Sonntag, 1. März 2015

So ist der Westen.

aus nzz.ch, 26.2.2015, 08:39 Uhr                                                                                  Henri Rousseau, Carmagnole

Dritter Band von H. A. Winklers «Geschichte des Westens»
Das große normative Projekt
Im dritten Band seiner Geschichte des Westens sieht Heinrich August Winkler in der Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstkorrektur ein zentrales Charakteristikum der transatlantischen Wertegemeinschaft.

von Thomas Speckmann

Was hätte wohl Max Weber über das neue Werk von Heinrich August Winkler gesagt? So ganz «wertfrei», wie Weber sich das vorgestellt hat, geht es in den wissenschaftlichen Arbeiten Winklers jedenfalls nicht zu. Webers Forderung nach Wertfreiheit in den Wissenschaften lag das Argument zugrunde: Zur Beantwortung der Frage «Was ist in der Welt der Fall?» könne die Antwort auf die Frage «Was sollte in der Welt der Fall sein?» nichts beitragen. Dies scheint plausibel, aber Winkler würde den Zusammenhang für sein Forschungsgebiet wohl eher mit einer anderen Beobachtung Webers formulieren: In einem geschichtlichen Raum, in dem sich ein prinzipieller Konsens darüber herausbildet, was in der Welt der Fall sein sollte, wird diese Einigkeit über Werte durchaus relevant für das, was in der Welt tatsächlich der Fall ist.

Ideen und Verstösse dagegen

Dieser historische Raum prinzipieller Einigkeit – über Menschenrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie, seit zweihundert Jahren «normativ ausformuliert», mit einiger Vorgeschichte seit der Antike – heisst für Winkler der «Westen». Dass er sich selbst diesem Westen zugehörig fühlt, daraus macht der politische Mensch Winkler genauso wenig ein Hehl wie der Historiker Winkler. Diese normative Vorentscheidung ist also gefallen, bevor seine historische Erzählung beginnt. Die Geschichte des Westens ist für Winkler seit 1776 beziehungsweise 1789 eine Geschichte der zunehmenden Verwirklichung des spezifisch westlichen «normativen Projekts», «eine Reihe von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung» jener Ideen des Westens und oft genug eine Geschichte der Verstösse gegen die eigenen Ideale. Winkler verfolgt diese Geschichte im nunmehr dritten Band bis zur Epochenschwelle von 1989. Ein vierter Band wird bis an die Gegenwart reichen. Winkler dürfte durch seine Erzählung des Kalten Krieges einmal mehr ein genaues Gespür dafür entwickelt haben, dass der Westen auch heute eine Zeit erlebt, die von ihm mehr verlangt, als die westlichen Werte nur gesinnungsstark und im Übrigen pazifistisch zu vertreten. Bei Winkler wird deutlich, dass dieser besonders stark in Deutschland ausgeprägte Wunsch, sich herauszuhalten, viel mit dem jahrzehntelangen Einleben in die weltpolitischen Nischen zweier teilsouveräner deutscher Staaten zu tun hat. Winkler hingegen ist einer der wenigen, die bei allen Irritationen und Verstimmungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis, die auch immer wieder den Kalten Krieg prägten, voller Überzeugung und öffentlichkeitswirksam die tiefer liegende transatlantische Wertegemeinschaft betonen. Diese Wertegemeinschaft, die «vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens» – wie Jürgen Habermas es formuliert hat –, ist für Winkler die Lehre aus der deutschen Geschichte, die nach 1945 endlich gezogen wurde.

Mahnung gegen dritte Wege

Allerdings seien die Deutschen immer noch nicht völlig gegen Rückfälle gefeit, mahnt er und appelliert immer wieder an seine Landsleute, die West-Orientierung nicht aufzugeben, sie nicht zu relativieren zugunsten von Neutralismen oder dritten Wegen oder gar einer Rückkehr zu alten Vorstellungen besonderer deutsch-russischer Verwandtschaften und Zusammengehörigkeiten. Es wird heute, in einer Zeit vielfacher antiwestlicher Aggressivität, immer klarer, dass mit dem Untergang des Sowjetkommunismus in der Welt die Feindschaft gegenüber westlichem Lebensstil und Gesellschaftsmodell nicht verschwunden ist. Auch deshalb liegt Winkler nichts ferner als ein modischer Kulturrelativismus. Er hält an der Universalität der Werte des Westens fest und scheut sich nicht, in seinem dritten Band zu formulieren, das «normative Projekt des Westens» sei «ein Ausdruck der universalsten und menschenfreundlichsten Prinzipien aller Zeiten». Dabei entgeht Winkler der Gefahr, die Werte des Westens mit der Praxis des Westens gleichzusetzen. Er sieht die gelegentliche Kluft zwischen beiden – und hält doch gerade als Korrektiv, Kant würde sagen: als regulative Idee, an den Werten der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts fest. Denn er sieht gerade in der Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstkorrektur ein Charakteristikum des Westens – und erfasst damit das Wesen seines Gegenstandes äusserst treffend.

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. C.-H.-Beck Verlag, München 2014. 1258 S., Fr. 59.90.

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