Sonntag, 29. März 2015

Präkolumbische Klassenkämpfe.


aus scinexx

Teotihuacan: 
Sturz durch innere Konflikte?
Ehrgeiz der Zwischeneliten ließ Spannungen in der Megastadt eskalieren

Fall einer Megacity: Teotihuacan, vor rund 2.000 Jahren eine der größten Städte der Welt, zerbrach vermutlich an inneren Konflikten. Ursache dafür waren offenbar wachsende Spannungen zwischen der herrschenden Elite und den ehrgeizigen Anführern der einzelnen Stadtviertel, wie Forscher herausfanden. Diese Zwischeneliten förderten möglicherweise auch Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der multiethnischen Stadt.

Heute ist Teotihuacan ein Ruine in der Nähe von Mexico Stadt, aber kurz nach Christi Geburt lag hier eine der größten Städte der Welt: Bis zu 125.000 Einwohner hatte das Zentrum dieser bis heute rätselhaften indianischen Hochkultur. Denn schriftliche Zeugnisse gibt es nicht. Bekannt ist aber, dass gleich zwei Vulkanausbrüche die Stadt groß machten: Eine Eruption des nahegelegenen Popocatepetl im ersten Jahrhundert führte zur Gründung der Stadt, ein Ausbruch des Xitle-Vulkans im Süden brachte im Jahr 320 weitere Flüchtlinge nach Teotihuacan.

Multiethnischer Schmelztiegel

"Dadurch wurde die Stadt zu einer multiethnischen, inklusiven Gesellschaft, in der Menschen aus anderen Regionen Mittelamerikas als qualifizierte Handwerker arbeiteten und lebten", erklärt Linda Manzanilla von der Autonomen National-Universität Mexiko. Die Zuwanderer stellten unter anderem begehrte Luxusgüter für die Elite der Stadt her, darunter Kleidung und Edelstein-Schmuck, sie wurden aber auch als Hausbauer, Musiker und Krieger geschätzt. "Diese Gesellschaft profitierte von dem Wissen, dem technischen Können und der Erfahrung, die die Einwanderer in die Stadt brachten", so Manzanilla.

Handwerkskunst der Stadtbewohner

Wie das Zusammenleben in der Megacity damals ablief und welche Rolle die multiethnische Gesellschaft für Blüte und Niedergang von Teotihuacan spielte, hat Manzanilla gemeinsam mit ihrem Team durch Ausgrabungen, Isotopenanalysen von Knochen der gefundenen Skelette sowie DNA-Analysen untersucht. Sie konzentrierte sich dabei vor allem auf Teopancazco, eines der Stadtviertel von Teotihuacan.

Ehrgeizige Viertelsführer

Aus den Daten geht hervor, dass die Bevölkerung von Teotihuacan damals zwei Formen gesellschaftlicher Organisation besaß: Es gab eine herrschende Elite, die den Fernhandel kontrollierte und ein exklusives Netzwerk von Reichen bildete und es gab die weitgehend autonom organisierten Stadtviertel, in denen das Handwerk dominierte.

Oft arbeiteten dort vor allem Zuwanderer unter eher ärmlichen und schlechten Bedingungen – mit einigen Ausnahmen. "Einige der Handwerker erhielten Status und vielleicht auch wirtschaftliche Macht", wie Manzanilla berichtet. Sie vermutet, dass jedes Viertel von einer eigenen intermediären Elite angeführt wurde – wohlhabenden Zwischenhändlern und Handwerksmeistern, die nach mehr Einfluss strebten.

Gräber enthaupteter Männer

Innere Konflikte

Doch genau dies könnte auf Dauer zu Konflikten geführt haben: Denn die Anführer der Viertel wollten mehr Macht und mehr Geld und trieben dafür auch den Wettbewerb zwischen sich voran. "Dieser Wettbewerb führte zu einer hochkomplexen Gesellschaft in Teotihuacan – aber einer mit inhärenten Konflikten", so Manzanilla. Denn der Ehrgeiz dieser Zwischeneliten könnte die Menschen auch dazu angestiftet haben, sich gegeneinander und gegen die Herrschenden aufzulehnen.

Hinweise auf innere Unruhen gibt es tatsächlich: Um 750 wurden zentralen Verwaltungsgebäude und rituellen Stätten entlang einer der Hauptstraßen von Teotihuacan niedergebrannt, Skulpturen in Palästen wurden umgestürzt. "Es gibt aber keine Anzeichen für eine Invasion", so Manzanilla. "Wir interpretieren dies daher als eine Revolte gegen die herrschende Elite, vielleicht als Reaktion darauf, dass diese zu spät eingriffen, um den ehrgeizigen Strategien der Zwischeneliten Einhalt zu gebieten." (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2015; doi: 10.1073/pnas.1419881112)

(PNAS, 17.03.2015 - NPO)

Freitag, 27. März 2015

Die Kultur begann mit dem Fest.

aus Der Standard, Wien, 26.3.2015                                                      Seibal

Wie die Maya sesshaft wurden: 
Bleiben, wo gefeiert wird
Die präkolumbische Hochkultur ist für ihre Bautätigkeit berühmt. Diese setzte offenbar bereits ein, bevor sich eine sesshafte Gesellschaft etablierte

von David Rennert

Tucson/Wien - Seibal im guatemaltekischen Tiefland war einst eine bedeutende Stadt der Maya: Zu ihrer Blütezeit im neunten Jahrhundert dürfte sie bis zu 10.000 Einwohner gezählt haben. Ihr Ursprung liegt ersten Besiedlungsspuren zufolge freilich schon viel länger zurück, nämlich an die 2000 Jahre.



Wie auch bei andere präkolumbischen Städten ging man bei Seibal bisher davon aus, dass öffentliche Plätze und wichtige Zeremonienbauten erst nach der Sesshaftwerdung der Kultur errichtet wurden. Eine Annahme, die nun ein internationales Forscherteam um Takeshi Inomata von der University of Arizona in einer Studie im Fachblatt "PNAS" anzweifelt: Demnach gibt es deutliche Hinweise darauf, dass öffentliche, rituell bedeutsame Bauten teilweise schon von umherziehenden Jägern und Sammlern errichtet wurden - Jahrhunderte vor deren Sesshaftwerdung. Dies lasse etwa die Entdeckung eines öffentlichen Platzes vermuten, den die Forscher auf rund 950 vor unserer Zeitrechnung datieren.

Bautätigkeit vor Besiedelung

Aus dieser Zeit gibt es fast keine Spuren permanenter Besiedelung der Umgebung. Selbst 250 Jahre später, als die größten Pyramiden und Tempel entstanden, dürfte nur eine kleine Elite dauerhaft in Seibal gelebt haben, so die Wissenschafter. "An der Entstehung dieser Infrastruktur müssen aber viel mehr Menschen beteiligt gewesen sein als die unmittelbaren Bewohner", so Inomata. Der Forscher geht davon aus, dass unterschiedliche Gruppen von Jägern, Sammlern und nomadischen Bauern zusammenarbeiteten und gemeinsam an Festen und Zeremonien teilnahmen, ehe sie sich nach und nach niederließen.

Kultureller Schmelztiegel

Das würde auch einer weiteren gängigen Annahme widersprechen: Nämlich der, dass bereits sesshafte Gruppen mit mobilen Clans in der Region zwar koexistierten, aber wenig kooperierten. "Man sollte meinen, dass zuerst eine entwickelte Gesellschaft entsteht und dann erst die öffentliche Bautätigkeit beginnt - dabei könnte es in vielen Fällen genau umgekehrt sein", meint Inomata. Demnach wäre gerade die Kooperation unterschiedlicher Gruppen über die Jahrhunderte ein entscheidender gesellschaftsbildender Faktor gewesen.

Dieser Prozess war erst 400 bis 300 vor unserer Zeitrechnung abgeschlossen, als die Maya eine vollständig sesshafte Agrargesellschaft bildeten. Freilich entwickelte sich diese in der Folge zunehmend kriegerisch und war streng hierarchisch organisiert - doch ihr Ursprung dürfte in den Worten der Autoren ein "kultureller Schmelztiegel" gewesen sein. 

