aus nzz.ch, 28.9.2015, 06:00 Uhr
Europa auf dem Prüfstand
Deutschlands Janusgesicht, 1989–2015
von Harold Holmes
Steht Europa ein Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch von 1989 vor dem Kollaps? Der britische Historiker Harold James analysiert die Diskussion, in der die ambivalente Wahrnehmung Deutschlands eine prominente Rolle spielt.
2015 ist eine bizarre Wiederholung von 1989. 1989 war ein Frühling der Völker, 2015 ist das Ende – der graue Herbst – der Illusionen jenes Frühlings. Im August 1989 lösten die über die ungarisch-österreichische Grenze strömenden Flüchtlinge aus Ostdeutschland eine scheinbar unaufhaltsame Dynamik aus, die zur friedlichen Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik, zum Fall des Eisernen Vorhangs, zum Ende der DDR und zum Zerfall der Sowjetunion führte. Im August und September 2015 unterminieren das Leid und die unaufhaltsame Dynamik der an die Grenzen Europas und insbesondere an die ungarisch-österreichische Grenze brandenden Flüchtlingsströme die Legitimität der EU. Könnten die Migrationsströme von 2015 die EU genauso zerstören, wie jene von 1989 das sowjetische System zerstörten?
Was ist Europa?
Die hitzige Flüchtlingsdebatte in Osteuropa dreht sich auch um das Erbe von 1989. Die damalige Revolution war eine klare Absage an die Diktatur des Kommunismus, aber sie war ambivalent im Blick auf das, was folgen sollte. Stärkte sie die nationale Vision eines wiederbelebten polnischen, tschechischen oder ungarischen Staats – oder stand sie vielmehr im Zeichen eines kollektiven europäischen Gedankens und einer grenzübergreifenden Identität? Diese Dichotomie ist aber nur Schein, denn faktisch gehen Europa und die Wiederbelebung des Nationalgedankens Hand in Hand. Der Irrtum, der jener alten Diskussion zugrunde lag, affiziert nun ganz Europa, vor allem, weil die Interpretation dessen, was Europa ist und bedeutet, sich zunehmend auf die Verhandlung der «deutschen Frage» fokussiert.
Die Debatte über das Erbe von 1989 dreht sich ganz besonders um die Erfahrung Deutschlands. In kritischen Momenten der Wendezeit von 1989/90 versuchten führende deutsche Politiker, die Entwicklungen in ihrem Land in einen weiteren europäischen Rahmen einzupassen. Hans-Dietrich Genscher und andere wurden nicht müde, die Formulierung Thomas Manns zu zitieren, dass sie ein europäisches Deutschland anstrebten und nicht ein deutsches Europa. Aber sie machten kaum je deutlich, auf welche Art und Weise Deutschland europäischer werden sollte, und die Empfehlungen, die sie abgaben, waren letztlich sehr deutsch. Aber was ist überhaupt Europa? Und sind Politiker fähig, eine Vision auszuformulieren, die über den Nationalstaat hinausgeht?
Früher sahen manche Europa als metaphysisches Konzept, in dem sich die Probleme der Vergangenheit auflösten und lösten: als Hort der Vergebung und des Heils. Charles de Gaulle dagegen betrachtete Europa im Zeichen eines französisch-deutschen Psychodramas: Er beschrieb die Beziehung der beiden Länder als endlose Geschichte von Verrat und Dekadenz. Das Szenario von Deutschlands Triumph und Frankreichs selbstverschuldeter Unterlegenheit, das de Gaulle 1940 beschwor, feiert derzeit in Europa wieder Urständ. Aber worin liegt die Beziehung zwischen jener grossen Vision von Europa und dem faktischen, aus Reformunfähigkeit und dem Eigennutz der Eliten resultierenden wirtschaftlichen Drama, das Europa in eine bittere Vergangenheit zurückzudrängen droht?
Deutschlands wirtschaftliche Übermacht warf ihren Schlagschatten auf jede Debatte – schon lange vor 1989. Deutschland gerierte sich auch als Vorbild für Europa. 1976, als infolge der Ölkrise die Weltwirtschaft erstmals nach Kriegsende in Schockzustand verfallen war, sprach Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Wahlkampagne vom «Modell Deutschland». Dieser exemplarische Charakter ist heute ausgeprägter denn je – er zeigt sich in Deutschlands Arbeitsmarktreform, den Beziehungen zwischen den Tarifpartnern, dem Ausbildungssystem für Lehrlinge, dem Augenmerk auf Währungsstabilität und Budgetdisziplin («Schuldenbremse» ist, wie «Angst», «Kindergarten» und «Schadenfreude», ein Begriff, der über die deutschen Sprachgrenzen hinaus Verbreitung gefunden hat). Die damit bewusst oder implizit vermittelte Botschaft heisst: Andere Europäer sollten deutscher werden – aber Deutschland wird immer noch definieren, was recht und billig ist. Und alle werden davon profitieren, aber die Deutschen mehr als die andern.
