Agglomerat von Satra- pien, Vasallitäten und informellen Botmäßigkeiten. Am Ende entsteht eine Feudalordnung, die sich allein durch das Verteilen immer neuer und naturgemäß immer dürftigerer Privilegien reproduzieren kann, auf immer unsi- cherer Grundlage. Nicht einmal die Mitgliedschaft in der Partei bleibt auf die Dauer eine Barriere nach unten; dieser Mafioso ist schließlich mächtiger als jener Parteisekretär, und viele sind beides zugleich.

Eine solche feudale Satrapie war das Donezbecken. Gegenüber manchem Landstrich nicht nur in Mittelasien, sondern schon in den westlicheren Teilen der Ukraine war es eine Insel der Privilegierten. 

Und das ist es seit dem Zerfall der Sowjetunion immer weniger. Putin wird sich fragen, wozu er dieses gewe- sene Industriezentrum überhaupt gebrauchen kann. Alles können die Erdölmilliarden auch nicht subventionie- ren.
JE 

Mittwoch, 25. Juni 2014

Schamlos.

 
aus nzz.ch, 25. Juni 2014, 11:30


Wandel der Gefühlskultur
Die verlorene Scham

 

Was als «normal», was als «anstössig» gilt, ändert sich laufend, lässt sich aber nur schwer beobachten. Hilfreich ist da zeitliche Distanz. In Virginia Woolfs Roman «Mrs Dalloway» kehrt jemand nach fünfjährigem Kolonialdienst nach London zurück – und staunt über Frauen, die sich an diesem Junitag 1923 in aller Öffentlichkeit ungeniert die Nase pudern. Wer heute, sagen wir, von einer Marsreise zurückkehrte, würde sich dagegen wundern, beim Flanieren durch eine europäische Metropole «von Prostituierten umgeben zu sein», vermutet Ulrich Greiner. – Ein Irrtum freilich, handelt es sich doch «in Wahrheit um harmlose junge Frauen [. . .], die keineswegs zu solchen Diensten bereit» sind, auch wenn sie bauchfreie Tops tragen oder mittels Hüfthosen ihre String-Tangas hervorblitzen lassen. Die Zeiten ändern sich eben, und mit ihnen ändert sich das Schamempfinden.
 
Literatur als Laboratorium

Irritiert durch den sich medial entfaltenden Exhibitionismus der Gegenwart, beschäftigt sich der «Zeit»-Journalist und Literaturkritiker mit einer der wohl intimsten Empfindungen überhaupt und mit ihrer Abgrenzung von verwandten Gefühlen wie Schuld oder Peinlichkeit. Dazu erörtert Greiner in seiner durchweg gedankenreichen, elegant geschriebenen Studie «Schamverlust» nicht nur die einschlägigen soziologischen Theorien von Norbert Elias, Richard Sennett, Ruth Benedict oder Sighard Neckel, sondern bedient sich naheliegenderweise auch der Literatur. Diese könne gerade in gesellschaftlichen Umbruchphasen «den Charakter eines Schamlabors annehmen», in dem «emotionale Extremlagen getestet werden».

Wie nah verwandt etwa Schamangst und -lust sind, zeigt Schnitzlers «Fräulein Else»: Das demütigende Ansinnen, sich vor dem künftigen Gläubiger ihres Vaters zu entblössen, kehrt Else um, indem sie sich allen nackt zeigt, also «den Akt der Schamlosigkeit zu ihrer eigenen Sache macht und somit Handlungshoheit gewinnt». Ein von heute aus gesehen modern anmutender Akt, gelte Schamhaftigkeit doch längst nicht mehr als weibliche Tugend. Im Zeitalter von Lady Gaga werde vielmehr gerade die Schamlosigkeit als «Ausdruck weiblicher Vitalität» gefeiert.