Abstract
PNAS: "Development of sedentary communities in the Maya lowlands: Coexisting mobile groups and public ceremonies at Ceibal, Guatemala"


Nota. - Auch die Kultstätte von Göbekli Tepe im Südosten der heutigen Türkei wurden von Nomaden errichtet. Sie wurde auch später nicht zum Zentrum einer größeren Siedlung. Auch Stonehenge war keine Ansiedlung, sondern eine Pilgerstätte. Kultische Feste mögen ganz allgemein der Ursprung höherer Kultur gewesen sein. Und auf den Festen wurde gefeiert, wie wir noch heute feiern: mit berauschenden Getränken. Johan Huizinga könnte mehr Recht gehabt haben, als man ihm glauben mochte.
JE

Mittwoch, 25. März 2015

Renaissance-Kongress in Berlin.

aus Tagesspiegel.de, 24. 3. 2015                                                    Der Renaissance-Teil des Berliner Schlosses wird nicht wieder aufgebaut.

Renaissance-Kongress in Berlin
Von Künstlern und Gewaltmenschen

Von Johannes Helmrath

Am Anfang kam Johannes Trithemius. Kurfürst Joachim I. von Brandenburg lud den berühmten Humanisten und Benediktinerabt 1506 an seine Residenz Berlin ein. Ähnlich machte es später Friedrich der Große mit Voltaire. Der Moselaner Trithemius (der aus Trittenheim) hatte im Kloster Sponheim die größte Bibliothek antiker Autoren in Deutschland aufgebaut. Sie war ein Mekka für die gut vernetzte Gruppe der Renaissance-Humanisten. Zum berühmtesten wurde Erasmus von Rotterdam, als Figur von europäischer Bedeutung. Ihre antikefundierte moderne Bildung und Sprachkompetenz verschaffte den Humanisten zunehmend Einfluss in Öffentlichkeit, Schule und Politik.

Was den Hohenzollern Joachim an Trithemius interessierte, waren jedoch weniger die antiken Klassiker als die okkulten Wissenschaften, die weiße Magie, auf die der Abt sich ebenfalls verstand. Trithemius kam – und verließ bald wieder entnervt den tristen Ort. „Die Menschen sind gut“, schreibt er über die Berliner, „aber völlig rau und ungelehrt, dem Feiern und Trinken mehr ergeben als dem Studium der guten Wissenschaften.“ Die Doppelstadt Berlin-Cölln war damals noch nicht Musenhof oder Spree-Florenz. Zwar standen die ältesten, 1442 errichteten Teile des Schlosses schon, auch die schöne spätgotische Erasmuskapelle. Erst im 16. Jahrhundert wurden die mittelalterlichen Teile durch einen Bau im Stile der Renaissance nach Vorbild des Torgauer Schlosses ersetzt. Hier war um 1550 vermutlich auch die erste Kunst- und Wunderkammer eingerichtet, Keimzelle für die großartige Museumslandschaft der Stadt. Spät erst wurde Berlin dann zu einem Zentrum der Renaissance.

Die "Gesichter der Renaissance" zogen 250000 Besucher an

Von der Renaissance geht bis heute eine epiphanische Faszination aus. Städte wie Florenz, Künstler wie Leonardo, Dürer oder Michelangelo genießen Kultstatus. Die „Gewaltmenschen“ der Renaissance wie Cesare Borgia und seine Schwester Lucrezia am Papsthof ihres Vaters, Alexanders VI., sorgen – grell verfilmt – für hohe Einschaltquoten.Auch die Berliner konnten sich diesem Fluidum im Jahr 2011 nicht entziehen, als die Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ 250 000 Besucher magisch anzog.

Und die Wissenschaft ruht nicht: In dieser Woche versammeln sich an der Humboldt-Universität bis zu 4000 Renaissanceforscher aus aller Welt. Anlass ist der 44. Jahreskongress der 1954 gegründeten „Renaissance Society of America“In den USA haben die ‚Renaissance Studies‘ immer noch einen hohen Stellenwert. Alle fünf Jahre verlassen die Amerikaner ihr Land und tagen in Europa. Ob Historiker, Romanisten, Latinisten oder Kunsthistoriker: Sie kommen dieses Mal im Bewusstsein nach Berlin, hier an Ursprünge der Renaissanceforschung zurückzukehren – und zugleich an den Ort einer beispiellosen Renaissance der wiedervereinigten Stadt.

„Renaissance“ – der französische Begriff setzt sich im 19. Jahrhundert durch – bedeutet „Wiedergeburt“, ein kultureller Aufbruch, der seine Kraft aus einer neuartig kreativen Aneignung der Antike, ihrer Texte, ihrer Kunst bezog. Der Humanismus bildet sozusagen eines ihrer aktivistischen Subsysteme. Man bezeichnet mit „Renaissance“ sowohl eine geschichtliche Epoche (von ca. 1300 bis 1600) als auch einen bestimmten Bau- und Kunststil zwischen Gotik und Barock sowie drittens die kulturelle Bewegung und ihren Denkhabitus selbst.

Die großen Individuen und die Kunst wurden zur Mode des Renaissancismus


Der maßgebliche Schöpfer des modernen Renaissancebildes ist Jacob Burckhardt (1818–1897) in seinem grandiosen Portalwerk: „Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch“ (1860). Es liest sich heute frisch wie am ersten Tag. Die Titel der ersten vier „Abschnitte“ sind Programm dessen, was man seither mit „Renaissance“ assoziiert: „Der Staat als Kunstwerk“, „Die Entwicklung des Individuums“, „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“ und „Die Wiederentdeckung der Antike“. Der Basler Historiker begründete eine neue Form der Kulturgeschichte. Die Renaissance bezieht sich nicht nur auf Literatur und Kunst. Sie stellt eine Umwälzung der gesamten italienischen Gesellschaft zur Moderne dar.

Die „Wiederentdeckung der Antike“ steht scheinbar paradox nicht an erster Stelle. Sie gibt dem Ganzen nur die Form. Entscheidend aber sind für Burckhardt die politischen, sozialen und mentalen Dynamiken („Volksgeist“). Nur in Italien konnte der Durchbruch zur Moderne entstehen. Erst von dort strahlte sie auf die anderen Länder Europas aus, auch auf Deutsche wie Trithemius. Burckhardts Wirkung war ungeheuer groß: Die emphatisch bewunderte Renaissance, ihre großen Individuen, ihre Kunst, wurde zur Mode des Renaissancismus. Zahlreiche Autorinnen und Autoren von Paul Heyse bis Isolde Kurz eilten zum Schreiben nach Florenz, Innenarchitekten statteten bürgerliche Wohnzimmer im Renaissancestil aus. Nietzsche schwärmte vom Übermenschen und fantasierte sich Cesare Borgia als Papst, einen Sieg der heidnisch-freien Antike über die sauertöpfischen Reformatoren im Norden.

Für Burckhardt führte die Renaissance direkt zur Französischen Revolution

Was man schon damals leicht übersah, war die skeptische Ambivalenz hinter Burckhardts Renaissancebild. Im Universalmenschen („uomo universale“) sah er weniger das vollkommene als „das entfesselte Individuum“, das „keine Grenzen“ mehr kennt. Exponenten dieser Individuen waren ihm die neuen skrupellosen Stadtherren wie die Visconti und Malatesta, aber auch die Humanisten, die er als haltlose Intellektuelle und erste Journalisten zeichnet. Diese „Moderne“ führt direkten Wegs zur Französischen Revolution, die Burckhardt fürchtete.

Sein Renaissancebild wurde stark relativiert, vor allem der angebliche Bruch mit dem Mittelalter gemildert. Die Diskussion um das Wesen jener „Wiedergeburt“ begann freilich schon bei den Zeitgenossen wie Petrarca im 14. Jahrhundert. 1948 sah der amerikanische Forscher Wallace Ferguson bereits „five centuries of interpretation“ über die Renaissance am Werke. Und sie geht weiter, allemal auf dem Berliner Kongress.

Prägende Spaziergänge im märkischen Sand

Ohne Berlin wäre die „Cultur der Renaissance“ wohl kaum denkbar. 1839–43 studierte Burckhardt an der berühmten, 1810 gegründeten Universität Unter den Linden. Hier empfing er entscheidende Prägungen. Zu seinen Lehrern zählten der Historiker Leopold von Ranke, ein Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, und Franz Kugler, der als Historiker an der Kunstakademie lehrte. Von ihm lernte der junge Burckhardt viel über Kunst, am meisten bei Spaziergängen durch den märkischen Sand, die Kugler wegen seines Übergewichts häufig unternahm. 1872 erhielt Burckhardt sogar einen Ruf nach Berlin auf die Professur Rankes. Die Renaissanceforschung hätte hier womöglich einen anderen Weg genommen, doch der Weise von Basel lehnte ab. Er dachte gar nicht daran, in die hektisch boomende Kapitale des Kaiserreichs zurückzukehren, das ihm Inbegriff des verabscheuten Machtstaats jener Moderne war, die in der Renaissance begonnen hatte.

