Sonntag, 30. Oktober 2016

Nie wieder Wachstum?

aus nzz.ch, 29.10.2016, 05:37 Uhr

Geringes Wachstum als Normalfall
Sind die fetten Jahre vorbei?

Ist Wirtschaftswachstum nur eine Episode der Geschichte? Ein bemerkenswertes Buch argumentiert in diese Richtung. 

von Gerhard Schwarz

Es gäbe gute Gründe, sich mit etwas anderem als dem Langfristwachstum der USA zu beschäftigen. Zum einen blickt man dieser Tage nur ungern in die USA für Erhellung und Inspiration. Zum anderen sind in der Ökonomie Langzeitprognosen eine gefährlich spekulative Angelegenheit. Aber das Buch, das den Anstoss für diese Überlegungen gab, ist von so aussergewöhnlicher Breite und Tiefe und stammt von einem so bedeutenden Makroökonomen der USA, Robert J. Gordon, dass man es ernst nehmen muss, selbst wenn man nicht alles teilt. Gordon beschäftigt sich in «The Rise and Fall of American Growth» mit der Entwicklung des Lebensstandards in den USA seit dem Bürgerkrieg, aber mit Anpassungen lassen sich seine Botschaften auch auf Europa übertragen. Vier davon seien hier reflektiert.

Wachstum als Ausnahme

Erstens lautet die zentrale These Gordons, mit vielen Statistiken untermauert, die Zeit zwischen 1870 und 1970 stelle eine einmalige, nicht wiederholbare Periode in der Menschheitsgeschichte dar. Bis etwa 1770 habe der Lebensstandard während rund 100 000 Jahren praktisch stagniert, dann habe es eine deutliche Steigerung gegeben, und ab 1870 sei der Wohlstand geradezu explodiert. Diese Entwicklung sei um etwa 1970 zu einem Ende gekommen. Seither sei das Wachstum wieder gemächlicher geworden.

Für Gordon waren, zweitens, der wirtschaftliche und technische Fortschritt und die Verbesserung der realen Lebensverhältnisse in diesen einmaligen 100 Jahren deutlich bedeutsamer, als es die klassische Messgrösse des Bruttosozialprodukts zum Ausdruck bringt. Das ist eine überraschende These; meist liest man im Gegenteil, die ungenügende Berücksichtigung negativer Effekte des Wirtschaftens, etwa der Umweltverschmutzung, zeichne ein zu rosiges Bild des Wohlstands. Gordon bestreitet dies nicht, hält aber dagegen, die Fortschritte in der Medizin seien ebenfalls kaum berücksichtigt und würden die negativen Auslassungen mehr als kompensieren.

Fortschritt ist eine Frage des Ermessens 

Ebenso überraschend ist, drittens, die Behauptung, der technische Fortschritt habe sich seit 1970 verlangsamt. Das ist eine Frage des Ermessens. Sind heutige Selbstverständlichkeiten wie fliessendes Wasser bedeutsamer als die Kommunikationsrevolution des Internets? Hingegen zeigt Gordon klar, dass sich das Produktivitätswachstum ab 1970 gegenüber den «besonderen 100 Jahren» (1870–1970) markant verlangsamt hat.

In Verbindung mit der These der Nichtwiederholbarkeit der Ausnahmejahre führt dies, viertens, zu einem pessimistischen Ausblick für die nächsten 25 Jahre. Gordon erwartet ein Wachstum der Arbeitsproduktivität von 1,2 Prozent jährlich, gegenüber gut 1,6 Prozent in den letzten 45 Jahren und 2,8 Prozent zwischen 1920 und 1970.

Dramatischer sieht es beim Bruttoinlandprodukt pro Kopf aus, dessen jährliches Wachstum sich, wegen einer erwarteten Reduktion der Arbeitszeit, von 2,4 Prozent zwischen 1920 und 1970 auf 0,8 Prozent verlangsamen werde. Das verfügbare Medianeinkommen schliesslich wird sogar nur um 0,3 Prozent wachsen, in der «Boomzeit» waren es 2,25 Prozent gewesen. Solcher Pessimismus ist Liberalen zwar suspekt, aber man wird sich dem Argument nicht verschliessen können, dass in der Menschheitsgeschichte der Aufstieg des Westens eine Episode und geringes Wachstum – nicht Niedergang – möglicherweise den Normalfall darstellt.



aus Welt N24, veröffentlicht am 30.03.2016

Von Tina Kaiser, Chicago

...
Gordon gilt als Star unter den Ökonomen, als renommiertester Produktivitätsforscher weltweit. Seit 50 Jahren beschäftigt er sich mit der Frage, was die Effizienz einer Volkswirtschaft und damit auch ihr Wachstum beeinflusst. Sein Wort hat Gewicht, das macht die Prophezeiung so bedrohlich.

„Deprimierendster Ökonom des Landes“





Der jüngste Beleg dafür könnte das gerade vorgestellte iPhone SE sein. Apple-Fans zeigten sich enttäuscht über das Gerät, das kaum Neues zu bieten hat. Wenn selbst dem Technologieriesen nichts mehr einfällt, stehen die Zukunftsaussichten offensichtlich nicht allzu gut.
 