Im Unterschied zum schwächeren Gefühl der Peinlichkeit benötige das Schamempfinden keinen Zeugen, dafür jedoch Reflexivität. In Thomas Manns Erzählung «Luischen» fällt der korpulente Protagonist, der aus Liebe zu seiner sadistischen Frau bei einem Fest als Tanzbär im «rotseidenen Babykleide» auftritt, genau in dem Moment vor Scham tot um, als ihm erstmals bewusst wird, wie lächerlich er sich eigentlich macht. «Im Augenblick der Scham sehe ich mich selber als jemanden, der gefehlt hat», schreibt Greiner, «und das Bild, das sich mir plötzlich zeigt, verletzt das Bild, das ich von mir habe oder gerne von mir hätte.» Deshalb sei die Fähigkeit, Scham zu empfinden, keine anerzogene bürgerliche Unart, die man sich abgewöhnen müsse, wie die Achtundsechziger geglaubt hätten, sondern eine wesentliche Bedingung für Moral und Ästhetik. – Sollte das stimmen, lässt das für die Gegenwart nichts Gutes vermuten, denn für diese konstatiert der Autor einen fundamentalen Wandel: weg von einer Schamkultur, hin zu einer «Kultur der Peinlichkeit». Letztere beruhe statt auf Selbstbewertung in erster Linie auf (tatsächlicher oder unterstellter) Fremdbewertung, sei aber für den Einzelnen nicht minder heikel, habe sich doch inzwischen «das Feld der Zwänge und Peinlichkeitsrisiken ins vollkommen Unübersichtliche ausgedehnt». Die Scham existiere stattdessen nur noch in Schwundformen wie den öffentlichen Beichten sich zerknirscht gebender Politiker, in denen sie als «inneres Regulativ» zur blossen «Schamgeste» verkomme.

Mit dieser Diagnose distanziert sich Ulrich Greiner von der Standardthese der Kulturkritik, die je eigene Epoche sei der Höhepunkt der Schamlosigkeit: Wäre dem so, wäre die Geschichte ein Prozess fortlaufender Enthemmung. Doch wo alte Regeln nicht mehr gelten, werden immer auch neue gebildet, betont Greiner. Weshalb es heute, mit Niklas Luhmann gesprochen, «zugleich besser und schlechter» ist: Während etwa frühere Generationen vom Einzelnen erwarteten, Schicksalsschläge mit der heroischen «Contenance» eines Thomas Buddenbrook hinzunehmen, ungeachtet der psychischen Kosten, findet der aussengeleitete Typus der Gegenwart nichts dabei, in der emotionalen Wärmestube Facebook seinen Seelenkummer der Welt zu verkünden, um dafür umgehend mit virtuellem Zuspruch versorgt zu werden.

Peinlichkeit

Doch wehe der Schülerin, «die noch Hüfthosen trägt, während die anderen schon Empire-Hemdchen mit Leggins tragen», so der in Sachen Mode kundige Autor. Die Angst, peinlich zu sein, führe heute, zumal in der jüngeren Generation, zu einer permanenten Verhaltensunsicherheit. Symptomatisch dafür der Protagonist in Leif Randts Roman «Schimmernder Dunst über Coby County» (2011), der jede Geste, jede Regung mit den Vorbildern aus der Werbung abgleicht. Die Angst vor Peinlichkeit betrifft gerade den neuen Exhibitionismus: Ein Lehrer, der im Muskel-Shirt unterrichtet, sollte dies nur mit dem entsprechend trainierten Körper tun, will er nicht zum Gespött seiner Schüler werden. 

Überzeugend führt Greiner die boomende Schönheitschirurgie, die längst auch den Genitalbereich erreicht hat, auf die neue Peinlichkeitskultur zurück. Dass aber die Peinlichkeit, anders als die Scham, keine «ins Existenzielle zielende Energie» besitze, wie Ulrich Greiner behauptet, scheint fraglich, denkt man an in den Suizid getriebene Mobbingopfer.

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014. 350 S., Fr. 34.90.

Samstag, 21. Juni 2014

Die atlantische Option war nur zweite Wahl.

 
aus Die Presse, Wien, 22. 6. 2014

Weltpolitik
Die Geburt des Westens aus dem Scheitern der Eroberung des Ostens 
Weltpolitik einmal anders betrachtet.

 

Amerika und China sind die Pole der globalen Politik. Heute wie auch schon vor 500 Jahren: Die damals beginnende Expansion Europas fokussierte sich auf diese beiden Teile der Welt, argumentiert der französische Historiker Serge Gruzinski in seinem eben auf Deutsch erschienenen Buch „Drache und Federschlange“ (347 Seiten, 35,90 Euro, Campus Verlag).

Christoph Kolumbus wollte bekanntlich Ostasien erreichen, als er 1492 in Richtung Westen in See stach. Er war auch überzeugt, seinem Ziel ganz nahe gekommen zu sein – die Bezeichnung „Westindische Inseln“ für die Karibik zeugt bis heute davon. Erst seinen Nachfolgern wurde klar, dass dem nicht so war: Sie realisierten, dass sie nicht in jenem sagenhaften Land gelandet waren, das sie aus Marco Polos Reisebeschreibung „Il Milione“ (Die Wunder der Welt) zu kennen glaubten. Binnen weniger Jahrzehnte unterwarfen sie die Reiche der Azteken, der Maya und so weiter. Und zwar mit einer Leichtigkeit, die bis heute staunen macht.