Burckhardt hatte zwar sein Meisterwerk vorgelegt, aber damit keine Wissenschaft begründet. Renaissanceforschung wurde vor 1945 nirgendwo ein eigenes, institutionell verankertes Fach. Sie wurde von einzelnen interessierten Historikern, Philologen, Kunsthistorikern betrieben, oft von Außenseitern. In Berlin fanden sich freilich besonders viele Renaissance-Gelehrte. Schon früh waren hier Kunstgeschichte und Archäologie eng mit den Museen und Sammlungen verbunden, etwa mit dem 1830 eröffneten, von Friedrich Schinkel nach antiken Modellen komponierten Alten Museum. Wilhelm Bode gründete 1904 das Kaiser-Friedrich-Museum (heute Bode-Museum).Innovativ kreierte er Kontext-Interieurs, in denen Gemälde, Skulpturen, Möbel und Teppiche der Renaissance zusammen arrangiert wurden. Herzstück des Museums ist die sogenannte Basilika. Sie imitiert das Langhaus einer Renaissancekirche in Florenz. Hier wird der große Kongress intern eröffnet. Es gibt dafür keinen würdigeren Ort.


Bode-Museum, Große Kuppelhalle

Kämpfe der Gegenwart werden in die Epoche projiziert  

Auf Florenz, freilich auf das politisch-republikanische, bezog sich auch der junge Historiker Hans Baron (1900–1988). Im Berliner Milieu der zwanziger Jahre, deren Krisen der Intellektuelle seismografisch registrierte, reifte in Baron die Idee zu jener Meistererzählung, die ihn berühmt machte, dem sogenannten Bürgerhumanismus. In der Krise des Jahres 1400, als Giangaleazzo Visconti, der Herrscher Mailands, dabei war, ganz Italien zu unterwerfen, hätten allein die Florentiner heroisch Widerstand geleistet. Das gelang ihnen, so Baron, indem sie antike Texte rhetorisch zum Glühen brachten und daraus republikanische Tugenden und patriotische Tatkraft generierten. So formierte sich das Gemeinwesen im Druck von außen und rettete sich und ganz Italien vor der Tyrannis.

Man sieht heute stärker, wie sehr Baron die Kämpfe seiner eigenen Gegenwart in die Renaissance projiziert hatte: die späte Weimarer Republik, die in der Tyrannei Hitlers versank, eben weil es zu wenig aktive Republikaner gab. Erst 1955, im amerikanischen Exil, hat Baron sein Werk „The Crisis of the Italian Renaissance“ publiziert. Obwohl seine These, was Florenz betrifft, in mancher Hinsicht als „widerlegt“ gilt, bleibt sie die wirkmächtigste der letzten Jahrzehnte.

Vorher hatten in Berlin die Kunsthistoriker Hermann Grimm und Heinrich Wölfflin, der Altgermanist Konrad Burdach und der Historiker Ludwig Geiger gelehrt und Bedeutendes zur Erforschung der Renaissance geleistet. Wie Hans Baron und Paul Oskar Kristeller stammte Geiger aus einem jüdischen Berliner Elternhaus. Für den Sohn des Reform-Rabbiners Abraham Geiger wurde der Humanist und tolerante Hebraist Johannes Reuchlin zum Heros – gleich neben Goethe.

Deutsche Renaissanceforscher werden ins Exil gezwungen

Baron und Kristeller wurden wie so viele andere 1933 in die Emigration gezwungen. Die deutschen Emigranten hatten es in den USA zunächst nicht leicht. Nach 1945 gerieten sie aber in den Sog einer beispiellos expandierenden Kulturpolitik, die gerade „Renaissance-Studies“ förderte. Kristeller etwa wurde in den USA zum erfolgreichen Lehrer (Columbia University), zum weltbekannten „uomo universale“ einer auf Handschriften gestützten Humanismusforschung. Ähnlich fruchtbar wirken konnten der Kunsthistoriker Erwin Panofsky und der Mediävist Ernst Kantorowicz in Princeton, der Philosoph Ernst Cassirer in Yale, der Kirchenrechtshistoriker Stephan Kuttner in Washington und Berkeley. In Deutschland wog ihr Verlust schwer. Die Forschung kam hier nach 1945 nur mühsam in Gang.

Die amerikanischen Schüler Barons und Kristellers kommen nun nostalgisch nach Berlin zurück. Sie treffen auch in der Gegenwart an den Berliner Universitäten auf vielfältige Renaissancestudien: zum Beispiel an der HU auf den bekannten Kunsthistoriker Horst Bredekamp, das Exzellenzcluster „Bild, Wissen, Gestaltung“ und den Sonderforschungsbereich „Transformationen der Antike“ sowie auf das Interdisziplinäre Zentrum „Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit“ an der FU. In vielen der 900 Tagungspanels werden Berliner Forscher ihre Ergebnisse präsentieren. Welch eine Chance!

Der Autor ist Professor für Geschichte des Mittelalters und Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“ an der Humboldt-Universität.


Bodemuseum, Basilica 

Dienstag, 24. März 2015

Auf deutschem Sonderweg.


Wallenstein, nach van Dyck

Eigentlich hätte der Gegensatz zwischen Kaiser und Papst ein Hebel zur Ausbildung einer deutschen Nation sein müssen; wenn es nämlich nur um den Investiturstreit gegangen wäre. Es ging aber viel mehr um die Präsenz des Reichs in Italien, um derentwillen jeder Reichsfürst, der sich gegen den Kaiser stellte, auf einen mächtigen ultramontanen Verbündeten zählen konnte. 

Auf die Spitze getrieben wurde die Sache durch die Reformation, die den habsburgischen Kaiser zum Anführer der katholischen Partei und Gefolgsmann des Papstes machte. Der förderte die faktische Erblichkeit der Kaiserwürde, die aber nicht dem Reich, sondern Österreich zugute kam. Der Kaiser selbst wurde zum Ersten Reichsfeind.

Der Schlusspunkt war der Dreißigjährige Krieg. Die Protestanten holten den Schwedenkönig ins Land, und Habsburg konnte an einem deutschen Cromwell in Gestalt des Militärdiktators Wallenstein kein Interesse haben, so katholisch er sein mochte. Er wurde beseitigt. Im Ergebnis war Deutschland "nur noch ein geographischer Begriff".




Günther Jauch sollte entlassen werden


aus nzz.ch, 23.3.2015, 12:00 Uhr

Griechenland
Günther Jauch sollte entlassen werden

von Matthias Knecht 

Der deutsche Showmaster Günther Jauch hat gegen fundamentale journalistische Standards verstossen. Deshalb sollte ihn die ARD vor die Tür setzen.

Fast wäre dem deutschen Showmaster Günther Jauch ein journalistischer Coup gelungen. Im Fernsehsender ARD spielte er ein Video des griechischen Finanzministers Janis Varoufakis ein. Darin zeigt der für seine provokativen Auftritte bekannte Politiker den Deutschen den Stinkefinger, so scheint es. Die Aufnahme von 2013 trifft den Nerv: Hier die disziplinierten deutschen Zahlmeister, dort die faulen Griechen, die ihre Retter auch noch beleidigen. Kein Wunder, schlugen die Bilder in Deutschland wie eine Bombe ein, zumal Varoufakis seit seinem Amtsantritt im Januar seine europäischen Partner oft vor den Kopf stiess. 

Doch das Video ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Zwar ist es echt (auch wenn eine Satiresendung im ZDF anderes behauptete). Aber Varoufakis’ obszöne Geste reflektiert nicht seine Meinung über Deutschland. Das kann jeder nachvollziehen, der sich im Internet die komplette Aufnahme ansieht. Auch Starjournalist Jauch hätte das tun können und müssen. Sein Beitrag ist darum kein Coup, sondern übelster Kampagnenjournalismus, der das verkorkste Verhältnis zwischen Berlin und Athen zusätzlich belastet. Die ARD sollte darum Jauch vor die Tür setzen, weil er gegen fundamentale journalistische Standards verstossen hat. Nebenbei würde das helfen, die deutsch-griechischen Beziehungen zu verbessern.

Montag, 23. März 2015

Ein Bewusstsein für Europa?