Verschwörungstheorien
So spitzt sich die Debatte auf die Frage zu, ob die Währungsunion faktisch eine Umsetzung deutscher – und nicht in erster Linie europäischer – Interessen war.
Weil der Vertrag von Maastricht nach massiven geopolitischen Verwerfungen ausgehandelt wurde, steht sein Resultat im Licht zweier äusserst wirkungsmächtiger, aber völlig verkehrter theoretischer Sichtweisen. Diese dominieren die gegenwärtige Diskussion über das Wie und Warum beim Beschluss der Einheitswährung; sie befeuern politische Leidenschaften, ohne auch nur das Geringste zu einer Lösung beizutragen. Beide sind nachgerade obsessiv auf die Rolle Deutschlands bei der Durchsetzung der Währungsunion fixiert, und sie stehen einander spiegelbildlich gegenüber: Die eine zeigt Deutschland als durch und durch tugendhaft, die andere lässt es rein bösartig erscheinen.
In der ersteren Variante ist die Währungsunion ein von hohem Geist getragenes europapolitisches Projekt, bei dem man über die ökonomischen Realitäten hinwegsah. Es war nötig, um den Teufelskreis der deutsch-französischen Kriege zu durchbrechen.
Die zweite Variante dagegen portiert die Verschwörungstheorie eines verborgenen deutschen Masterplans: Da Deutschland eine niedrigere Lohninflation als Frankreich und eine wesentlich niedrigere als die Mittelmeerländer hatte, würde eine Einheitswährung mit fixem Kurs dem Land wachsende Importüberschüsse garantieren, für die andere den Preis bezahlen mussten. Im Auge der Kritiker verfolgte Deutschland eine merkantilistische Strategie, die dem Land dauerhafte Kontrolle über die Ressourcen sichern sollte und deren Resultat eine erneute Vormachtstellung Deutschlands in Europa sein würde.
Dass die europäische Elite eine Art fallweises Krisenmanagement betreibt, lässt den Anschein entstehen, die grösseren Zusammenhänge würden bewusst aus dem Blick gerückt; das wiederum ruft den Verdacht hervor, dass die Krisen instrumentalisiert werden.
Die heftigen Gefühle, die im Lauf der nicht enden wollenden europäischen Schuldenkrise aufkamen, schwappen nun über in andere Diskussionen.Deutschlands Reaktion auf die Flüchtlingskrise polarisiert, genauso wie zuvor die Schuldendebatte. Für Kritiker wie etwa den ungarischen Staatschef Viktor Orban hat Deutschland die Krise verschuldet: Seine wirtschaftliche Stärke und seine grosszügige Sozialpolitik entfalteten eine gewaltige Sogwirkung. Marine Le Pen ist der Ansicht, dass Deutschland moderne Arbeitssklaven importiert: Sie nannte Angela Merkel eine «Kaiserin», die dem restlichen Europa ihren Willen aufzwinge – zuvörderst dem glücklosen französischen Präsidenten. In anderen Augen – natürlich denen der syrischen Flüchtlinge, aber auch denjenigen einstiger Kritiker im In- und Ausland (sogar Yannis Varoufakis liess sich die Gelegenheit zu einer Stellungnahme nicht entgehen) – ist Angela Merkel eine Heldin, und ihr zorniger Bescheid an die CSU eine Art neuer Nationalhymne: «Dann ist das nicht mein Land.»
Das neue Deutschland wird genauso hochgejubelt – und dämonisiert – wie einst das alte. Seit 1989 sieht sich Deutschland selbst als weltoffener und flexibler, aber auch vermehrt als moralische Instanz. Doch dieser Moralismus, diese deutsche Überheblichkeit, macht es nicht einfacher, Antworten auf globale Probleme zu finden.
Keine gemeinsame Stimme
Am einfachsten ist es, die Schuld jemand anderem – und zwar ausserhalb Europas – zuzuschieben. Und bis zu einem gewissen Grad ist das auch zulässig: ganz offensichtlich etwa bei Krisen, die ihren Ursprung anderswo haben, wie die amerikanische Hypothekenkrise, die politischen Ausfälle Putins, der Arabische Frühling und der Aufstand gegen Asad. Aber diese Erschütterungen und ihr politisches Fallout riefen in Europa unterschiedliche Reaktionen hervor, und die einzelnen Länder formulierten ihre Politik entlang ganz unterschiedlicher Linien. Die Euro-Krise kann als Konflikt zwischen den wirtschaftspolitischen Visionen Frankreichs und Deutschlands oder zwischen Europas Norden und Süden angesehen werden. Die baltischen Staaten und Polen fühlen sich von Russland in ihrer Sicherheit akut bedroht, Südosteuropa dagegen betrachtet einen möglichen Bruch mit Russland mit Sorge. Osteuropa und Grossbritannien gehen mit der Flüchtlingskrise völlig anders um als Deutschland oder Frankreich.
