Donnerstag, 19. Februar 2015

Unterdrückte Traditionen der römischen Kirche.

Christ Church Cathedral, Oxford
aus nzz.ch, 18.2.2015

«Krypta» von Hubert Wolf
Unterdrücktes aus der Geschichte der katholischen Kirche

von Friedrich Wilhelm Graf

«Wir wissen, dass es an diesem Heiligen Stuhl schon seit einigen Jahren viele gräuliche Missbräuche in geistlichen Dingen und Exzesse gegen die göttlichen Gebote gegeben hat, ja dass eigentlich alles pervertiert worden ist. So ist es kein Wunder, wenn sich die Krankheit vom Haupt auf die Glieder, das heisst von den Päpsten auf die unteren Kirchenführer, ausgebreitet hat. Wir alle – hohe Prälaten und einfache Kleriker – sind abgewichen, ein jeder sah nur auf seinen eigenen Weg, und da ist schon lange keiner mehr, der Gutes tut, auch nicht einer.» Dieses Schuldbekenntnis stammt nicht von irgendeinem selbstkritischen Kleriker der Gegenwart, sondern von Papst Hadrian VI., der es durch einen Nuntius auf dem Nürnberger Reichstag 1523 den Reichsständen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vortragen liess. In Antwort auf jene radikale Kritik der römischen Kirche, speziell des Papstes, die Martin Luther seit 1517 ebenso aggressiv wie erfolgreich verkündet hatte, gab der Papst dem Wittenberger Mönch und Theologieprofessor im Entscheidenden recht. So kündigte er tätige Reue und eine umfassende Reform der Kurie an, damit die Kirche ihre verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen könne.

«Selbstanwendung» eines Prinzips

Hubert Wolf, der bekannte Kirchenhistoriker in Münster, erinnert zu Beginn seines Buches über «unterdrückte Traditionen» in der römischen Kirche an Hadrians päpstliche Selbstkritik, um den gegenwärtigen Reformdebatten ein historisches Fundament zu erschliessen. Gern spielt er die subversive Kraft historischer Erinnerung gegen ein Dogma aus, das in Rom als überzeitlich gültig, von Gott selbst geoffenbart verkündet werde, genau gesehen aber nur ein Produkt kontingenter historischer Prozesse sei. Oft wurde und wird in Rom gesagt, dass man dieses oder jenes gar nicht ändern könne und dürfe, weil es nun einmal zur verbindlichen «Tradition der Kirche» gehöre.

Lebt der Protestantismus von der Fixierung auf den Ursprung, das biblische Wort Gottes, so betont der Katholizismus neben der Heiligen Schrift eben auch die kirchliche Tradition als normativ bindende Quelle von Selbstverständnis und Sozialgestalt der Kirche. Dieses genuin römische Traditionsprinzip wendet Wolf nun auf den Traditionsbegriff selbst an. Mit einer ganz konventionellen historistischen Hermeneutik will er zeigen, dass «die Tradition der Kirche» alles andere als in sich stimmig, einheitlich, gar geschlossen ist. Was als von Gott gegeben behauptet wurde, war oft nur interessengeleitete menschliche Erfindung, und viele kirchliche Dogmen dienten bloss dem Zweck, die autoritäre Herrschaft von Klerikern über Laien zu sichern.

Wolfs Kirchengeschichtsschreibung will der dringend gebotenen Reform seiner Kirche dienen: «Alle Ausprägungen der Kirche, ihrer Institutionen, Ämter und Lehren, die sich im Lauf von zweitausend Jahren Kirchengeschichte entwickelt haben, kommen als Reservoir von Ideen für eine heutige Reform der Kirche in Betracht.» So sucht er in der Christentumsgeschichte nach «alternativen Modellen», die der derzeit in der römisch-katholischen Kirche geltenden Ordnung «komplementär an die Seite gestellt werden können». Dabei betont er die innere Vielfalt des Katholischen, die Geschichtlichkeit des kirchlichen Rechts und die hohe Wandlungsfähigkeit theologischer Lehre.