Hans Erni, Europa mit Stier
aus nzz.ch, 23.3.2015, 05:30 Uhr

Gastkommentar
Eine Weltordnung ohne Europa

von Mark Lilla 

Selbstbewusstsein ist ein zentraler Punkt in der Politik, besonders in der Aussenpolitik. Europa aber hat keine Strategie. Europas Standpunkt liegt im Nirgendwo.

Die letzte Weltausstellung fand 2010 in Schanghai statt, und alle Grossmächte waren vertreten. Die meisten – wie China, Russland, Grossbritannien, Frankreich und Saudiarabien – errichteten beeindruckende Pavillons, um zu zeigen, wie erzielte Errungenschaften den Weg in die Zukunft vorgezeichnet haben.

Die Ausnahme bildeten die USA, die es einem Zusammenschluss von multinationalen Konzernen überlassen hatten, ihrer inhärenten Geschmacklosigkeit ein Denkmal zu errichten. Das war peinlich, zeigte aber zumindest deutlich, wo der wahre Ursprung amerikanischer Macht liegt.

Und dann war da auch noch der Pavillon der Europäischen Union – oder vielmehr: der vergleichsweise winzige Bereich des belgischen Pavillons, den man der EU zur Verfügung gestellt hatte. Der erste Raum war vollkommen leer. An den Wänden prangten inspirierende Schlagwörter wie «Solidarität», «Frieden», «Menschenrechte». Und einige eher nüchtern klingende wie «Soziale Marktwirtschaft» und (mein Favorit!): «Artikel 3 des Vertrages über die Europäische Union». Im nächsten Raum hatte man unter der Losung «Offenes Europa» noch mehr Schlagwörter vereint: «Keine Grenzen», «Binnenmarkt» und «Gemeinsame Regeln».

Medial untermalt wurde der Schlagwörterreigen mit einem Video, in dem sich eine Euro-Münze schimmernd um die eigene Achse drehte. Der nächste Raum stand unter dem Motto «Grünes Europa»; ein Video zeigte Europäer, die mit dem Velo zur Arbeit fahren. Ende der Vorstellung! Kein Wort zur europäischen Geschichte, keine Silbe zur Rolle Europas im Weltgeschehen. Am Ausgang erwarb ich für meine Nichte ein Europa-Maskottchen aus Plüsch, einen breit grinsenden goldenen Stern im blauen Overall. Sie hatte keine Ahnung, was das Stück darstellen sollte. Und ich offen gestanden auch nicht.

Die EU und das Habsburgerreich im Vergleich

Beim Verlassen des Pavillons fiel mir unwillkürlich Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» ein. Dort wird im ersten Buch der Protagonist Ulrich Sekretär eines Komitees, das sich ein Konzept für die Feierlichkeiten anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Besteigung des Throns durch Kaiser Franz Joseph ausdenken soll. Natürlich kommt nichts dabei heraus. Die Überlegungen des Komitees bleiben auf komische Weise zwecklos. Alles, was es zustande bringt, ist der Vorschlag zur Gründung einer «Enquête zur Fassung eines leitenden Beschlusses und Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in Bezug auf das Siebzig-Jahr- Regierungs-Jubiläum Sr. Majestät».

Ich versuchte mir vorzustellen, was sich im Brüsseler Planungsausschuss für die Expo 2010 in Schanghai abgespielt hat. Mit welcher Akribie die Beteiligten wohl Schlagwörter wie «Keine Grenzen» und «Artikel 3 des Vertrages über die Europäische Union» gegeneinander abgewogen haben. Ich hoffe, dass auch hier ein junger Ulrich dabeisass und sich Notizen machte, so dass wir uns eines Tages über komische Geschichten rund um den misslungenen Versuch, Europas Rolle in der Welt zu definieren, freuen dürfen.

Ein Vergleich dieses sehr alten Reiches mit dem noch jungen ist durchaus der Mühe wert. Ein Unterschied fällt sofort ins Auge: Anders als das Habsburgerreich hat die EU durchaus Leitlinien entwickelt – sie füllen dicke Nachschlagewerke. Umgekehrt aber hatte das Habsburgerreich etwas, das der EU fehlt. Dieses Etwas gründet sich nicht auf die vielbeschworene ethnische Identität oder einen vagen Verfassungspatriotismus – auch nicht auf den katholischen Glauben. Das Habsburgerreich konnte auf etwas viel Grundlegenderem bauen, das wir politisches Selbstbewusstsein nennen können.

Keine Nation ohne Selbstbewusstsein wird je zur Weltmacht

Selbstbewusstsein ist eine Vorbedingung erfolgreichen menschlichen Handelns. Es ist die Fähigkeit, sich selbst als eigenständiges Wesen zu erkennen, sich Ziele zu setzen und sie in einem bestimmten Umfeld zu verfolgen. Es gibt drei einfache deutsche Sätze, welche die Natur des Selbstbewusstseins besser definieren, als jede philosophische Abhandlung dies vermag: «So bin ich.» – «So will ich.» – «So ist es.»

Selbstbewusstsein ist ein zentraler Punkt in der Politik, besonders aber in der Aussenpolitik. Keine Nation ohne Selbstbewusstsein wird je zur Weltmacht. Das heutige China sieht sich als Erbe einer uralten Zivilisation, die eines Tages wieder zu ihrer alten Grösse zurückfinden wird. Saudiarabien versteht sich als gottgewollter Hüter der heiligsten Stätten des Islam und damit rechtmässiger Führer der muslimischen Welt. Russland begreift sich als leidender Christus der Nationen, während die USA sich als schuldlose Erlöser der Nationen betrachten (und als der Welt grösstes Einkaufszentrum). All diese Selbstbilder dienen natürlich jeweils ganz eigenen Zwecken und sind historisch fragwürdig. Doch ohne solche Selbstbilder verliert eine Nation ihre Richtung. Was diese Länder zu Weltmächten macht, sind nicht Reichtum und Waffen allein. Es ist vielmehr ihr Selbstbewusstsein, das beeinflusst, wie sie ihren Reichtum und ihre Waffen einsetzen.

Was Europa will, gibt es in der Politik nicht

Ich spreche hier ganz bewusst nicht von Identität. Dieser Begriff ist in Europa so emotional aufgeladen – «besetzt», wie Freud sagen würde –, dass es schwierig ist, davon ausgehend eine sachliche und unvoreingenommene Diskussion zu führen. Im Übrigen wurde die Frage nach der Identität der EU bereits beantwortet.

Die Europäer haben in den letzten beiden Jahrzehnten bei jeder sich bietenden Gelegenheit betont, dass sie eben keine monolithische Identität anstreben. Sie wollen sich nicht als ethnische Einheit betrachten. Sie wollen sich nicht kollektiv auf das christliche Erbe oder die koloniale Vergangenheit Europas berufen. Und mit der historischen Katastrophe im Europa des 20. Jahrhunderts wollen sie schon gar nichts zu tun haben. Die Europäer wollen sich nicht einmal als Erben der europäischen Aufklärung sehen, weil sie nicht als provinzlerisch und intolerant gelten wollen. Wenn es nach ihnen geht, liegt der europäische Standpunkt im Nirgendwo. Und dort soll er auch bleiben.

Diese Reaktionen sind nur zu verständlich. Doch in der Politik, vor allem in der Aussenpolitik, gibt es keinen Standpunkt im Nirgendwo. Jede politische Einheit – ob Nation, Staatenbund oder Kaiserreich – hat spezifische Interessen und Notwendigkeiten und muss sich Ziele setzen, um diese erfüllen zu können. Das Habsburgerreich besass ebenfalls keine klar definierte Identität, doch es war sich zumindest einige Jahrhunderte lang so eindeutig seiner selbst und seiner Interessen bewusst, dass es innerhalb seiner Grenzen eine prekäre ethnische Balance aufrechterhalten und seine Macht mit und gegen seine Nachbarn einsetzen konnte. Wenn nun das Habsburgerreich es schaffte, von Wien aus Einfluss auf die Weltordnung zu nehmen, dann sollte doch eigentlich auch die Europäische Union in der Lage sein, von Brüssel aus Ähnliches zu tun. Doch tatsächlich ist nichts weniger sicher als das.

Was ist das Ziel der EU?

