Geringes Wachstum als Normalfall Sind die fetten Jahre vorbei? Ist Wirtschaftswachstum nur eine Episode der Geschichte? Ein bemerkenswertes Buch argumentiert in diese Richtung.
von Gerhard Schwarz
Es
gäbe gute Gründe, sich mit etwas anderem als dem Langfristwachstum der
USA zu beschäftigen. Zum einen blickt man dieser Tage nur ungern in die
USA für Erhellung und Inspiration. Zum anderen sind in der Ökonomie
Langzeitprognosen eine gefährlich spekulative Angelegenheit. Aber das
Buch, das den Anstoss für diese Überlegungen gab, ist von so
aussergewöhnlicher Breite und Tiefe und stammt von einem so bedeutenden
Makroökonomen der USA, Robert J. Gordon, dass man es ernst nehmen muss,
selbst wenn man nicht alles teilt. Gordon beschäftigt sich in «The Rise and Fall of American Growth»
mit der Entwicklung des Lebensstandards in den USA seit dem
Bürgerkrieg, aber mit Anpassungen lassen sich seine Botschaften auch auf
Europa übertragen. Vier davon seien hier reflektiert.
Wachstum als Ausnahme
Erstens
lautet die zentrale These Gordons, mit vielen Statistiken untermauert,
die Zeit zwischen 1870 und 1970 stelle eine einmalige, nicht
wiederholbare Periode in der Menschheitsgeschichte dar. Bis etwa 1770
habe der Lebensstandard während rund 100 000 Jahren praktisch stagniert,
dann habe es eine deutliche Steigerung gegeben, und ab 1870 sei der
Wohlstand geradezu explodiert. Diese Entwicklung sei um etwa 1970 zu
einem Ende gekommen. Seither sei das Wachstum wieder gemächlicher
geworden.
Für Gordon
waren, zweitens, der wirtschaftliche und technische Fortschritt und die
Verbesserung der realen Lebensverhältnisse in diesen einmaligen 100
Jahren deutlich bedeutsamer, als es die klassische Messgrösse des
Bruttosozialprodukts zum Ausdruck bringt. Das ist eine überraschende
These; meist liest man im Gegenteil, die ungenügende Berücksichtigung
negativer Effekte des Wirtschaftens, etwa der Umweltverschmutzung,
zeichne ein zu rosiges Bild des Wohlstands. Gordon bestreitet dies
nicht, hält aber dagegen, die Fortschritte in der Medizin seien
ebenfalls kaum berücksichtigt und würden die negativen Auslassungen mehr
als kompensieren.
Fortschritt ist eine Frage des Ermessens
Ebenso
überraschend ist, drittens, die Behauptung, der technische Fortschritt
habe sich seit 1970 verlangsamt. Das ist eine Frage des Ermessens. Sind
heutige Selbstverständlichkeiten wie fliessendes Wasser bedeutsamer als
die Kommunikationsrevolution des Internets? Hingegen zeigt Gordon klar,
dass sich das Produktivitätswachstum ab 1970 gegenüber den «besonderen
100 Jahren» (1870–1970) markant verlangsamt hat.
In
Verbindung mit der These der Nichtwiederholbarkeit der Ausnahmejahre
führt dies, viertens, zu einem pessimistischen Ausblick für die nächsten
25 Jahre. Gordon erwartet ein Wachstum der Arbeitsproduktivität von 1,2
Prozent jährlich, gegenüber gut 1,6 Prozent in den letzten 45 Jahren
und 2,8 Prozent zwischen 1920 und 1970.
Dramatischer
sieht es beim Bruttoinlandprodukt pro Kopf aus, dessen jährliches
Wachstum sich, wegen einer erwarteten Reduktion der Arbeitszeit, von 2,4
Prozent zwischen 1920 und 1970 auf 0,8 Prozent verlangsamen werde. Das
verfügbare Medianeinkommen schliesslich wird sogar nur um 0,3 Prozent
wachsen, in der «Boomzeit» waren es 2,25 Prozent gewesen. Solcher
Pessimismus ist Liberalen zwar suspekt, aber man wird sich dem Argument
nicht verschliessen können, dass in der Menschheitsgeschichte der
Aufstieg des Westens eine Episode und geringes Wachstum – nicht
Niedergang – möglicherweise den Normalfall darstellt.
Gordon gilt als Star unter den Ökonomen, als renommiertester
Produktivitätsforscher weltweit. Seit 50 Jahren beschäftigt er sich mit
der Frage, was die Effizienz einer Volkswirtschaft und damit auch ihr
Wachstum beeinflusst. Sein Wort hat Gewicht, das macht die Prophezeiung
so bedrohlich.
„Deprimierendster Ökonom des Landes“
Der jüngste Beleg dafür könnte das gerade vorgestellte iPhone SE sein. Apple-Fans zeigten sich enttäuscht über das Gerät, das kaum Neues zu bieten hat. Wenn selbst dem Technologieriesen nichts mehr einfällt, stehen die Zukunftsaussichten offensichtlich nicht allzu gut. Solche
Nachrichten, in Kombination mit Gordons Buch gelesen, haben das
Potenzial, Millionen Amerikaner schaudern zu lassen. „The Rise and Fall
of American Growth“ („Der Aufstieg und Fall des amerikanischen
Wachstums“), heißt das Werk. Die „Washington Post“ nannte ihn den
„deprimierendsten Ökonomen des Landes“. Auf zwei Sätze
reduziert lautet seine pessimistische These: Der technische Fortschritt
hat seinen Zenit überschritten. Die Zeiten des kräftigen
Wirtschaftswachstums sind für die USA und andere führende
Industrieländer vorbei.Das große Wachstum war nur ein AusrutscherViele
Rezensenten haben das 784-Seiten-Buch als neues Standardwerk gelobt,
andere halten Gordon für einen bockigen alten Mann, der die Tragweite
moderner Technologien nicht versteht. Gordon streicht mit der flachen
Hand über den Tisch: „Natürlich macht man sich mit schlechten
Nachrichten nicht nur Freunde.“ Er zuckt die Schultern: „Ich hab mir das
nicht ausgedacht, ich ziehe nur logische Schlussfolgerungen aus den
Daten.“
Gordon
hat minutiös aufgeführt, wie jede einzelne bahnbrechende Erfindung seit
dem 19. Jahrhundert – Verbrennungsmotor, elektrisches Licht,
Sanitäreinrichtungen, Flugzeug – das Leben der Amerikaner verbessert und
die hat. Seinen Berechnungen zufolge wuchs die Wirtschaft zwischen 1891
und 2007 pro Kopf und Jahr durchschnittlich um zwei Prozent. Wenn
die USA künftig noch die Hälfte erreichen würden, könnten sie sich
schon glücklich schätzen, glaubt Gordon. Das bisschen Aufschwung käme
beim Einzelnen aber vermutlich nicht an, sondern würde im überschuldeten
Staatshaushalt oder beim reichsten einen Prozent verschwinden. Er
könnte es auch so sagen: Das große Wachstum seit der industriellen
Revolution war ein Ausrutscher der Geschichte. Es geht abwärts. Nicht
nur in den USA, sondern auch in Europa.
