Donnerstag, 6. November 2014

Mädchen an der Macht; online.

aus süddeutsche.de, 6. 11. 2014

Plötzlich ein Star

Text: jan-stremmel - Illustration: Daniela Rudolf

Ein 16-jähriger Supermarktkassierer wird über Nacht berühmt - und niemand versteht, warum. Der Wirbel um "Alex from Target" beweist: Die mächtigsten Menschen im Internet sind weibliche Teenager.
 
Für alle, die seit Montag nicht im Internet waren: Ein Junge mit langen Wimpern und guter Frisur ist berühmt. Er heißt Alex. Er arbeitet bei einem amerikanischen Discounter namens Target an der Kasse und trägt dabei ein rotes Shirt und Khakihosen.

Alex hat in den letzten zwei Tagen 591.000 Fans auf Twitter dazugewonnen (Stand: Mittwoch, 16 Uhr), praktisch jeder Fernsehsender in den USA und jedes Internetportal der Welt hat über ihn berichtet.

Warum? Weil sehr viele Menschen bei Fernsehsendern und Internetportalen sich seit Montag am Kopf kratzen: Warum wird ein Junge berühmt, der nicht singt, nicht tanzt, nicht mal Selfies postet? Der überhaupt nichts getan hat, außer Einkäufe in eine Tüte zu packen und dabei fotografiert wurde?

Die kurze Antwort: Weil ein paar tausend Mädchen ihn süß finden. Und weil ein paar tausend Mädchen heute reichen, um aus einem Jungen in Khakihosen einen Star zu machen. Am Sonntag Abend twitterte eine Engländerin mit 14.000 Followern das Foto, als eine der ersten. Sie schrieb dazu: "YOOOOOOOOOO".


Sechs Stunden später war der Junge berühmt. Das Foto hatte sich zigtausendfach verbreitet, wurde mit Mem-Bildunterschriften versehen und in Videos mit lustiger Musik untermalt. Am Montag war der Hashtag #AlexfromTarget der weltweit meistverwendete.

Die lange Antwort auf die Frage "Warum?" führt in eine Welt, die den meisten erwachsenen Internetnutzern bis dato unbekannt war: die Welt der "Fangirls". Fangirls, also Teenager-Mädchen, vereint in ihrer Leidenschaft für einen Künstler oder eine Band, sind aktuell "die mächtigste und unterschätzteste Kraft" im Internet. So hat das die Washington Post am Dienstag als erste diagnostiziert.

Alex hat seinen Ruhm dieser Gruppe zu verdanken. Sein Foto wurde in den ersten Stunden über bekannte Fangirl-Accounts verbreitet. Vor allem die Fans der zwei populärsten Teenie-Bands der Gegenwart, One Direction und Five Seconds of Summer, machten Alex berühmt.

Vermutlich, weil sich Alex mit seiner Justin-Bieber-Frisur und den weichen Gesichtszügen optisch nahtlos in jede der beiden Bands einfügen würde. Sein Aussehen ist ein Code, den die Fangirls intuitiv verstehen. Deshalb brauchte das Foto auch keine Erklärung außer "YOOOOOOOOOO".
 
Weibliche Teenager waren schon immer die dankbarste Zielgruppe für popkulturelle Trends. Aber heute bestimmen sie selbst, wer berühmt werden darf.
 
Man kann sich die "Fangirls" wie eine millionenstarke Armee vorstellen, die den Großteil des Traffics auf sozialen Medien ausmacht – ohne dass der Rest der Welt mehr als ein leises Hintergrundbrummen davon mitbekäme. Ansatzweise ablesen lässt sich das an den "Twitter-Trends": die Themen, die die Menschen im Netz beschäftigen. Von denen hatte im letzten Monat allein jeder fünfte etwas mit One Direction zu tun (Anlässe: das neue Video, der Starttermin des neuen Videos, der Jahrestag des letzten Albums).

Wenn es um ihre Lieblingsband geht, haben die "Fangirls" unbändigen Ehrgeiz. Sie klicken ein Video Dutzendfach an, um dessen Views in die Höhe zu treiben (übrigens angespornt von den Bands selbst, die mittlerweile genaue Viral-Anleitungen zu ihren Songs mitliefern). Die Fangirls haben die Mechanismen der Aufmerksamkeit im sozialen Netz verstanden. Sie hieven die Schlagwörter zu ihren Idolen bewusst in die Trend-Listen und feiern es als Sieg, wenn sie die Fans der rivalisierenden Band übertreffen.

Vor ein paar Wochen brachen die Fangirls einen Rekord: Mit vereinten Kräften klickten sie 800 Millionen Mal auf die erotische Fan-Fiction-Erzählung eines unbekannten One-Direction-Fans. Die Autorin bekam postwendend einen sechsstellig dotierten Buchvertrag, Paramount kaufte die Filmrechte.

Natürlich behauptete jemand, alles sei seine Idee gewesen. Wäre ja auch zu schön.
 
Die Fangirls machen so was dauernd. Nur nimmt sie kaum jemand wahr. Weil es sich aus Sicht der Erwachsenen bei den meisten "trendenden" Themen bloß wieder um ein Videoclip mit singenden Milchgesichtern handelt. Der Kassierer Alex hat es nur deshalb zu Aufmerksamkeit in den Medien gebracht, weil sich mit ihm die unheimliche Macht der Fangirls zur Abwechslung mal an einem völlig Unbekannten zeigt. Das brachte sogar Ellen Degeneres zum Stutzen, die Alex sofort in ihre Talkshow einlud [s. Kopfbild].

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