Jeder einzelne Politiker, Unternehmer und Intellektuelle, mit dem ich je über dieses Thema gesprochen habe, hat mir auf diese Frage eine andere Antwort gegeben. Es gibt so viele Leitsätze für die EU, wie es Gottesbeweise gibt, vielleicht sogar noch mehr. Die «Entscheidung für Europa» kam mir immer vor wie eine Sonderform der Pascalschen Wette. Wir wissen nicht, was Europa ist oder sein soll, aber uns ist klar, dass die Risiken des Unglaubens grösser sind als die Risiken, die der Glaube an Europa mit sich bringt. Und deshalb haben wir beschlossen, daran zu glauben. Europa ist eine «proleptische Polis», also ein vorweggenommenes Gemeinwesen.

Eben das macht es so schwierig herauszufinden, wo seine Interessen und Bedürfnisse liegen. In den letzten beiden Jahrzehnten hat man sich daher fast ausschliesslich auf die Schaffung einer Wirtschaftseinheit konzentriert, die mit anderen grossen Wirtschaftsmächten wie den USA und China – und bald auch Indien und Brasilien – auf Augenhöhe agieren kann. Dies kann als kollektiver Erfolg gewertet werden, selbst wenn er für einzelne Mitglieder katastrophale Konsequenzen hatte. Aus diesem Grund wollten auch immer mehr Nationen dieser Einheit beitreten und wurden tatsächlich aufgenommen.

«Auch für altgediente Kommunisten ist Geld nicht alles»

Doch keine Weltmacht lebt nur von Wirtschaft und Handel. Allein schon deshalb, weil es immer andere Mächte geben wird, die Wirtschaftskraft nicht als Selbstzweck sehen, sondern als Mittel zu anderen nichtökonomischen Zwecken. Seit der Schaffung der EU hatten die Europäer Probleme, dies zu akzeptieren, und setzten sich nicht selten bewusst davon ab. Doch in vielen Teilen der Welt ist heute ein Verdrängungswettbewerb um die regionale Vorherrschaft entbrannt.

China agiert in seinen Meeren viel aggressiver als früher und will offensichtlich gefürchtet werden. Saudiarabien will den Einfluss Irans und schiitischer Bewegungen im Nahen Osten begrenzen und nicht zuletzt den des IS. Und Russland unter Putin versucht, die Länder an seiner Peripherie in kleine Finnland zu verwandeln.Die Kommentatoren in Europa vermuteten hinter der Übernahme der Krim voreilig ökonomische Motive, da Russland so Zugang zum Mittelmeer erhält. Doch der Guerillakrieg in der Ukraine, der trotz scharfen Wirtschaftssanktionen weiter vorangetrieben wird, zeigt deutlich, dass auch für altgediente Kommunisten Geld nicht alles ist. Stolz und Grösse sowie ein Platz in den Annalen der Geschichte sind schon ein wenig Volkesleid wert.

Obwohl Europa sich zumindest als fähig erwiesen hat, kollektive Sanktionen zu beschliessen, sehe ich keinen Beleg dafür, dass es sich langfristige strategische Ziele setzt. Das geht zu einem Grossteil auf die Tatsache zurück, dass das Schlagwort von der EU als Wirtschaftsunion den politischen Führern Europas immer noch als Vorwand dient, um die politische Natur der EU unter den Teppich zu kehren und damit auch die Entscheidung darüber, welche Ziele sie verfolgt.

Friedensbewahrung ist kein Zweck an sich

Es gibt immer noch viel zu viele Ausreden, um sich diese Überlegungen erst gar nicht machen zu müssen. Frankreich und Grossbritannien sind durchaus bereit, ihre militärische Stärke auch international einzusetzen. Sie können sich dabei auf ihre demokratischen Institutionen und ihre Kolonialgeschichte stützen. Deutschland hat in der Ukraine einmal mehr gezeigt, dass es diplomatisches Gewicht in die Waagschale werfen kann, wenn es darum geht, Krieg zu vermeiden. Sollte die Lage komplizierter werden, treten Nato und Uno auf den Plan. Doch so, wie die Führung der EU zurzeit strukturiert ist, mit ihren Institutionen und ihren Grundprinzipien, ist es kaum vorstellbar, dass Europa als Ganzes eine Strategie entwickeln und sie autonom durchsetzen könnte. Das Bewahren des Friedens allein zählt da nicht – denn dies ist in der internationalen Politik Mittel zum Zweck, nicht Zweck an sich.

Der Grund für die Führungsschwäche der EU ist letztlich die ungewöhnliche Art, wie sich die Institutionen der EU entwickelt haben und heute noch funktionieren. Wir wissen, dass autoritäre Regime in der Aussenpolitik ihre Macht effektiv einsetzen können, weil ihre Führer alle nötigen Freiheiten dazu haben. Wir wissen, dass demokratische Gesellschaften dies tun können, weil sie die entsprechende öffentliche Unterstützung mobilisieren können. Wir wissen auch, dass kleine Koalitionen vergleichsweise ebenbürtiger Partner für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam in Diplomatie, Handel und Kriegsführung erfolgreich sein können.

Doch die EU passt in keine dieser Kategorien, wir wissen nicht, wie wir sie einstufen sollen. Sie ist mehr als ein Staatenbund und doch weniger als eine Nation oder ein Reich. Sie ist demokratischen Prinzipien verpflichtet, aber ihre Institutionen sind nicht so strukturiert, dass die europäische Öffentlichkeit dadurch das Recht bekäme, über eine gemeinsame Aussenpolitik abzustimmen und im Falle des Nichtgefallens die Regierung abzuberufen. Gleichzeitig sind diese Institutionen nicht autoritär genug, dass ihre Führer ohne Rückversicherung nach Gutdünken handeln könnten. Und jetzt, da die EU entsprechend gewachsen ist, ist nicht einmal mehr die Gefährdungslage für alle Mitgliedstaaten gleich. Irland und Polen zum Beispiel werden die Ukraine-Krise wohl kaum im selben Licht sehen.

Der EU fehlt das grundlegendste politische Selbstbewusstsein

Die Europäische Union ist in der Geschichte der politischen Institutionen vermutlich einzigartig. Nicht, weil sie eine Föderation ist, von denen es im Laufe der Geschichte viele gab. Sondern weil kaum ein anderes Gemeinwesen denkbar ist, das sich als Wirtschaftsmacht selber erschaffen hat, ohne sich gleichzeitig die diplomatischen und vor allem militärischen Mittel zu verschaffen, diese Macht auch zu verteidigen.

Der EU fehlt es am grundlegendsten politischen Selbstbewusstsein: am Sinn dafür, was sie ist und was sie will. Ihre stärksten Mitgliedstaaten – Grossbritannien, Frankreich und Deutschland – betrachten sich als autonome nationale Gebilde und haben als solche Institutionen, die die Ausübung ihrer Macht legitimieren können. Der Europäischen Union aber fehlt es sowohl am Bewusstsein als auch an den Institutionen. Und so scheint es, dass die Weltordnung – wenn es denn so etwas gibt – ohne die EU etabliert werden wird.

Welche Rolle also kann Europa spielen?

Denken wir an Kanada. Kanada hat ein ganz klares Selbstverständnis. Es weiss, dass es keine grosse Vergangenheit, kein historisches Schicksal für sich reklamieren kann. Es versteht, dass all seine Macht vom Nachbarn USA abhängt. Es akzeptiert, dass es für seine Bürger und Einwanderer nicht mehr tun kann, als ihnen ein sicheres Umfeld zu bieten, in dem sie ihre wirtschaftliche Lage verbessern können. Dieser Aufgabe wird der Staat in bemerkenswerter Weise gerecht.

Kanada weiss auch, dass es sich als Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft hin und wieder mit anderen Nationen zu diplomatischen und militärischen Aktionen zusammentun muss. Kanada erklärt seine militärische Macht nicht zum Fetisch, wie die USA es tun. Genauso wenig erhebt es das internationale Recht zum Götzen, wie die Europäer es machen. Kanada ist frei von der Bürde nationaler Identität und historischer Katastrophen und hat daher eine einzigartige Stellung inne: als kleiner, gewitzter und selbstbewusster Bürger der internationalen Gemeinschaft.