Tech-Industrie hält ihre Versprechen nicht
Die
Menschen in Industrienationen haben sich daran gewöhnt, dass alles
immer besser wird, der Lebensstandard von Generation zu Generation
wächst. Damit ist es jetzt vorbei, sagt Gordon: „Die Generation der
Millennials ist die erste, der es schlechter gehen wird als ihren
Eltern.“ Junge Amerikaner bleiben deutlich länger im Elternhaus wohnen,
haben mehr Probleme, ihre Studienkredite abzubezahlen, heiraten später
und bekommen weniger Kinder.
Er
glaubt, dass die von der Tech-Industrie beschrieene „vierte
industrielle Revolution“ nichts weiter als eine Schimäre ist. Die
sozialen Netzwerke, Apps, Roboter und Computer mit künstlicher
Intelligenz verbesserten unsere Leben nicht im gleichen Maße wie die
großen Erfindungen der Vergangenheit. „Man nimmt das oft
alles als selbstverständlich hin, wie sehr sich unser Alltag in den
vergangenen 150 Jahren verbessert hat“, sagt Gordon. Von Generation zu
Generation. Dieser Raum, sein Büro, wäre vermutlich früher im Winter zu
kalt gewesen, um entspannt darin zu arbeiten, weil es keine
Zentralheizung gab, und im Sommer zu heiß, weil die Klimaanlage noch
nicht erfunden war. Er wäre mit einer holprigen, zugigen Kutsche zur Uni
gefahren statt mit seinem leise dahingleitenden SUV. Seine Tassen hätte
vermutlich seine Frau gespült, die dazu Wasser vom Brunnen ins Haus
geschleppt hätte.
Von der Kutsche zum Boeing-Jet
„Wussten
Sie, dass Frauen im 19. Jahrhundert pro Woche zwei Tage nur mit der
Wäsche beschäftigt waren? Oder dass eine Hausfrau in North Carolina im
Jahr 1885 durchschnittlich 35 Tonnen Wasser 148 Meilen weit getragen
hat?“ Die Emanzipation der Frauen wäre ohne die Erfindung der
Sanitäranlagen, Waschmaschinen und Kühlschränke niemals möglich gewesen,
meint Gordon. Ab 1929 begannen amerikanische Städte
Kanalisationen zu bauen. Die Menschen lebten länger und gesünder,
Krankheiten wie Cholera starben aus. „Bei diesen Erfindungen geht es
nicht nur um Bequemlichkeit, sie haben die Welt verändert.“ Wenn er unterwegs ist und Vorträge hält, zeigt Gordon gerne zwei Fotos: das einer Holzkutsche und das einer Boeing
707. Die Holzkutsche steht für die Reisegeschwindigkeit des Jahres
1900. Damals fuhr man mit einem Prozent der Schallgeschwindigkeit. Die
1958 zugelassene Boeing 707, einer der ersten Langstreckenflieger der
zivilen Luftfahrt, fliegt mit 80 Prozent der Schallgeschwindigkeit.
„Unsere maximale Reisegeschwindigkeit hat sich also in rund 60 Jahren
verachtzigfacht, seitdem aber nicht mehr groß erhöht.“
Gordon mag Facebook nicht
Diesen
Teil seiner Analyse zweifelt niemand an. Die große Frage aber ist, ob
man mit einem Blick in die Vergangenheit wirklich die Zukunft
voraussagen kann. Gordon glaubt daran. Der Professor sagt, dass Computer, Internet, Smartphones oder Dienste wie Facebook
und die Taxi-App Uber das Leben zwar erleichtern. Er glaubt allerdings
auch, dass die größten Erfindungen des Computer-Zeitalters schon hinter
uns liegen. Das berühmte mooresche Gesetz, demzufolge sich die
Rechnerkapazität alle ein bis zwei Jahre verdoppelt, gelte in Zukunft
nicht mehr. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman
schrieb neulich, Gordon sei vielleicht zu alt, um zu verstehen, wie
soziale Medien das Leben der Menschen verändert haben. Gordon gibt offen
zu, dass er kein Technik-Freak ist. Er habe einen Laptop, seit zwei
Jahren auch ein Smartphone und schreibe viele E-Mails, aber Facebook
oder Twitter seien nichts für ihn.
Prominente Unterstützer
Das
wäre vielleicht anders, wenn er und seine Frau Julie – eine promovierte
Dozentin für englische Literatur an der Universität Chicago – Kinder
und Enkelkinder hätten. „Dann gäbe es etwas zu gucken für uns.“ Das
Modernste, das er für die Recherche seines Buches benutzt habe, seien
Post-it-Zettel gewesen, scherzt er. Der
Professor mag schrullig wirken, ganz besonders in dem Moment, als
während des Gesprächs sein iPhone klingelt, er hektisch auf dem Gerät
herumdrückt und etwas peinlich berührt zugibt, dass er auch nach zwei
Jahren nicht herausgefunden hat, wie man bei dem Ding den Ton ausstellt.
Aber man sollte ihn trotzdem ernst nehmen. Bekannte
US-Ökonomen wie Tyler Cowen oder Chad Syverson kommen zu ähnlichen
Schlüssen. Selbst aus dem Silicon Valley bekommt Gordon Unterstützung.