Als Beispiel wählt Wolf die allmähliche Anerkennung von Errungenschaften der Aufklärung, insbesondere der Menschenrechte und der Religionsfreiheit, sowie die «grundsätzliche Wende» im Verhältnis zu den Juden, wofür er jeweils auf das Zweite Vatikanische Konzil verweist. Wenn die Kirche diesbezüglich «ihre Position radikal ändern beziehungsweise reformieren konnte, dann kann sie es – zumindest theoretisch – auch in anderen Bereichen». In der «Krypta» der Geschichte seiner Kirche, also den verborgenen, verschütteten, verdrängten und gezielt unterdrückten Traditionen, will Wolf mögliche Alternativvarianten zu den heutigen Verhältnissen finden. Die Krypta, der unter der Erdoberfläche gelegene verborgene Raum unterhalb des Altars, in dem oft die Gräber von Heiligen lagen, sei bei vielen Kirchengebäuden im Lauf der Zeit zugeschüttet worden. Doch wer hier zu graben beginne, könne schnell viele wunderbare Schätze entdecken.

Aus dem Schutt der Kirchengeschichte holt Wolf Äbtissinnen hervor, die achthundert Jahre lang Leitungsfunktionen mit der jurisdiktionellen Autorität eines Bischofs wahrnahmen, Pfarreien errichteten, Pfarrer einsetzten und Dispens von Ehehindernissen erteilten. Lange Zeit hätten die wohl nicht eigens geweihten Frauen Vollmachten wie ein Bischof gehabt. Auch seien in der alten Kirche die Bischöfe von den Laien gewählt worden. Der päpstliche Absolutismus, die Konzentrierung aller Klerikalmacht in Rom, sei überhaupt erst ein Phänomen der Moderne, speziell des 19. Jahrhunderts. Indirekt plädiert Wolf damit für eine neue Regionalisierung, die mit der Stärkung der Ortsgemeinden auch eine entschiedene Mündigkeit der Laien fördere. Die Kirche müsse nur das von ihr für die Gesellschaft entwickelte Subsidiaritätsprinzip endlich auf sich selbst anwenden. Dann könne sie elementare einheitsstiftende Institutionen in Rom belassen, aber vieles anderes an die Diözesen und Gemeinden freigeben.

Immer geht es Wolf darum, mögliche Analogien zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. In wirklich klarem, gut lesbarem Stil zeigt er am Beispiel der «Williamson-Affäre», also der Rehabilitierung des aggressiv antisemitischen Holocaustleugners und illegal geweihten Bischofs der radikal traditionalistischen Priesterbruderschaft Sankt Pius X. Richard Williamson, wie die Kardinäle von wenigen machtfixierten Akteuren in der römischen Kurie entmachtet wurden. Daraus leitet er «Optionen gegen den autokratischen Führungsstil» ab. Die nostalgische Verklärung der «tridentinischen Messe» sei nur ein Mythos, den freilich ein deutscher Papst für historisch bare Münze genommen habe. Auch dessen Nachfolger, den charismatischen Franziskus im Kleinwagen, stellt Wolf in einen traditionsgeschichtlichen Kontext. Auf zwanzig Seiten zur «Option einer Kirche der Armen» beschreibt er knapp und prägnant, wie die charismatische Gemeinschaft der Anhänger des Franz von Assisi im Lauf der Zeit kirchlich domestiziert wurde. Zur Wahl eines lateinamerikanischen Jesuiten zum Bischof von Rom mit «franziskanischem» Papstnamen fällt Wolf nur die assoziative Formel «Sprengkraft einer Utopie» ein. Er hofft auf die kommende Bischofssynode und weiss zugleich um die alles blockierende Beharrungskraft traditionalistischer Kardinäle.

Zusammenfall der Gegensätze

Hubert Wolf will allerdings keine eigene Reformagenda entfalten. Er sucht nur für ein breiteres gebildetes Publikum – gut lesbar – Prozesse und Strukturen transparent zu machen, die es in der Geschichte der lateinischen Kirche einmal gab und die vielleicht als gegenwärtige Reformimpulse genutzt werden können. Allerdings wird darüber noch immer in Rom und nicht am Schreibtisch eines hervorragend informierenden Professors der Kirchengeschichte entschieden. Dies sollte reformgläubige Katholiken und ihre traditionsfixierten Antipoden aber nicht davon abhalten, Hubert Wolfs «Krypta» zu lesen. Alle können dabei lernen, dass «das Katholische» immer schon jene «complexio oppositorum» bedeutete, die für welche Zukunft auch immer höchst vielfältige Optionen eröffnet.

Hubert Wolf: Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte. C. H. Beck, München 2015. 231 S., Fr. 29.90.

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