Solche Nachrichten, in Kombination mit Gordons Buch gelesen, haben das Potenzial, Millionen Amerikaner schaudern zu lassen. „The Rise and Fall of American Growth“ („Der Aufstieg und Fall des amerikanischen Wachstums“), heißt das Werk. Die „Washington Post“ nannte ihn den „deprimierendsten Ökonomen des Landes“.
 
Auf zwei Sätze reduziert lautet seine pessimistische These: Der technische Fortschritt hat seinen Zenit überschritten. Die Zeiten des kräftigen Wirtschaftswachstums sind für die USA und andere führende Industrieländer vorbei. 
 
Das große Wachstum war nur ein Ausrutscher 
 
Viele Rezensenten haben das 784-Seiten-Buch als neues Standardwerk gelobt, andere halten Gordon für einen bockigen alten Mann, der die Tragweite moderner Technologien nicht versteht. Gordon streicht mit der flachen Hand über den Tisch: „Natürlich macht man sich mit schlechten Nachrichten nicht nur Freunde.“ Er zuckt die Schultern: „Ich hab mir das nicht ausgedacht, ich ziehe nur logische Schlussfolgerungen aus den Daten.“





Quelle: Infografik Die Welt
Gordon hat minutiös aufgeführt, wie jede einzelne bahnbrechende Erfindung seit dem 19. Jahrhundert – Verbrennungsmotor, elektrisches Licht, Sanitäreinrichtungen, Flugzeug – das Leben der Amerikaner verbessert und die hat. Seinen Berechnungen zufolge wuchs die Wirtschaft zwischen 1891 und 2007 pro Kopf und Jahr durchschnittlich um zwei Prozent.
 
Wenn die USA künftig noch die Hälfte erreichen würden, könnten sie sich schon glücklich schätzen, glaubt Gordon. Das bisschen Aufschwung käme beim Einzelnen aber vermutlich nicht an, sondern würde im überschuldeten Staatshaushalt oder beim reichsten einen Prozent verschwinden. Er könnte es auch so sagen: Das große Wachstum seit der industriellen Revolution war ein Ausrutscher der Geschichte. Es geht abwärts. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa.
 
Tech-Industrie hält ihre Versprechen nicht
 
Die Menschen in Industrienationen haben sich daran gewöhnt, dass alles immer besser wird, der Lebensstandard von Generation zu Generation wächst. Damit ist es jetzt vorbei, sagt Gordon: „Die Generation der Millennials ist die erste, der es schlechter gehen wird als ihren Eltern.“ Junge Amerikaner bleiben deutlich länger im Elternhaus wohnen, haben mehr Probleme, ihre Studienkredite abzubezahlen, heiraten später und bekommen weniger Kinder.

Er glaubt, dass die von der Tech-Industrie beschrieene „vierte industrielle Revolution“ nichts weiter als eine Schimäre ist. Die sozialen Netzwerke, Apps, Roboter und Computer mit künstlicher Intelligenz verbesserten unsere Leben nicht im gleichen Maße wie die großen Erfindungen der Vergangenheit.
 
„Man nimmt das oft alles als selbstverständlich hin, wie sehr sich unser Alltag in den vergangenen 150 Jahren verbessert hat“, sagt Gordon. Von Generation zu Generation. Dieser Raum, sein Büro, wäre vermutlich früher im Winter zu kalt gewesen, um entspannt darin zu arbeiten, weil es keine Zentralheizung gab, und im Sommer zu heiß, weil die Klimaanlage noch nicht erfunden war. Er wäre mit einer holprigen, zugigen Kutsche zur Uni gefahren statt mit seinem leise dahingleitenden SUV. Seine Tassen hätte vermutlich seine Frau gespült, die dazu Wasser vom Brunnen ins Haus geschleppt hätte.

Von der Kutsche zum Boeing-Jet
 
„Wussten Sie, dass Frauen im 19. Jahrhundert pro Woche zwei Tage nur mit der Wäsche beschäftigt waren? Oder dass eine Hausfrau in North Carolina im Jahr 1885 durchschnittlich 35 Tonnen Wasser 148 Meilen weit getragen hat?“ Die Emanzipation der Frauen wäre ohne die Erfindung der Sanitäranlagen, Waschmaschinen und Kühlschränke niemals möglich gewesen, meint Gordon.
 
Ab 1929 begannen amerikanische Städte Kanalisationen zu bauen. Die Menschen lebten länger und gesünder, Krankheiten wie Cholera starben aus. „Bei diesen Erfindungen geht es nicht nur um Bequemlichkeit, sie haben die Welt verändert.“
 
Wenn er unterwegs ist und Vorträge hält, zeigt Gordon gerne zwei Fotos: das einer Holzkutsche und das einer Boeing 707. Die Holzkutsche steht für die Reisegeschwindigkeit des Jahres 1900. Damals fuhr man mit einem Prozent der Schallgeschwindigkeit. Die 1958 zugelassene Boeing 707, einer der ersten Langstreckenflieger der zivilen Luftfahrt, fliegt mit 80 Prozent der Schallgeschwindigkeit. „Unsere maximale Reisegeschwindigkeit hat sich also in rund 60 Jahren verachtzigfacht, seitdem aber nicht mehr groß erhöht.“
Gordon mag Facebook nicht
 
Diesen Teil seiner Analyse zweifelt niemand an. Die große Frage aber ist, ob man mit einem Blick in die Vergangenheit wirklich die Zukunft voraussagen kann. Gordon glaubt daran.
 