Peter Thiel, einer der wichtigsten Risikokapitalgeber der Tech-Branche,
machte schon 2011 seinem Frust mit einem pessimistischen
Zukunftsmanifest Luft. Der Titel lautete: „Wir wollten fliegende Autos
und haben 140 Zeichen bekommen.“ Twitter-Posts haben maximal 140
Zeichen.
Freund und Kritiker
Gordon
hat allerdings auch viele Kritiker, allen voran Erik Brynjolfsson vom
Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Privat sind die
beiden seit Jahrzehnten befreundet, beruflich treten sie regelmäßig als
Debatten-Gegner auf. Ihr gemeinsamer Ted-Talk aus dem Jahr 2013 wurde mehr als eine Million mal im Internet angesehen. Im
Gegensatz zu Gordon glaubt Brynjolfsson, das „zweite Zeitalter der
Maschinen“ liege noch vor uns. Er hält den Computer für eine ebenso
grundlegende Erfindung wie die Elektrizität und argumentiert, dass sich
in den ersten 30 Jahren nach Einführung des Stroms die Produktivität
zunächst kaum verbesserte, weil Fabrikanten lediglich die Dampfmaschinen
durch elektrische Motoren ausgetauscht hatten. Erst als die
Arbeitsprozesse und die Funktionsweise der Maschinen angepasst wurden,
kam der große Boom. Mit dem Computer-Zeitalter wird es
ähnlich verlaufen, glaubt Brynjolfsson. Die Tech-Industrie befinde sich
am Anfang einer Wachstumskurve, die zunächst sehr flach ansteigt und in
einigen Jahren durch die Decke gehen wird. Eines seiner liebsten
Beispiele ist das selbstfahrende Auto, das Wissenschaftler vor zehn Jahren noch für unmöglich gehalten hatten, und das jetzt schon als Prototyp fährt.
Roboter beherrschen einfachste Tätigkeiten nicht
An
diesem Punkt wird der Professorenstreit zur Glaubensfrage. Gordon ist
überzeugt, der Übergang zum fahrerlosen Auto lasse sich nie und nimmer
mit dem Wechsel von der Kutsche aufs Automobil vergleichen. Brynjolfsson
dagegen träumt von einer Welt, in der es dank der selbstfahrenden Autos
keine Staus, keine Unfälle, und keine LKW- und Taxifahrer mehr gibt. Gordon
findet, Brynjolfsson fehle der nötige Abstand, um die neuen
Technologien nüchtern zu betrachten. Der treibe sich doch ständig im
Silicon Valley rum, schaue sich all die neuen Roboter, den
IBM-Superrechner Watson und die Erfindungen an, an denen Google & Co. in ihren Laboren basteln und sei „begeistert wie ein Kind im Süßigkeitenladen“. Gordon sagt das nicht abfällig, sondern geradezu liebevoll über seinen
Freund. Aber diese Roboter könnten nicht mal einfachste Tätigkeiten wie
Wäsche zusammenlegen. Von wenigen Ausnahmen wie Kassenautomaten im
Supermarkt oder Check-in-Automaten am Flughafen, sagt Gordon, werde die
Arbeit in der Dienstleistungsbranche immer noch von Menschen erledigt.
„Dabei wurde der Computer schon 1942 erfunden.“
Wirbel um die Endzeit-Theorie
Er
behaupte ja keineswegs, es sei gar keine Innovation mehr vom
Computerzeitalter zu erwarten. Das zarte Wachstum werde aber
ausgebremst, unter anderem von der demografischen Alterung.
Gordon,
ein Anhänger der Demokraten, der bei den Vorwahlen für Hillary Clinton
gestimmt hat, kommt aus einer politisch interessierten Ökonomenfamilie.
Seine Eltern Robert Aaron und Margaret berieten als Arbeitsmarktexperten
die Regierung. Sein Bruder David war bis zu seinem Tod ein
marxistischer Wirtschaftswissenschaftler an der New School in New York.
Jeder der Professoren Gordon legte viel Wert darauf, nicht nur im
Elfenbeinturm zu forschen. Der letzte Gordon ist da
genauso. Er freut sich über den Wirbel um seine Endzeit-Theorie. Auf
seine alten Tage ist der weißhaarige Mann mit der Vorliebe für bequeme
Strickpullis und Gesundheitsschuhe auch noch einem breiteren Publikum in
den USA bekannt geworden. Trotzdem glaubt man ihm, wenn er sagt: „Ich
wäre hocherfreut, wenn ich mich irre.“Nota. - Das ist in der Tat bemerkenswert, dass ein Ökonom den Fortschritt nicht einfach am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts misst, sondern an qualitativen Kriterien des Lebensstandards. Und da kommt er ganz richtig zu dem Ergebnis, dass der Fortschritt der Menschheit unter der Herrschaft des Kapitalismus - denn das waren die letzten 200 Jahre - viel größer war, als er sich in Geldwert ausdrücken lässt.Aber quantifizieren will auch Gordon den Fortschritt; nur dass er ihn nicht, wie bei Ökonomen üblich, in den in Geld gemessenen Tauschwerten, sondern in den Gebrauchswerten quantifizieren will, was freilich ein Unding ist. Wie will man den Rückgang von Krankheiten, das bessere und schmackhaftere Essen, die wohlfeile Massenunterhaltung und die zunehmend allen zugängliche Spitzenkultur gegeneinander aufwiegen? Da müsste man schätzen, und das ist eine Sache des Geschmacks (im allerweisteten Sinn). Doch nehmen wir für einen Moment an, die Lebensqualität ließe sich quantifizieren. Wäre nicht anzunehmen, dass es uns irgendwann reicht? Die Soffwechselkapazität der Individuen ist biologisch beschränkt. Zwar ist die Schranke noch lange nicht in aller Welt erreicht, aber die verbleibende Lücke ließe sich auch bei verlangsamten Wachstum nach und nach schließen. Das dauert eine Weile, wenn das jährliche Wachstum des Reichtums das Anwachsen der Bevölkerung nur noch um 0,3 Prozent übersteigt. Aber wie das Längenwachstum der Menschen und auch ihr erreichbares Höchstalter irgendwann an eine natürlich Grenzen stoßen werden, so auch ihr komsumtives Fassungsvermögen.Und dann wird sich zeigen: Die wahre Ökonomie ist gar nicht die unablässige Steigerung des Outputs, sondern - die Ersparnis von Zeit.Das war der eigentliche Auslöser des historischen Wachstum der vergangen zwei Jahrhunderte: die Explosion von Wissenschaft und Technologie, die, indem sie ununterbrochen Arbeitszeit einsparte, Zeit frei machte für - zusätzliche Arbeit: Mehrarbeit. Die Frage an die Industrie 4.0 ist heute gar nicht, ob sie erheblich mehr, auch nicht, ob sie erheblich Besseres produziert. Die Frage nach dem wirtschaftlichen Fortschritt wird sich in der Zukunft daran entscheiden, ob er Arbeitszeit freisetzt, indem er menschliche Arbeit immer überflüssiger macht - und daher nicht in Mehrarbeit verwandelt, sondern in freie Zeit. Und das wird nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern ein kultureller, eigentlich: der kulturelle Forstschritt der Menschheitsgeschichte sein: Wir werden uns nicht mehr darüber streiten müssen, wer wieviel abbekommt, sondern darüber, was wir tun wollen.JE
Was will Putin? Bomben
in Syrien, Panzer in der Ukraine, Konfrontation mit dem Westen:
Wladimir Putin ist die Schlüsselfigur in der internationalen Politik. Er
will Russland wieder zur Supermacht aufsteigen lassen. Sein Plan in
sechs Punkten.