Gleichzeitig bissen sich die Europäer aber am anderen Ende der Welt die Zähne aus: Um 1520 versuchten die Portugiesen, die um Afrika herum und durch den Indischen Ozean nach Südostasien gelangt waren, in China Fuß zu fassen und es für die Christenheit zu erobern; sie scheiterten kläglich an dem wohlorganisierten Reich der Mitte.

Aber auch die Spanier gaben ihren Traum nicht auf, ostasiatische Gefilde zu erreichen: Nach der Eroberung Mittelamerikas ließ Hernán Cortés an der Pazifikküste Mexikos Schiffswerften errichten, um dort weiterzumachen, wo Kolumbus aufgehört hat. Die Passage über den Pazifik erwies sich aber als viel schwieriger als gedacht. Erst 1565 war das Problem gelöst. Einflussreiche Kreise in Spanien und Portugal, unter ihnen die Jesuiten, starteten umgehend einen zweiten Versuch, China zu erobern. Daraus wurde erneut nichts – auch deshalb, weil sich die Machtverhältnisse in Europa gedreht hatten. 1588 ging die spanische Armada im Krieg gegen England unter, das iberische Zeitalter war zu Ende. Erst im 19. Jahrhundert sollte Europa in China Fuß fassen (und auch dann nicht für lange).

Gruzinski zieht aus dieser Geschichte einen bemerkenswerten Schluss: Erst durch das Scheitern der europäischen Expansionsbestrebungen in China hat sich Europa auf Amerika konzentriert. Und erst dadurch kam es schließlich zur Bildung des euroamerikanischen Westens, der bis heute im Widerstreit mit dem chinesischen Osten liegt. Weltpolitik einmal anders betrachtet.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.
meinung@diepresse.com
diepresse.com/wortderwoche





Donnerstag, 19. Juni 2014

Räte in der Revolution.


Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat, 1917

Haben Sie heute ein bisschen Zeit übrig und wollen Sie sie nicht nutzlos vergeuden?
Dann lege ich Ihnen ein paar Zeilen aus meinen Jugendjahren ans Herz.

Wenn man, wie ich damals noch, von der Prämisse ausgeht, wir lebten in der Epoche der Weltrevolution, dann sind die folgenden Ausführungen gar nicht dumm. Die Prämisse ist aber 1989/90 entfallen. Dumm sind sie noch immer nicht, nur veraltet.


aus
Positionen 3
herausgegeben von der Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken, Landesverband Berlin
April 1968

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Der Ballhausschwur.

Der Schwur im Ballhaus, wie ihn Jacques-Louis David sah.
aus nzz.ch,17. Juni 2014, 10:00                                                                                           David, Der Ballhausschwur

Auftakt zur Französischen Revolution vor 225 Jahren
Die Geburtsstunde des kontinentalen Parlamentarismus


Am 17. Juni 1789 erklärte sich das französische Bürgertum zur Nationalversammlung. Dieser Bruch mit den bisher geltenden Regierungsprinzipien läutete die Französische Revolution ein.

Nach vier Wochen ergebnisloser Beratungen der in Versailles versammelten Generalstände beschlossen am 17. Juni 1789 die Deputierten des dritten Standes mit grosser Mehrheit, sich als Nationalversammlung zu konstituieren. Das bedeutete mehr als nur die Umbenennung einer ständischen Versammlung; das war ein grosser revolutionärer Akt. Das Bürgertum zerstörte damit die traditionelle politische Gesellschaft des Ancien Régime und schuf eine neue, vom König unabhängige, souveräne Gewalt. Es war die Geburtsstunde des kontinentalen Parlamentarismus und Teil eines revolutionären Prozesses.