In den frühen siebziger Jahren veranstaltete ein kanadischer Radiosender einen genialen Wettbewerb. Zu jener Zeit gab es in den einzelnen Gliedstaaten der USA gerade lebhafte Diskussionen um den coolsten Slogan für die jeweiligen Nummernschilder. Zum Beispiel: «Ich liebe New York» oder: «Virginia – Land der Liebenden». Der Moderator der Radiosendung wollte natürlich etwas Vergleichbares für sein Land haben, für Kanada. Also bat er seine Zuhörer, den folgenden Satz zu vervollständigen: «Es ist so kanadisch wie . . .». Er bekam Tausende Zuschriften, doch die Kanadier sind sich heute noch darin einig, dass der Siegerspruch der beste von allen war. Und der lautete: «Es ist so kanadisch wie unter den gegebenen Umständen möglich.» Vielleicht ist das auch alles, was wir von Brüssel erwarten dürfen und sollten: so europäisch zu sein wie unter den gegebenen Umständen möglich. Das ist doch immerhin etwas. Ein kleines Etwas vielleicht, aber immerhin ein mögliches.

Mark Lilla ist Professor für Geisteswissenschaften an der Columbia University, New York City, und Fellow am Institut d'études avancées in Paris. Grundlage des Beitrags ist sein Referat am NZZ-Podium Berlin vom 17. März zum Thema «Weltordnung ohne Europa».


Nota. - Kanada als Maßstab? Au weia. Das ist die unglücklichste Nation auf Erden. Sie hätten haben können: französische Küche, britische Kultur und amerikanische Technologie. Sie haben: englische Küche, amerikani- sche Kultur und... französische Technologie! So europäisch wie unter den gegebenen Umständen möglich - womöglich mit einem Italiener als Verkehrsminister? Es soll doch besser jeder wuchern mit dem, was er am besten kann. (Auf einen Finanzminister, ich schwör, hab ich mein Lebtag noch nicht mit dem Finger gezeigt.)

À propos. Varoufakis hat einen Vorschlag fürs europäische Selbstbewusstsein, denn wir haben eine große Vergangenheit; er empfiehlt uns ein Zurück zu den Ursprüngen, zum Heiligen Römischen Reich, dem man auch erst nach einem halben Jahrtausend den Beinamen deutscher Nation zu geben wagte. Ein Europa unter deutscher Hegemonie. Es ist weiland ganz gut damit gefahren. Nur für Deutschland war es eine Katastrophe; aber dann für Europa erst recht.
JE


Sonntag, 22. März 2015

Nein, es wird nicht immer alles nur schlimmer.

aus Tagesspiegel.de, 21. 3. 2015                                                                                                            Jacques Callot

Die Zeiten sind besser, als wir denken
Katastrophen, Krieg und Kriminalität beherrschen die Medien. Dabei ist es der Menschheit noch nie so gut gegangen wie heute. Ein Kommentar.


von 

Am 13. Oktober 1660 wohnte der Londoner Staatssekretär Samuel Pepys einer Hinrichtung bei. Ein gewisser Generalmajor Harrison wurde gehängt, geschleift und gevierteilt. Harrison sah dabei „so munter aus, wie es für einen Mann in diesem Zustand möglich ist“, notierte der kultivierte Gentleman Pepys mit maliziöser Ironie in seinem Tagebuch. Das Hängen war dabei nur der erste Teil der Prozedur. Nachdem der arme General dies überlebt hatte, wurde er ausgeweidet und kastriert, seine Eingeweide vor seinen Augen verbrannt und er schließlich geköpft. Das Publikum reagierte mit „lauten Freudenschreien“, protokollierte Pepys, der danach mit Freunden in eine Taverne einkehrte und sich Austern schmecken ließ.

Die grausigen Hinrichtungsvideos des Islamischen Staats würden einen Londoner des Jahres 1660 vermutlich wenig beeindrucken. In der Gegenwart rufen sie, allen voran die Verbrennung des jordanischen Piloten Moaz al-Kassasbeh, überall Entsetzen und Empörung hervor. Vermutlich hat der IS mit diesen Gräueltaten sein Schicksal besiegelt. Die einmütige Reaktion der Weltgemeinschaft zeigt, wie tiefgreifend sich das Verhältnis zur Gewalt gewandelt hat. Was früher für große Teile der Menschheit Alltag war, ist heute für die meisten unerträglich. Empathie besiegt Ideologie.


Statistiken bestätigen das Gefühl. Der Anteil der Menschen, die durch Krieg und Verbrechen ums Leben kommen, ist heute geringer denn je. Kriegerische Auseinandersetzungen, Sklaverei und Folter sind nicht vom Erdball verschwunden, aber von der Regel zur Ausnahme geworden. „Die Zahlen zeigen, dass nach Jahrtausenden von nahezu umfassender Armut und Despotismus ein ständig wachsender Anteil der Menschheit Kindheit und Kindbett überlebt, zur Schule geht, demokratisch wählt, frei von Krankheit ist, die Annehmlichkeiten des modernen Lebens genießt und bis ins hohe Alter überlebt“, schreibt der amerikanische Psychologe Steven Pinker. Kurz gesagt: Den meisten Menschen* geht es besser als jemals zuvor, dem viel geschmähten Fortschritt sei Dank.

Die Menschheit zähmt sich selbst

Trotzdem vermitteln die Medien ein anderes Bild. Sie zeigen unablässig Katastrophen, Konflikte, Kriminalität. Es ist ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Wie mit dem Brennglas vergrößert die Informationsmaschine Internet die Krisenherde. Dass es um üble Ereignisse auf der ganzen Welt geht, ist etwas, was die menschliche Wahrnehmung nicht wirklich begreifen kann. Eigentlich ist sie in einem Mikrokosmos kleiner Gemeinschaften heimisch. Mit den Problemen der ganzen Menschheit konfrontiert, ist sie überfordert. Das globale Dorf erscheint wie ein Hort des Verbrechens. Dabei fällt unter den Tisch, dass es im Weltdorf an den meisten Plätzen friedlich und freundlich zugeht. Hinzu kommt, dass wir von Natur aus auf schlechte Nachrichten geeicht sind. Sie warnen vor Gefahr. Wer sich auf sie einstellt, überlebt.

Der Mensch des Jahres 2015 ist nicht besser als der des Jahres 1660. In ihm hausen die gleichen Instinkte wie ehedem. Aber er hat sich in einem langen Prozess selbst gezähmt, ist weltoffener und vernünftiger geworden. Kain geht nicht mehr mit dem Stein auf Abel los. Er geht zum Anwalt, um sein Recht einzufordern. Und wenn ihn der Hass zu sehr umtreibt, sucht er vorsorglich einen Psychotherapeuten auf, um seine Aggression abzubauen. Goodbye, Steinzeit.

*) (Die meisten Menschen haben jemals zuvor nicht gelebt; denen kann es gar nicht besser oder schlechter gehen. JE)


Donnerstag, 19. März 2015

Hätten Sie's gedacht? Es war wirklich ein Fake.


Der Stinkefinger ist von einem deutschen Satiremagazin hineinmontiert worden (wenn man einem Satiremagazin überhaupt was glauben kann).

*

Also nochmal langsam.

Da war ein Fake, das ist sicher. Nicht sicher ist, wo. Jauch hat die Mittelfinger-Sequenz in stinkiger Weise aus dem Zusammenhang gerissen, und Varoufakis hat seine Entrüstung gefaked. Aber Jauch ist, wie die Welt weiß, nur ein Showman. Wie steht es mit Varoufakis?


Ich verrate Ihnen was. Ich habe Jauch noch nie gemocht.




Dienstag, 17. März 2015

Spinnt Varoufakis?


Nürnberg, Reichsparteitag, Zeppelintreppe

Schäuble meint, kein Mensch in Europa könne ihm sagen, was die griechische Regierung wirklich will. Da hat er Recht. Erstens, weil niemand weiß, wie die Kräfte innerhalb von Syriza wirklich verteilt sind; das muss sich erst noch erwiesen. Aber zweitens, weil die internationale Finanzpolitik eine Sache von einem Tag auf den andern ist. Da muss jeder Beteiligte pokern, und wer pokert, legt seine Karten nicht auf den Tisch, schon gar nicht, wenn er, wie die griechische Regierung, noch gar nicht weiß, welches Blatt er überhaupt hält.

Was man hat, mehr oder weniger, sind die Auffassungen des Wirtschaftstheoretikers Varoufakis. Der stellt sich vor: die Euro-Zone als ein Größeres Deutschland mit Südeuropa als Peripherie. Mit Griechenland - und mit Spanien und Portugal, wohl gar mit Italien und Frankreich - soll dieses Größere Deutschland verfahren wie Westdeutschland nach 1990 mit seinem Beitrittsgebiet: Heut kosten sie uns teuer, doch wenn sie morgen florieren, zahlen sie's uns hundertfach zurück.