von Lucienne Vaudan und Anja Burri
Syrien: Der verlässliche Verbündete der Araber werden
Die Lage:
Die engen Beziehungen zwischen Russland und Syrien reichen in die
Sowjetzeit zurück. Die Russen sicherten sich so direkten Zugang zum
Mittelmeer, die Syrer profitierten von Militäraufbauhilfe. Seit dem
Ausbruch des syrischen Krieges tritt Russland als Schutzmacht des
Asad-Regimes auf.
Mit seinem
Veto verhindert Moskau regelmässig Massnahmen der Uno gegen den
syrischen Machthaber. Und es unterstützt Bashar al-Asad militärisch,
zuerst mit Waffenlieferungen, seit gut einem Jahr mit geschätzten 13 000
Luftangriffen.
Die russische
Armee verfügt in Syrien über Militärstützpunkte bei Tartus und Latakia,
zwei Städten an der syrischen Mittelmeerküste; Beobachter vermuten
weitere Stationen.
Der Plan:
Die Militärintervention in Syrien ist die erste überhaupt, die die
russische Föderation ausserhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion
unternimmt.
Dass die Position
des syrischen Machthabers Bashar al-Asad seit dem Ausbruch des
Bürgerkriegs 2011 gefährdet ist, beunruhige Russland stark, sagt Ulrich
Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der
Universität St. Gallen: «Wladimir Putin fürchtet sich generell vor
Regimewechseln in autoritär geführten Staaten, denn sie könnten die
bestehende Ordnung gefährden.»
Russland
habe bereits die Revolutionen 2003 in Georgien, 2004 in der Ukraine und
2005 in Kirgistan mit grosser Nervosität beobachtet und in Georgien und
der Ukraine auch militärisch eingegriffen. Gemäss Schmid soll die
russische Infrastruktur in Tartus und Latakia signalisieren: «Das ist
jetzt unser Stützpunkt, wir bleiben hier.»
Zu
dieser Symbolpolitik passe auch das grosse Siegeskonzert nach der
Befreiung Palmyras, an dem Putin ein russisches Orchester vor den Ruinen
der Wüstenstadt auftreten liess. Den Nutzen, den Putin aus dem Einsatz
in Syrien ziehe, überwiege die Kosten, sagt Schmid. Putin wolle sich im
östlichen Mittelmeer einen permanenten Militärstützpunkt sichern und
sich zudem im gesamten arabischen Raum als zuverlässiger Partner
empfehlen.
Der Militäreinsatz
in Syrien zeige auch, dass Russland über Menschenrechtsverletzungen
grosszügig hinwegsehe und den Regimen nicht ständig mit erhobenem
Zeigefinger begegne. «Das kommt bei Staaten wie Ägypten gut an», sagt
Schmid. Da die sunnitischen Golfstaaten traditionell Beziehungen zu den
USA pflegen, müsse Russland zum wichtigsten Verbündeten der Schiiten
werden. Das bedeute, mit Iran zu kooperieren.
Vor
der Aufhebung der westlichen Sanktionen habe die schiitische Macht
keine andere Wahl gehabt, als sich an die Seite von Russland zu stellen.
«Im Moment driftet das Land aber von Putin weg», sagt Schmid. Iran
verfolge eine Politik, die alle Optionen offenlasse. Das führe zu einer
Konkurrenzsituation zwischen dem Westen und Russland in Iran.
Ukraine: Die Nachbarn von der EU fernhalten
Die Lage:
Am Anfang des Konflikts in der Ukraine ging es um die Annäherung des
osteuropäischen Landes an die EU. Die ukrainische Regierung stoppte 2013
unter starkem Druck aus dem Kreml ein Abkommen mit der EU. Es folgten
monatelange Massenproteste, bis im Anfang 2014 der ukrainische Präsident
Wiktor Janukowitsch gestürzt wurde. Wenige Tage später liess Putin die
zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim annektieren.
Im
April 2014 erreichte die Krise schliesslich die Ostukraine: Es folgte
ein Krieg zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und der
ukrainischen Armee. Am 17. Juli 2014 schossen prorussische Separatisten
das Passagierflugzeug MH17 der Malaysian Airlines mit 300 Passagieren
ab. Russland streitet bis heute jede Verantwortung ab.
Die Friedensverhandlungen verlaufen zäh. Der im September 2014 erstmals
ausgerufene Waffenstillstand wird permanent gebrochen. Diese Woche
einigten sich die Kriegsparteien in Berlin auf eine Stärkung der
OSZE-Mission in der Ostukraine.
Der Plan:
Russland habe bereits alles, was in seiner Macht stehe, unternommen, um
eine Integration der Ukraine in die EU und die Nato zu verhindern –
«durchaus mit Erfolg», urteilt Russlandexperte Ulrich Schmid. Präsident
Putin wolle das Land nicht an den Westen verlieren, stattdessen habe er
einen anderen Weg vorgesehen: Die Ukraine soll wirtschaftlich und
politisch näher an Russland rücken – nämlich als Mitglied der
eurasischen Wirtschaftsunion.