Veränderungen und Reformen

Dieser entfaltete sich seit dem Mai 1789 schrittweise und veränderte schliesslich innerhalb von Tagen und wenigen Wochen ein ganzes politisch-soziales Gefüge. Er wurde zum Lehrstück dafür, wie eine Revolution entsteht. Begonnen hatte dieser Vorgang mit der Eröffnung der Generalstände Anfang Mai 1789. Die Empfehlungen, die die Wähler ihren Abgeordneten zuvor in den sogenannten Beschwerdeheften mit auf den Weg gegeben hatten, zielten auf ein ganzes Bündel von in sich widersprüchlichen Veränderungen und Reformmassnahmen. Niemand wollte jedoch zu diesem Zeitpunkt am Bild des guten und einsichtigen Königs rütteln, und nur wenige träumten von einer Revolution. Bereits die Rituale und Prozeduren der Generalstände, die zuletzt vor einhundertfünfzig Jahren zusammengetreten waren, liessen die tiefen und kaum überwindbaren politisch-sozialen Gegensätze erkennen, die in Versailles aufeinanderprallten. Die Versammlung der knapp zwölfhundert Deputierten aus Klerus, Adel und dem dritten Stand konnte sich noch nicht einmal über die Verhandlungs- und Abstimmungsmodalitäten einigen. Denn die Forderungen des dritten Standes nach einer Abstimmung nach Köpfen hätten den Deputierten des dritten Standes ein eindeutiges politisches Übergewicht gewährt und damit wahrscheinlich den Weg zur Abschaffung der Ständeverfassung und der Privilegien geöffnet.

Dominanz der alten Ordnung

Die Eröffnungszeremonien hatten allen Beteiligten noch einmal die Schranken der monarchisch-ständischen Ordnung vor Augen geführt. Der König hatte am 2. Mai die Stände getrennt empfangen. Zwei Tage später, am 4. Mai, bei dem Einzug der Deputierten in die Ludwigskirche, diente die alte Ordnung der Prozession der Demütigung des dritten Standes: Die bürgerlichen Deputierten wurden, indem man ihnen die Spitze des Zuges zuwies, möglichst weit vom König aufgestellt. Die Kleiderordnung, bis in alle Einzelheiten festgelegt, hob den Glanz und die Ehre der beiden ersten Stände hervor und degradierte den dritten Stand. Einen Tag später, bei der Eröffnung der Generalstände durch den König, wurde dem dritten Stand erst Einlass gewährt, nachdem die Abgesandten des Klerus und des Adels bereits neben der königlichen Tribüne Platz genommen hatten.
Der König warnte in seiner kurzen und nichtssagenden Ansprache vor «übertriebenen Wünschen nach Erneuerung». Das hinderte die Mehrheit der Abgeordneten nicht daran, ihm nach seiner Rede frenetischen Beifall zu spenden. Die Magie der königlichen Person war ungebrochen. Die zahlreichen Broschüren aus dem Wahlkampf im Frühjahr 1789 hatten die grossen Fragen herausgestellt, die die Nation bewegten, nämlich die Finanzen in Ordnung zu bringen und dem Land eine Verfassung zu geben, die neben der Macht des Königs auch dem Willen des Volkes gerecht wird, die dessen Freiheiten anerkennt und dem Königreich Frieden und Glück sichert.

Doch auch Frankreichs Finanzminister Jacques Necker, das Idol der Bürger, ging in seiner mehr als dreistündigen Rede auf diese Erwartungen nicht ein, sondern beschränkte sich darauf, die katastrophale Finanzlage des Königreiches in allen technischen Details darzustellen. Zu sehr fürchtete der frühere Genfer Bankier die Unberechenbarkeit einer Versammlung, die seine schwierige Finanz- und Anleihepolitik nur gestört und die er darum am liebsten politisch an den Rand gedrängt hätte. Doch genau das Gegenteil trat in den folgenden Tagen und Wochen ein, auch weil Necker zu schwach und der König zu unentschlossen war.

Wachsender Druck

Am folgenden Tag gingen Adel und Geistlichkeit daran, in getrennten Sitzungen die Legitimation ihrer Abgeordneten zu überprüfen. Der dritte Stand sah sich vor der schwierigen Entscheidung, ob er offen gegen die Abstimmung nach Ständen vorgehen sollte, was einen Schritt in die Illegalität bedeutet hätte. Vorerst beschloss man, nichts zu beschliessen und abzuwarten. Aber man gab sich einen neuen Namen, der das neue Selbstbewusstsein andeutete: Man nannte sich députés des communes (Abgeordnete der Gemeinden).