Nach dem Marshall-Plan ein Merkel-Plan.

Wenn er das heute den Griechen erzählt, klingt es wie "gegen Berlin". Aber in Frankreich klänge es schon ganz anders... Welche Mehrheit wäre in Europa für solch einen Plan zu haben? Schon: Was geschähe einem Politiker in Deutschland, der das zu seinem Programm machte?

So wie sein Vergleich mit dem Vertrag von Versailles, so hinkt auch diese historische Parallele. Amerika war in den Krieg eingetreten, nachdem das New Deal es mehr schlecht als recht aus der Großen Depression der dreißiger Jahre bugsiert hatte, und der Krieg erwies sich als ein Konjunkturprogramm jenseits aller Keynes' schen Träume; aber dann war er plötzlich zuende, die aufgeblähten Kapazitäten lagen brach, noch ehe England und Frankreich ihre Kredite zurückzahlen konnten. Es war ein Gebot der Selbsterhaltung, dass Amerika den Wiederaufbau Europa betrieb.

Ist es heute ein Gebot der Selbsterhaltung, dass Deutschland den Rest Europas saniert? Wenn es ihm gelänge, in Deutschland selbst eine nennenswerte politische Kraft davon zu überzeugen, käme kein Mensch mehr auf die Idee, Varoufakis für einen Links-Radikalen zu halten. (Ich glaube, er hält sich selbst nicht dafür.)







Montag, 16. März 2015

Woher kommt das Geld?

Schlachtopfer lassen sich als Urform des Geldes begreifen – griechische Vasenmalerei, fünftes vorchristliches Jahrhundert (Werkstatt des Duris). aus nzz.ch,15.3.2015, 05:30 Uhr                              griechische Vasenmalerei, fünftes vorchristliches Jahrhundert (Werkstatt des Duris).

Eine kleine Geschichte des Geldes
Schrecken, Schuld und Schlachtopfer

von Christoph Türcke 

Woher kommt das Geld? Ein Blick in die Kulturgeschichte kann sich vom Wort «Geld» leiten lassen. Es verweist nicht etwa auf Gold, sondern auf Schuld – auf etwas, was Menschen einst höheren Mächten zu schulden und ihnen opfern zu müssen glaubten. Der archaische Ursprung lebt im modernen Geldpriestertum weiter.

Wenn ich mir Geld bei einer Bank leihe, hinterlege ich dort einen Schuldschein, auf dem der geliehene Betrag samt Rückzahlungsmodalitäten vermerkt ist. Aber niemand wird sagen: Die Bank hat eine Anleihe bei mir gekauft. Leihen ist nicht Kaufen. Doch auf dem Weltparkett heisst es: «Die Europäische Zentralbank wird in den nächsten Jahren Staatsanleihen in Höhe von ungefähr einer Billion Euro kaufen.» Als öffnete sie ein dickes Portemonnaie, aus dem sie nach und nach bei nationalen Finanzministerien für diese schwindelerregende Summe Wertpapiere ersteht. Welch eine Irreführung. Die Milliardenbeträge, die da von der EZB in Richtung Staat fliessen, quellen keineswegs aus einem Portemonnaie oder Guthaben; sie treten in dem Moment, in dem sie quellen, überhaupt erst ins Dasein.

Zentralbanken sind Priestergremien. Sie zaubern Papierscheinen oder Pixeln Kaufkraft an. Ob sie das selbst tun oder durch Geschäftsbanken innerhalb eines von ihnen diktierten Kreditrahmens tun lassen, ist eine scholastische Frage. Fest steht, dass Kaufkraft, die vorher nirgends war, durch ihren Beschluss in die Welt tritt. Und Kaufkraft schaffen ist älteste Priestertätigkeit.

Schrecken und Opfer

Das Wort «Geld» kommt nicht, wie viele meinen, von «Gold», sondern vom angelsächsischen «gilt»: Schuld, Geschuldetes. Damit waren zunächst keine privaten Schulden gemeint, sondern etwas, was archaische Kollektive höheren Mächten zu schulden glaubten: Opfer. «Gilde» heisst ursprünglich Opfergemeinde, nicht Handwerkerzunft. Und geopfert wurden nicht Gold- oder Silberstücke, sondern lebendige Wesen, und zwar gerade die unentbehrlichsten: eigene Stammesgenossen und gezähmte Grosstiere. Warum tat man so etwas? Warum versuchte man die schrecklichen Naturgewalten zu besänftigen, sich ihr Wohlwollen zu erkaufen, indem man selbst Schreckliches beging und ausgerechnet Lebewesen schlachtete, die einem am nächsten und liebsten waren?


Das ist anfangs, in der Altsteinzeit, schwerlich absichtsvoll kalkulierte Tat gewesen, eher ein Notwehrreflex. Man suchte den traumatischen Schrecken zu bewältigen, indem man das Schreckliche auf eigene Faust wieder und wieder tat und so das Unerträgliche allmählich erträglich, das Unfassliche fasslich machte. Und diese Wiederholung fiel umso leichter, je mehr sie ritualisiert und mit der Imagination überwölbt wurde, dass die Naturgewalt das schreckliche Schlachten selbst fordert, dass man es ihr schuldet. Dadurch bekam es einen Adressaten, einen Sinn. Es wurde als Begleichung von Schuld interpretierbar: als Zahlung.

Schlachtopfer sind Urwährungen gewesen: stets für ein ganzes Kollektiv verbindlich und repräsentativ. Und weil sie schreckliche Währungen waren, waren sie stets vom Wunsch nach weniger schrecklichen begleitet. Die Geschichte der Zahlungsmittel wird nur als Substitutionsgeschichte verständlich. Kann man nicht ein Menschenopfer durch eine gewisse Zahl von Rindern ersetzen? Ein Rind durch so und so viele Schafe, Ziegen oder Hühner? Lebendige Wesen durch Metallgebilde? Gold und Silber waren immerhin der irdische Widerschein zweier göttlicher Gestirne: Sonne und Mond. Konnte da ein goldenes Kalb nicht lebendige Rinder vertreten? Metallgebilde waren zudem wiederverwendbar. Warum sollten sie, einmal dargebracht, auf ewig im Tempel verharren? Konnten sie nicht, angereichert mit gottgefälligen Zutaten, erneut Opferwilligen zur Verfügung gestellt werden? So wurden sie zum Angelpunkt eines einträglichen Leihverkehrs und zum Kern des Tempelschatzes, der ersten Kapitalakkumulation.

Am Spiess

Münzen sind nicht etwa die Urform des Geld, sondern eine Spätform: das erste durchschlagende profane Zahlungsmittel, entstanden am Rande griechischer Tempel und von ihnen inspiriert. Bei den grossen sakralen Feierlichkeiten stand jedem Teilnehmer ein Anteil am Rinderopfer zu: so viel Fleisch, wie auf seinen Opferspiess («obelos») passte. Und als die Opfergemeinde zu gross wurde? Da bekamen die subalternen Teilnehmer am Opferfest statt ihrer Fleischportion nur noch eine Markierung am Opferspiess. So viel Fleisch, wie die Markierung anzeigte, durften sie sich bei Vorlage des «obelos» aus den Vorratskammern des Tempels holen. Sie kamen also an ihr Fleisch, aber vom festlichen Opferschmaus waren sie ausgeschlossen.

Das war ein Geniestreich des Outsourcings. Den nahmen sich Tyrannen griechischer Stadtstaaten alsbald zum Vorbild. Warum sollten sie selbst für ihre Leibgarde sorgen und sie ständig an ihrer Beute teilhaben lassen? Es war doch viel einfacher, ihr ein Selbstversorgungsmittel in die Hand zu drücken. Und so stellten sie aus ihrem zusammengeraubten Privatschatz, dem Gegenstück des Tempelschatzes, kleine handliche Gold- und Silberscheibchen zur Verfügung, einen Abglanz der Sonnen- und Mondgottheit, und liessen ihnen das Zeichen der Polis aufprägen. Damit wurden sie zu staatlich autorisierten Berechtigungsmarken für ein gewisses Quantum an Lebensmitteln. Mit ihnen konnte die Leibgarde einkaufen gehen.