Zwar
hat die Ukraine bis heute nicht den Kriegszustand ausgerufen und
spricht lediglich von «terroristischen Aktivitäten» in der Ostukraine,
die man bekämpfen müsse. Aber die Regierung habe die besetzten Gebiete
im Osten nicht unter Kontrolle, sagt Schmid: «So sind weder ein Nato-
noch ein EU-Beitritt in den nächsten 20 Jahren realistisch.»
Putin
sei an einer Lösung des Konflikts gar nicht interessiert. Der Status
quo diene seinen Interessen am besten. Die Situation sei ähnlich wie im
Jahr 2008 in Georgien, das zwei Teilrepubliken verlor, die heute de
facto ein russisches Militärprotektorat darstellen. Laut Schmid bereiten
diese beiden Fälle den drei baltischen Nato-Mitgliedern Bauchschmerzen.
Estland, Lettland und Litauen sähen es am liebsten, wenn das
Militärbündnis permanente Truppen stationieren würde.
Die
Nato zaudere jedoch, weil sie Russland in der angespannten Lage nicht
zusätzlich provozieren wolle, erklärt Schmid. Als Signal setzt die Nato
aber 4000 Soldaten im Baltikum und in Polen ab 2017 auf Rotationsbasis
ein.
Abgeschossene MH17 in der Ukraine.
USA: Die Macht der USA schwächen
Die Lage:
US-Präsident Barack Obama trat vor acht Jahren mit dem Vorsatz an, die
abgekühlten russisch-amerikanischen Beziehungen neu zu beleben. Seit
Putin 2012 ins Präsidentenamt zurückgekehrt ist, dominieren allerdings
Beleidigungen und Belehrungen.
Im
September 2013 stellte Putin Obama in einem Meinungsartikel in der «New
York Times» als überheblichen Kriegstreiber dar. Zuvor hatte Obama ein
Treffen mit Putin platzen lassen – als Retourkutsche für dessen
Weigerung, den US-Whistleblower Edward Snowden auszuliefern. Je mehr
sich die Krisen in Syrien und der Ukraine verschärften, desto
angespannter wurde das Verhältnis der beiden Männer. Bei einem Gipfel
zur Atomsicherheit in Den Haag im März 2014 degradierte Obama Russland
zu einer «Regionalmacht».
Die
neusten Vorwürfe aus den USA betreffen den Präsidentschaftswahlkampf.
Hillary Clinton verdächtigt Russland, das E-Mail-Konto ihres
Wahlkampfchefs gehackt und die Daten der Enthüllungsplattform Wikileaks
zur Verfügung gestellt zu haben. US-Vizepräsident Joe Biden deutete an,
die USA erwögen, sich mit einer Cyber-Attacke auf Russland zu
revanchieren.
Der Plan:
Obama mache kein Hehl aus seiner Geringschätzung für den russischen
Staatschef, Putin habe ihm die Kränkungen nie verziehen, erklärt Experte
Schmid. Die Beziehungen zwischen den USA und Russland seien an einem
Tiefpunkt angelangt, der Zustand erinnere zuweilen an den Kalten Krieg:
«Es gibt aber einen Unterschied zwischen Rhetorik und Realität.»
Der
Westen unterstelle Putin gerne, er wolle die Sowjetunion wiederaufleben
lassen. Eine ideologische Systemkonkurrenz gebe es jedoch nicht mehr,
stellt Schmid fest: «Schon Ende 1999 sagte Putin, der Kommunismus sei
eine Sackgasse.» Gleichzeitig versuche Russland seit zehn Jahren, die
USA als einzig verbliebene Supermacht herauszufordern und eine
multipolare Weltordnung mit mehreren Machtzentren zu installieren.
In
dieser Ordnung sollen neben Russland und den USA auch Japan, China,
Südamerika und Europa eine Rolle spielen. Offiziell gibt sich der Kreml
in Hinblick auf die Präsidentschaftswahl in den USA neutral. «Es liegt
aber auf der Hand, dass ihm ein Präsident Trump lieber wäre», sagt
Schmid. Clinton, die unter Obama bereits Aussenministerin war, würde
vermutlich kaum grösseres Verständnis für Putin aufbringen.
Europa: Den Europäern auch in Zukunft Erdöl verkaufen
Die Lage:
Die Beziehungen zwischen der EU und Russland sind durch die Kriege in
der Ukraine und in Syrien getrübt. Als Reaktion auf Russlands Rolle in
der Ukraine hat die EU Wirtschaftssanktionen und einen Verhandlungsstopp
für ein neues Partnerschaftsabkommen beschlossen. Die Sanktionen wurden
kürzlich verlängert. Die EU ist dennoch Russlands wichtigste
Handelspartnerin.
Russlands Präsident Wladimir Putin reiste diesen Donnerstag zum
Ukraine-Gipfel nach Deutschland.
Der Plan: Obwohl
Russland die Sanktionen deutlich spüre, versuche Moskau die Europäische
Union als Staatenverbund zu ignorieren, erklärt Russlandexperte Schmid.
Mit EU-Vertretern treffe sich Putin nur in Ausnahmefällen. Der Kreml
verfolge eine andere Strategie: Er verhandle nicht mit der EU als
Ganzes, sondern picke sich russlandfreundliche Mitgliedstaaten heraus,
wie etwa die Slowakei, Ungarn, Griechenland oder auch Österreich.
«Die
deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat ein kritisches Verhältnis zu
Putin, lässt den Dialog aber nicht abbrechen», sagt Schmid. So kam diese
Woche in Berlin ein Ukraine-Gipfel zustande, bei dem Putin unter
Vermittlung Merkels und des französischen Präsidenten Hollande mit dem
ukrainischen Präsidenten sprach.
Was
die Bekenntnisse zu einem Friedensplan wert sind, wird sich zeigen. Die
Gaspipelines zwischen Russland und Europa betrachtet Schmid als
Konstante in der sonst angespannten Beziehung. Wie wichtig diese
Handelsbeziehung für beide sei, sehe man auch daran, dass der
Energiesektor nicht von Sanktionen betroffen sei.
Russland
könne nicht so einfach neue Abnehmer für seine Öl- und Gaslieferungen
finden, und umgekehrt sei auch Europa auf die Versorgung angewiesen.