Doch auch diese neue Selbstbezeichnung stiess auf die heftige Ablehnung des Adels. Nachdem alle Vermittlungsversuche der königlichen Minister gescheitert waren, sahen sich die députés des communes schliesslich zu kühnen Entschlüssen aufgefordert. Denn der öffentliche Druck auf die Deputierten wurde immer grösser; vor allem stellte die Versammlung der Wahlmänner von Paris, angestiftet von jungen radikalen Publizisten wie Jacques-Pierre Brissot, sehr viel weiter gehende Forderungen. Man forderte von den Deputierten in Versailles nicht nur Standhaftigkeit; Brissot bestand auf einer Verfassung, die Frankreich dringend brauche, und auf der Garantie der Menschen- und Bürgerrechte als Grundlage einer Verfassung der Freiheit. Der dritte Stand fasste nun den Beschluss, die Abgeordneten der beiden Stände zu einer gemeinsamen Prüfung der Legitimation der «Vertreter der Nation» einzuladen. Das war der offene Bruch mit den Regeln der ständischen Ordnung und dem Gehorsamsgebot des Königs. Die Entscheidung wurde erleichtert durch erste Risse und Absetzbewegungen in den beiden privilegierten Ständen. Nun stand die politische Frage nach der Namensgebung wieder im Raum. Wollte man «Nationalversammlung» sein oder nicht; wollte man die politisch-rechtliche Gleichheit herstellen oder doch bei dem Namen «Versammlung der Gemeinen»* bleiben und damit die ständische Trennung anerkennen.

Nach zweitägiger Debatte nahm man den Vorschlag des völlig unbekannten Abgeordneten Legrand, sich als «Nationalversammlung» zu bezeichnen, mit grosser Mehrheit an. Auch band man sich durch einen feierlichen Treueid an das Amt, das man sich gerade selber verliehen hatte. Schliesslich billigte man sich das Recht auf Steuerbewilligung zu und stellte die Gläubiger des Staates unter den Schutz der Nation, was für die Financiers eine wichtige Garantie darstellte und die Nationalversammlung erst einmal vor dem Zorn des Königs und des Hofes schützte.

Ballhausschwur

Eine erste Bekräftigung erfuhr die Verfassungsrevolution vom 17. Juni drei Tage später. Inzwischen hatten sich eine Mehrheit der Geistlichkeit und eine Minderheit des Adels dafür ausgesprochen, sich dem revolutionären dritten Stand anzuschliessen. Als die Abgeordneten der neuen Nationalversammlung am 20. Juni vor den verschlossenen Türen des Grossen Saals im Regen standen – der Hof hatte den Saal kurzerhand geschlossen –, kam es zum Machtkampf. Die Abgeordneten begaben sich in einen schmucklosen, leeren und grossen Raum im nahe gelegenen Ballhaus. Hier verkündete der Präsident der Versammlung, der Astronom Bailly, den feierlichen Schwur: Die Mitglieder der Nationalversammlung gaben sich darin das Versprechen, nicht auseinanderzugehen und überall zusammenzutreten, wie die Umstände es erfordern würden, um eine Verfassung zu schaffen und sie auf sichere Grundlagen zu stellen. Das war ein historischer Moment, den der Maler Jacques-Louis David in einer Zeichnung gedeutet hat. Die Szene des Schwurs im kahlen Ballhaus, über dem ein Vorhang, ergriffen vom Wind des Wandels, weht, hat sich in das europäische Bildgedächtnis eingegraben. Sie zeigt eine völlig veränderte Lage. Die Versammlung ist nicht mehr nach strengen ständischen Regeln geordnet, sondern hat sich als Versammlung unabhängiger Individuen zu lockeren Gruppen zusammengefunden; in der Bildmitte eine starke Szene der Versöhnung und Einheit: Ein Ordensgeistlicher, ein Weltgeistlicher und ein evangelischer Pfarrer reichen einander die Hände.

Bald danach kam der Moment, in dem sich die versammelte Nation dem Willen des Königs offen widersetzen musste. Königliche Truppen umstellten das Gebäude und forderten die Abgeordneten auf, bis zum 23. Juni, dem Tag der überraschend angekündigten «königlichen Sitzung», keine Beratungen mehr durchzuführen. Graf Mirabeau bekräftigte den Widerstandswillen der Nationalversammlung: «Wir werden nur der Macht der Bajonette weichen.» Daraufhin wiederholte die Versammlung ihre früheren Beschlüsse und beschloss die Unverletzlichkeit ihrer Mitglieder. Das musste auch der Oberzeremonienmeister zur Kenntnis nehmen und verliess rückwärts schreitend den Raum, so wie man sich sonst nur in Gegenwart eines Königs verhalten musste. Frankreich hatte – vorerst – zwei Souveränitäten: den König und die Nationalversammlung.

Hans-Ulrich Thamer ist Professor für neuere Geschichte an der Universität Münster.

*) Députés des communs werden sie wohl schon am Anfang genannt haben, Abgeordnete des gemeinen Mannes, of the commons. JE