Als das geeinte Europa im Zenit seines Selbstvertrauens stand, war eine seiner stolzesten Behauptungen, dass es einen stabilen Ankerpunkt für den Rest der Welt bieten würde. Mittlerweile aber wirkt das europäische Modell arg gezaust, und das hat auch negative Implikationen für die Stabilität in anderen kritischen Regionen, etwa in Ostasien oder dem Nahen Osten. Dazu kommen Probleme, die eindeutig hausgemacht sind: die Fehlkonzeptionen oder Strukturdefekte der Währungsunion, die Überalterung in vielen Teilen Europas, die Wachstumsschwäche.
Im modernen Europa gibt es keine schlüssige Möglichkeit, die grundsätzlichen Interessen der Europäer zu artikulieren und in die Politik einzubringen. Doch wäre ein Mechanismus vonnöten, der es erlaubt, diese grösseren Zusammenhänge zu erfassen – eine Art Zoom, der sich von der Fixierung aufs Nationale losreisst und stattdessen Europa als Ganzes ins Bild rückt. Aber wie vermittelt man den Europäern dieses grössere Bild, wie bringt man sie dazu, die Welt nicht mehr primär im Licht nationaler Interessen und eines nationalen Egoismus zu sehen?
In Deutschland wurde die sich wandelnde Dynamik zumindest auf Verfassungsebene wahrgenommen. Nach der Wende von 1990 wurde Artikel 23 des Grundgesetzes, in dem die Wiedervereinigung mit den ostdeutschen Bundesländern präfiguriert war, in einer Weise modifiziert, die Deutschland auf die Mitwirkung bei Aufbau und Entwicklung der Europäischen Union verpflichtet. Mächtige und respektierte Institutionen wie das deutsche Verfassungsgericht und die Bundesbank anerkennen diesen Passus als Einschränkung ihrer Deutungshoheit; sie sind nicht gewillt, um der problematischen nationalen Tradition willen eine europäische Krise zu riskieren.
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und die derzeitige Katastrophe im humanitären Bereich setzen Europa einer harten Belastungsprobe aus. 1989 war ein unvorhersehbarer Schock gewesen; 2015 wissen wir, dass mit zahlreichen weiteren Schocks zu rechnen ist. 1989 lehrte uns, dass der Nationalstaat eine Art psychischer Rückversicherung in unruhigen Zeiten sein kann; 2015 realisieren wir, dass ein weit grösseres Versicherungssystem vonnöten ist. Wie jede Versicherung muss es mit Bedacht aufgebaut und gegen Missbrauch geschützt werden. Aber ohne einen solchen Schutzmechanismus dürfte auch der psychologische Rückhalt, den ein Nationalstaat schaffen kann, nicht mehr genügend tragfähig sein.
Harold James lehrt Geschichte an der Princeton University. Deutschland und europäische Wirtschaftsgeschichte sind Schwerpunkte seiner Studien. – Aus dem Englischen von as.
Nota. - Dass Deutschland doch wieder ein politischer und nicht bloß ein geographischer Begriff geworden ist, ist erst anderthalb Jahrhunderte her. Und weil es so spät kam, als andere den Kuchen schon aufgeteilt hatten, konnte es nur ein problematischer Begriff werden, denn es kam als Störenfried. Man muss ja nur auf die Landkarte schauen: Wenn Deutschland sich stabilisiert, ist es das Kernland dieses Kontinents. Und jetzt hat sich Deutschland stabilisiert.
Soll Deutschland in Europa führend sein? Historisch hieß die Frage so: Deutschland oder Frankreich; oder England; oder Russland... Ausgangspunkt war die Rivalität mehrer Prätendenten. Das ist aber vorüber. Wenn Deutschland in Europa nicht führend ist, wer dann? Eben: keiner. Es ist nicht so, dass mehrere mögliche Wege offenstehen: Die einen wollen hierlang, die andern wollen dalang, mehrere Führungen streiten um den Vortritt, da muss man sich konsensuell auf was verständigen...; sondern es geht entweder voran, und sei's auch nur Schritt für Schritt, oder es stagniert und zerbröselt. Das war in der Schuldenfrage so, das ist mit den Flüchtlingen nicht anders. Die Gefahr ist nicht, dass Deutschland führt, sondern dass es kneift. Man kann nur hoffen, dass Merkel und ihr Finanzminister in der Flüchtlingsfrage mindestens so standhaft bleiben wie bei den Schulden. Das ist die neue Deutsche Frage.
JE