Viele europäische Staaten denken zwar über Alternativen nach, aber diese
Pläne sind laut Schmid nicht ausgereift.
Putin mit dem Griechen Tsipras
Asien: Ein Gegenprojekt zur EU aufbauen
Die Lage:
Putins Prestigeprojekt ist die Eurasische Wirtschaftsunion, die im
vergangenen Jahr gegründet wurde. Sie soll, ähnlich der EU, einen
Binnenmarkt ermöglichen. Gründungsmitglieder sind Kasachstan und
Weissrussland, auch Armenien und Kirgistan gehören dazu. Tadschikistan
und Syrien haben Interesse an einem Beitritt bekundet.
Putin
möchte die Eurasische Wirtschaftsunion politisch vertiefen, um die
russische Vormachtstellung im postsowjetischen Raum wiederauferstehen zu
lassen.
Der Plan: Die
Pläne für eine politische Integration der Eurasischen Wirtschaftsunion
haben nach der Annexion der Krim an Schwung verloren. Kasachstan habe
kalte Füsse bekommen, denn ein Viertel der kasachischen Bürger seien
ethnische Russen, erklärt Ulrich Schmid: «Putin hat gezeigt, dass er mit
der Begründung, die russische Bevölkerung im Ausland zu schützen,
handstreichartig fremde Territorien einnehmen kann.»
Auch
in anderen Mitgliedstaaten sei die Angst vorhanden, von Russland
dominiert zu werden. Ein berühmter Ausspruch von Zar Alexander III.
lautete, Russland kenne nur zwei Verbündete: die Flotte und die Armee.
«Daran hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert », sagt
Schmid.
Russland gehe
höchstens opportunistische Bündnisse ein, wie etwa mit der Türkei, einem
wichtigen Verhandlungspartner im Syrien-Krieg. Oder China, mit dem es
wirtschaftliche Interessen teile: «Im Moment ist die
russisch-chinesische Beziehung ein Zweckbündnis, in dem der Nutzen die
Kosten übersteigt», so Schmid. Aber sobald sich die Rechnung ändere,
werde Russland auch dieses Engagement überdenken.
Wirtschaft und Innenpolitik: Mit Säbelrasseln von Problemen ablenken
Die Lage:
Die russische Wirtschaft kämpft mit strukturellen Problemen: Die
verarbeitende Industrie ist kaum konkurrenzfähig, auch wegen der
Korruption. Die Finanzkrise 2008 traf Russland stark. Die anschliessende
Erholung verdankte die Wirtschaft vor allem den höheren Staatsausgaben.
Auch der Verfall des
Ölpreises macht dem Land zu schaffen: Etwa die Hälfte der
Staatseinnahmen stammen aus Steuern des Öl- und Erdgassektors. Hinzu
kommen die westlichen Sanktionen. Gemäss Internationalem Währungsfonds
schrumpfte die russische Wirtschaft 2015 um rund fünf Prozent.
Das
alles schwächt die Kaufkraft der Russen, wie der «Big-Mac-Index» des
Wirtschaftsmagazins «The Economist» zeigt. Für einen Big Mac in den USA
müssen 4 Dollar 93 gezahlt werden. In Russland kostet er nur 1 Dollar
53.
Der Plan:
Russland könne die wirtschaftliche Durststrecke dank der
vorausschauenden Finanzpolitik in den Jahren 2000 bis 2008 überbrücken,
sagt Experte Schmid: «Damals hatte Russland Reservefonds eingerichtet.
Diese schmelzen nun aber dahin wie ein Schneemann in der Sonne.»
Dafür
verantwortlich sei auch eine Fehleinschätzung: Zwar hatte der Kreml für
die Krim-Annexion einige Sanktionen gegen hochrangige Vertreter der
Regierung einkalkuliert. Doch der Abschuss der MH17 sei ebenso
unvorhersehbar gewesen wie die anschliessende Reaktion der EU,
einheitliche Wirtschaftssanktionen einzuführen.
«Die
russischen Medien spotten über den fehlenden Mozzarella in den
Supermärkten», sagt Schmid. Aber abgesehen davon, dass Reisen in den
Westen um 30 Prozent teurer wurden, mangele es den Russen im Alltag
letztlich an nichts, erklärt der Experte: «Putins Zauberwort heisst
Importsubstitution, die einheimische Wirtschaft soll nun jene Güter
bereitstellen, die nicht mehr importiert werden.»
Innenpolitisch
scheint Putin keine Konkurrenz fürchten zu müssen. Seine Partei
«Geeintes Russland» hat sich in den Parlamentswahlen über drei Viertel
der Mandate gesichert. «Das russische Machtsystem ist stark
personalisiert, Loyalität ist ausschlaggebend», erklärt Schmid Putins
Führungsstil. So habe der Präsident drei seiner Leibwächter zu
Gouverneuren ernannt. Gleichzeitig sei es ihm wichtig, die Fassade einer
Demokratie zu bewahren.
Der
Kreml schaffe es, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf anderes zu
lenken. In den Nachrichten der letzten Wochen drehe sich vieles um die
Armee: Die Entsendung russischer Kriegsschiffe ins Mittelmeer, die
Teilnahme von 5000 russischen Fallschirmjägern an Übungen in Ägypten
sowie die grösste Zivilschutzübung der russischen Geschichte, bei der
die Rettung von 40 Millionen Menschen geprobt wurde.
Kürzlich
liess das Verteidigungsministerium verbreiten, Russland wolle seine
Militärbasen auf Kuba und Vietnam reaktivieren. Schmid erklärt: «Die
Russen hören aus den Medien oft, Amerika wolle nicht, dass sich Russland
‹von den Knien erhebe›. Die militärische Aufrüstung soll die Leute
glauben lassen, dass das keine leeren Worte sind, sondern eine
ernsthafte Bedrohung – und dass Russland gewappnet ist.»
Ulrich
Schmid, 51, ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der
Universität St. Gallen. Seit 2011 koordiniert er zudem ein
internationales Forschungsprojekt zum Regionalismus in der Ukraine und
schreibt regelmässig für die NZZ. Schmid hat Germanistik, Slawistik und
Politische Wissenschaften in Zürich, Heidelberg und Leningrad studiert.
aus nzz.ch, 25.10.2016, 05:30 Uhr revolutionintern Triebkraft der Weltgeschichte
Die Gefahr der frustrierten Jugend
Die
Zukunft lässt sich schwer voraussagen, eines aber scheint gewiss: Wegen
der Bevölkerungsentwicklung und einer automatisierten Wirtschaft muss
sich Europa auf dauerhafte Zuwanderung einstellen.