Metall und Papier

Münzen begannen als Tyrannensold. Aber sobald sie kursierten, dienten sie jedem, der ihrer habhaft wurde, als Zahlungsmittel. Kein Tyrann konnte ihren Umlauf mehr steuern. So schnell, wie sie sich ausbreiteten, vergass sich ihre Entstehung. Ihr profaner Gebrauch liess ihren sakralen Ursprung nicht mehr erkennen; nur ihre Prägung erinnerte noch daran. Sie war zwar ein Staatsakt, aber sie blieb eine Tempelmethode. Sie versiegelte Metall, wie man zuvor schon im Tempel Allerheiligstes versiegelt hatte. Siegel sind Heiligungszeichen. Wer sie versehrt, profaniert geheiligte Autorität.

Kein Mensch, kein Tier, kein Edelmetall ist von Natur aus Geld. Sie mussten stets durch einen Ritus zu Geld gemacht werden. Durch Los-Werfen wurde der Stammesgenosse auserwählt, dessen blutige Darbringung die andern verschonte. Tiere wurden durch Schnitt- und Schmuckzeichen als Opfertiere markiert, Edelmetall wurde geprägt. Erst ein Ritus zaubert Naturdingen Kaufkraft an, und die dafür Zuständigen sind Priester. Das ist im Zeitalter des Papiergelds nicht anders geworden. Papier war jahrhundertelang bloss Anweisung auf Geld: Wechsel, die auf bestimmte Münzbeträge ausgestellt wurden. Geld selbst aber war nur die Münze.

Erst als Ende des 17. Jahrhunderts ein privates Konsortium von Kaufleuten die Bank von England gründete, die sich erbot, die Schulden des Königs zu bezahlen, wenn ihr dafür gestattet würde, diese Schulden in Papier darzustellen und unter königlichem Schutz als nationale Banknoten kursieren zu lassen, da entstand das Modell der modernen Zentralbank – mit dem Privileg, nationales Papiergeld zu drucken. Zunächst nur so viel, wie durch Münzen gedeckt war. Münzen blieben vorerst das «bessere» Geld. Ihre astrale Aura wirkte fort, auch wenn das Papiergeld überhandnahm, weil der globale Geldbedarf durch Münzen nicht mehr zu decken war.

Der lange Abschied vom Edelmetallgeld endete erst 1971, als die USA die Bindung des Dollars ans Gold aufgaben. Seither ist keine Währung mehr durch Edelmetall gedeckt. Währungen sind nur noch Papier oder Pixel – und Münzen nur noch Kleingeld. Zentralbanken sind nicht mehr durch ihre Goldbestände begrenzt. Allein ihr ökonomisches Ermessen entscheidet seither darüber, wie viel Geld sie in Umlauf bringen. Ist das Geld-Erzeugen damit rational geworden? Im Gegenteil; es ist mysteriöser denn je. Edelmetalle haben immerhin von Natur aus eine seltene Konsistenz und Ausstrahlung, die einst dazu einlud, schuldtilgende Kraft – Kaufkraft – in sie hineinzuprojizieren. Profanes Papier ist fast schrankenlos produzierbar und geduldig – bereit, alles aufzunehmen, was auf ihm vermerkt wird, auch Geldbeträge. Im Papier hat die Kaufkraft nur noch einen flüchtigen Erdenrest. Ihre Erschaffung nähert sich dem biblischen Modell der Weltschöpfung an. «Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.» Und die Zentralbank spricht: Es werde Geld! Und es wird Geld.

Seither ist das internationale Geldvolumen explosionsartig angeschwollen. Der Machtzuwachs der Zentralbanken ist enorm. Eigentlich sind sie ja bloss «Nichtregierungsorganisationen», die für eine stabile Währung sorgen sollen. Aber in dieser Rolle sind sie zu Global Players aufgestiegen und in ein ähnlich spannungsvolles Verhältnis zu den politischen Mächten geraten wie einst die mittelalterliche Kirche. Nur die Kirche gewährleistete stabile, streng ritualisierte, für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindliche Vergebungsprozeduren: existenzielle Schuldtilgungsverhältnisse. Auf deren gemeinsamer Basis entwickelte der feudale Alltag seine gestaffelten Herrschaftsverhältnisse. Das Schuldtilgungsmonopol, das allein dem Seelenheil der Gläubigen zu dienen vorgab, diente immer auch der kirchlichen Vorrangstellung gegenüber den weltlichen Mächten.

Jonglierende Zentralbank

Ähnlich bei der Zentralbank. Nur sie ist befugt, Geld zu erschaffen. Dies Geld aber ist Schuld. Es geht als KREDIT an die Geschäftsbanken – und von denen als Kredit in den wirtschaftlichen Umlauf. Kredit freilich ist bloss geliehen und ist wieder zurückzuzahlen, und das an sie zurück überwiesene Geld lässt die Zentralbank wieder in das Nichts zergehen, aus dem sie es bei seiner Erschaffung hervorgezaubert hat. Niemand jongliert so mit Sein und Nichtsein wie die Zentralbank bei der Geldmengenregulierung. Mit dem Geld, das sie erschafft, macht sie alle Geldempfänger in ihrem Wirkungsbereich zu ihren Schuldnern. Die existenziellen Schuldtilgungsverhältnisse von heute verwaltet sie. Sie ist letzte und höchste Verleihinstanz («lender of last resort»).

In dieser Rolle «kauft» nun die EZB in Milliardenhöhe Staatsanleihen. Soll heissen, sie leiht den Staaten Geld. Das tut sie aber gar nicht direkt. Laut Gesetz darf das von ihr erschaffene Geld nur über Geschäftsbanken auf den Markt und in die Staatskasse fliessen. Faktisch schafft sie also Kredit für private Geldinstitute. Sie füttert den Finanzmarkt – jenes dezentrale globale Gebilde, das seit der Erschaffung ungedeckten Papiergelds in den 1970er Jahren wie ein Hefeteig aufgegangen ist. Die EZB «kauft» Staatsanleihen lediglich um die Ecke. Der Staat nimmt den von der Zentralbank in Aussicht gestellten Betrag bei Geschäftsbanken auf, die ihn dann sogleich von der Zentralbank ersetzt bekommen.

Menetekel Kirche

Das geht aber nur, wenn die Geschäftsbanken mitspielen. Das Geschäft muss lukrativ für sie sein. Von ihrem Wohlwollen wird die Zentralbank abhängig. Sie erschafft nicht mehr nur das Geld, das den wirtschaftlichen Umlauf ermöglicht; sie begibt sich eigens als Akteur auf den Markt und setzt sich selbst der Eigendynamik aus, die das von ihr geschaffene Geld dort gewinnt. Warum sie das tut? Nun, in der Not der Bankenkrise von 2008 war der Finanzmarkt unversehens zum Verleiher letzter Instanz geworden. Das aber ist der Job der Zentralbank. Sie will ihn exklusiv zurückgewinnen. Deswegen setzt sie ihr grosses Privileg der Geld-Erschaffung jetzt ein, um den Finanzmarkt zu steuern. Sie begibt sich unter die Marktmächte, um ihnen überlegen zu bleiben.

Hatte die mittelalterliche Kirche nicht etwas Ähnliches getan? Als ihr Aufstieg zur obersten Schuldtilgungsautorität nicht dazu führte, dass sich ihr die weltlichen Mächte dauerhaft fügten, suchte sie ihre geistliche Macht als oberste weltliche Macht zu etablieren. Damit aber leitete sie ihren Niedergang ein. Sie machte sich mit den weltlichen Mächten gemein, wurde eine unter ihnen und ruinierte so gerade ihren Sonderstatus: die priesterliche Autorität. Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber man kann aus ihr lernen. Und manche ihrer Menetekel sind lesbar.

Prof. Dr. Christoph Türcke lehrte bis 2014 Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Soeben ist sein Buch «Mehr! Philosophie des Geld» (im Münchner Verlag C. H. Beck) erschienen.


Nota. - Das ist die Sorte von Feuilleton, auf die Karl Kraus Gift und Galle gespieen hat. Ohne die geschummelte Etymologie wäre der ganze geistreiche Schmarrn hinfällig und witzlos. Die Ableitung des dt. Geld von gelten, vergelten liegt viel näher, beinahe auf der Hand; das sakrale Opfer ist selbst bei engl. guilt an den Haaren herbeigezogen, denn allenfalls handelt es sich selbst da um eine okkasionelle Nebenbedeutung. 

Dass das Feuilleton seinen schlechten Ruf behauptet, muss niemand jucken; höchstens, dass es in der NZZ geschehen musste. Dass aber der Philosophie ein schlechter Ruf angeplätschert wird, ist mehr als ärgerlich; zumal, wenn es in der NZZ geschieht.
JE