Kommentar von Christian Weisflog
Dass
die Jugend die rastlose Kraft der Weltgeschichte ist, mag keine
revolutionäre Erkenntnis sein. Von der 68er Bewegung über die
Tiananmen-Proteste in China bis zur Arabellion 2011 waren es stets
Studenten, die gegen die herrschende Elite aufbegehrten. Ungelöst
scheint hingegen das Rätsel, wann der jugendliche Tatendrang zu
positiven Erneuerungen führt oder im Gegenteil in zerstörerische Gewalt
umschlägt.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Historiker Herbert Moller ausgerechnet im bewegten Jahr 1968 einen Essay
mit dem Titel «Die Jugend als Kraft in der modernen Welt»
veröffentlichte. Ein «ungewöhnlich grosser Anteil» von jungen
Erwachsenen trage zur potenziellen Instabilität einer Gesellschaft bei,
erkannte Moller. Mit der französischen Revolution und Hitlers
Machtergreifung wählte er zwei widersprüchliche Beispiele. In beiden
Fällen handelte es sich um sehr junge Gesellschaften. Während die
Revoluzzer in Paris jedoch universelle Rechte wie Freiheit und
Gleichheit einforderten, propagierte das totalitäre Naziregime eine
menschenverachten- de Rassentheorie. Aufgrund stark gesunkener
Geburtenraten wuchs die deutsche Bevölkerung 1933 bereits nicht mehr,
allerdings sorgte die schwere Weltwirtschaftskrise für verbreitete
Jugendarbeitslosigkeit. Dies zeigt zweierlei: Jugendliche Energie kann
sich ideologisch auf sehr unterschiedliche Weise entladen. Ob sie zu
Frustration und Gewalt führt, hängt auch von anderen Stressfaktoren ab.
Blutiger Kampf um Zukunft
Aber
auch wenn demografische Entwicklungen nicht immer alles erklären
können, haben sie doch einen entscheidenden Vorteil. Sie ändern sich
meist nur langsam und erlauben deshalb einen strategischen Blick in die
Zukunft. Das erkannte in den neunziger Jahren auch die CIA. An einer ihrer Konferenzen
präsentierte der Geograf Garry Fuller die Theorie des «youth bulge» –
des Jugend-Bauches. Am Beispiel von Sri Lanka zeigte er, wie die
Bevölkerungsentwicklung die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen
Singhalesen und Tamilen zu unterschiedlichen Zeitpunkten befeuerte. Es
werde kritisch, wenn der Anteil der 15- bis 24-Jährigen auf 20 Prozent
der Gesamtpopulation ansteige. Beträgt zudem der Anteil der Altersgruppe
der 0- bis 14-Jährigen mindestens 30 Prozent, ist von einem anhaltenden
«youth bulge» auszugehen.
Gestützt
auf Fullers Theorie thematisierte der deutsche Völkermordforscher
Gunnar Heinsohn in seinem Buch «Söhne und Weltmacht» bereits 2003 das
demografische Konfliktpotenzial in der islamisch-arabischen Welt.
Heinsohn warnte vor Unruhen, Krieg und Terror, weil es im Nahen Osten
einerseits zu viele Söhne und andererseits zu wenige gesellschaftliche
Positionen gebe, die ihren Ansprüchen genügten. Diese verschärfte
Konkurrenz um Zukunftsperspektiven ist für Heinsohn die Ursache, die
frustrierte Männer nach radikalen Ideologien suchen lässt, um in ihrem
Namen zu töten. Es ist nicht die Ideologie selbst, die zu Gewalt führt.
Auf
den ersten Blick bestätigt der brutale Krieg in Syrien diese Theorie.
Der Anteil der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren lag 2011 bei über
21 Prozent. Allerdings hatten Marokko, Jordanien oder Algerien etwa
ähnlich junge Gesellschaften. Warum ist es dort nicht zum Krieg
gekommen? Die Antwort liegt in Syriens ethnisch-religiösen Spannungen
zwischen Sunniten, Alawiten und Kurden. Spannungen, die vom Regime und
von Teilen der Opposition während Jahrzehnten für ihre Machtkämpfe
instrumentalisiert wurden, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren.
Spannungen, die nun wiederum durch die Rivalitäten der Regionalmächte
Saudiarabien, Iran und Türkei befeuert werden. Hinzu kommt die durchaus
auch ideologisch getriebene Konfrontation (Demokratie contra
Autoritarismus) zwischen den USA und Russland. Der zunehmende russische
Militarismus unter Wladimir Putin zeigt im Übrigen, dass auch
schrumpfende Gesellschaften zu Gewalt neigen können. Grosse
Eroberungszüge sind angesichts der knappen Jugend allerdings schwierig.
Nicht umsonst hat der Kreml den Tod russischer Soldaten gesetzlich unter
Geheimhaltung gestellt.
Ein
grosser Jugendanteil ist wie ein Brennstoff, der je nach Umständen
durch andere Faktoren entzündet oder entschärft wird. Die jugendliche
Energie kann sowohl einen Krieg befeuern als auch eine boomende
Wirtschaft antreiben. Je grösser indes der Nachwuchs ist, desto
schwieriger scheint es, ein friedliches Ventil für ihn zu finden.
Sonderfall Afrika
Die
gute Nachricht für Nordafrika und den Nahen Osten ist, dass die «youth
bulges» abklingen. Entgegen dem verbreiteten Vorurteil ist der Islam
kein entscheidender Faktor für die Geburtenraten. Selbst in Saudiarabien
bringt eine Frau heute im Durchschnitt weniger als drei Kinder auf die
Welt. In der Islamischen Republik Iran fiel die Geburtenrate ab 1985
innerhalb von 15 Jahren von über 6 auf unter 2 Kinder pro Frau. Ursache
dafür war vor allem die bessere Bildung der Frauen sowie eine bessere
Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung der ländlichen Gebiete.
Der
Demograf Youssef Courbage und der Politologe Emmanuel Todd hatten
aufgrund dieser Entwicklung die Arabellion bereits 2007 in ihrem Buch
«Die unaufhaltsame Revolution» vorausgesagt. Eine gebildete, urbane
Jugend geht für moderne Werte – Freiheit, Gleichheit und politische
Partizipation – auf die Strasse. Die Umwälzungen und Kriege sind demnach
bloss «Krisen des Übergangs» und der Islamismus ein verzweifeltes
Rückzugsgefecht der Traditionalisten. Angesichts sinkender Kinderzahlen,
so die Hoffnung, sollten die arabischen Staaten nach dem ostasiatischen
Vorbild nun ihre «demografische Dividende» ernten können. Die jungen
Gesellschaften, die weniger Kinder und alte Menschen versorgen müssen,
können vermehrt in höhere Bildung, Forschung, in Infrastruktur oder
private Unternehmen investieren.
Bis
jetzt jedoch fallen die Früchte der Arabellion sehr enttäuschend aus.
Die eigentliche demografische Zeitbombe – mit der Ausnahme von Pakistan –
aber tickt in Subsahara-Afrika. Es handle sich um eine «einzigartige»
Weltregion, schreibt der auf Afrika spezialisierte Demograf Jean-Pierre
Guengant im neuen Sammelband «Africa's Population», der im Dezember
erscheinen wird. Die Geburtenraten in Schwarzafrika sinken zwar auch,
aber der Abwärtstrend begann später, verläuft langsamer und ist in
einigen Ländern zum Stillstand gekommen. Die Bevölkerung hat sich im
vergangenen Jahrhundert verzehnfacht und wird sich bis 2050 auf rund
zwei Milliarden Menschen verdoppeln.
Der
afrikanische Sonderfall hat viele Ursachen: unter anderem mangelnde
Bildung, landwirtschaftlich geprägte Gesellschaften oder die weitgehende
Abwesenheit von staatlichen Informationskampagnen für Familienplanung.
Aber auch wenn sich diese Rahmenbedingungen verbessern sollten, die
«youth bulges» bestehen bereits. Und sie werden vermutlich gerade dort
zu grossen Konflikten oder Fluchtbewegungen führen, wo die Moderne in
Form von Bildung und Urbanisierung bereits voranschreitet, aber ihre
Versprechen nicht halten kann. In Uganda etwa, wo 68 Prozent der
Bevölkerung jünger als 24 Jahre alt sind und wo jedes Jahr 40 000
Universitätsabgänger um 8000 Stellen kämpfen.
Besorgt sind die Experten auch über Äthiopien, das bisher als
Stabilitätsanker für das ganze Horn von Afrika galt, aber seit
vergangenem November von Unruhen erschüttert wird. Hans Groth, Präsident
des St. Galler World Demographic Forum
und Mitherausgeber des oben erwähnten Sammelbandes, schätzt Äthiopiens
theoretisches Migrationspotenzial in den kommenden Jahrzehnten auf 40
Millionen Menschen.
Im
Vergleich mit den demografischen Übergängen in anderen Weltregionen hat
Afrika einen weiteren Nachteil. In Zeiten einer zunehmend
automatisierten Produktionsweise lässt sich das chinesische Modell einer
Werkbank mit einer fast unbegrenzten Menge an billigen Arbeitskräften
kaum mehr kopieren. Ein grosser Teil des Wirtschaftswachstums in Afrika
sei «jobless growth», erklärte Aeneas Chuma, der Regionaldirektor der
Internationalen Arbeitsorganisation, im vergangenen Jahr in einem Interview. «Es ist riskant, wenn junge, gut ausgebildete und körperlich tüchtige Afrikaner unbeschäftigt sind.»
Insgesamt
lässt sich eine optimistischere oder eine pessimistische
Schlussfolgerung ziehen. Afrikas Geburtenzahlen sinken langsam, aber in
die ähnliche Richtung wie zuvor in allen anderen Weltregionen. Auch
Europa ist im Zuge seiner Bevölkerungsexplosion ab dem 16. Jahrhundert
durch viele Kriegsjahre gegangen, hat schliesslich aber daraus
herausgefunden. Wenn wir dem Einwanderungsdruck nicht allein mit
Abschottung begegnen, sondern in Afrika auch geduldig in die
Problembewältigung investieren, lassen sich die schlimmsten
Gewaltexzesse vielleicht verhindern. Der Historiker Herbert Moller
neigte indes zu einer pessimistischen Einschätzung. Die meisten
Gesellschaften seien immer schon zu arm, ihre Machtstrukturen zu starr
und ihre Bildungseinrichtungen zu schlecht gewesen, um das kreative
Potenzial ihrer Jugend zu nutzen, resümiert er in seinem Essay von 1968.
«Die grosse Mehrheit des menschlichen Talents bleibt unerkannt und wird
verschwendet.»
Nota. - In der Historischen Demographie scheint nur eins festzustehen: dass es Gesetze nicht gibt. Allenfalls kann man sagen, dass wohl ein Zusammenhang besteht zwischen der Geburtenrate und dem Wohlstand: Jahr- tausendeland führte wachsendeer Wohlstand zu höheren Geburtenzahlen, doch ab einem bestimmten Punkt war es umgekehrt. In jeder Weltregion neu. Wo der Punkt jeweils liegt, lässt sich nur mutmaßen.
Und andererseits ist eine Zuwachs an Menschen auch ein Zuwachs an Produktivkraft - nämlich wenn man sie ernähren und mit Arbeitsmitteln ausrüsten kann; sonst ist er eine Katastrophe. Richtiger gesagt: war derZu- wachs an Menschen ein Zuwachs an Arbeitskräften; denn mit voranschreitender Digitalisierung werden in der Produktion kaum noch Menschen gebraucht.
In der Produktion werden sie nicht gebraucht, aber ein Reichtum sind sie trotzdem, jedenfalls die vielen Talente, die unter ihnen sind und die auf andern Gebieten auch Großes leisten können. Und da man nicht weiß, welche von ihnen Talente haben - noch, woran man das messen könnte -, sollte man eigentlich diesen Reichtum en gros begrüßen. Denn da wir - vorläufig noch - immer mehr werden und die Erde nicht mitwächst, werden wir ein- fallsreiche Köpfe noch gut gebrauchen können. JE