Der Professor sagt, dass Computer, Internet, Smartphones oder Dienste wie Facebook und die Taxi-App Uber das Leben zwar erleichtern. Er glaubt allerdings auch, dass die größten Erfindungen des Computer-Zeitalters schon hinter uns liegen. Das berühmte mooresche Gesetz, demzufolge sich die Rechnerkapazität alle ein bis zwei Jahre verdoppelt, gelte in Zukunft nicht mehr.
 
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schrieb neulich, Gordon sei vielleicht zu alt, um zu verstehen, wie soziale Medien das Leben der Menschen verändert haben. Gordon gibt offen zu, dass er kein Technik-Freak ist. Er habe einen Laptop, seit zwei Jahren auch ein Smartphone und schreibe viele E-Mails, aber Facebook oder Twitter seien nichts für ihn.

Prominente Unterstützer
 
Das wäre vielleicht anders, wenn er und seine Frau Julie – eine promovierte Dozentin für englische Literatur an der Universität Chicago – Kinder und Enkelkinder hätten. „Dann gäbe es etwas zu gucken für uns.“ Das Modernste, das er für die Recherche seines Buches benutzt habe, seien Post-it-Zettel gewesen, scherzt er.
 
Der Professor mag schrullig wirken, ganz besonders in dem Moment, als während des Gesprächs sein iPhone klingelt, er hektisch auf dem Gerät herumdrückt und etwas peinlich berührt zugibt, dass er auch nach zwei Jahren nicht herausgefunden hat, wie man bei dem Ding den Ton ausstellt. Aber man sollte ihn trotzdem ernst nehmen.
 
Bekannte US-Ökonomen wie Tyler Cowen oder Chad Syverson kommen zu ähnlichen Schlüssen. Selbst aus dem Silicon Valley bekommt Gordon Unterstützung. Peter Thiel, einer der wichtigsten Risikokapitalgeber der Tech-Branche, machte schon 2011 seinem Frust mit einem pessimistischen Zukunftsmanifest Luft. Der Titel lautete: „Wir wollten fliegende Autos und haben 140 Zeichen bekommen.“ Twitter-Posts haben maximal 140 Zeichen.
Freund und Kritiker
 
Im Gegensatz zu Gordon glaubt Brynjolfsson, das „zweite Zeitalter der Maschinen“ liege noch vor uns. Er hält den Computer für eine ebenso grundlegende Erfindung wie die Elektrizität und argumentiert, dass sich in den ersten 30 Jahren nach Einführung des Stroms die Produktivität zunächst kaum verbesserte, weil Fabrikanten lediglich die Dampfmaschinen durch elektrische Motoren ausgetauscht hatten. Erst als die Arbeitsprozesse und die Funktionsweise der Maschinen angepasst wurden, kam der große Boom.
 
Mit dem Computer-Zeitalter wird es ähnlich verlaufen, glaubt Brynjolfsson. Die Tech-Industrie befinde sich am Anfang einer Wachstumskurve, die zunächst sehr flach ansteigt und in einigen Jahren durch die Decke gehen wird. Eines seiner liebsten Beispiele ist das selbstfahrende Auto, das Wissenschaftler vor zehn Jahren noch für unmöglich gehalten hatten, und das jetzt schon als Prototyp fährt.

Roboter beherrschen einfachste Tätigkeiten nicht
 
An diesem Punkt wird der Professorenstreit zur Glaubensfrage. Gordon ist überzeugt, der Übergang zum fahrerlosen Auto lasse sich nie und nimmer mit dem Wechsel von der Kutsche aufs Automobil vergleichen. Brynjolfsson dagegen träumt von einer Welt, in der es dank der selbstfahrenden Autos keine Staus, keine Unfälle, und keine LKW- und Taxifahrer mehr gibt.
 
Gordon findet, Brynjolfsson fehle der nötige Abstand, um die neuen Technologien nüchtern zu betrachten. Der treibe sich doch ständig im Silicon Valley rum, schaue sich all die neuen Roboter, den IBM-Superrechner Watson und die Erfindungen an, an denen Google & Co. in ihren Laboren basteln und sei „begeistert wie ein Kind im Süßigkeitenladen“.
 
Gordon sagt das nicht abfällig, sondern geradezu liebevoll über seinen Freund. Aber diese Roboter könnten nicht mal einfachste Tätigkeiten wie Wäsche zusammenlegen. Von wenigen Ausnahmen wie Kassenautomaten im Supermarkt oder Check-in-Automaten am Flughafen, sagt Gordon, werde die Arbeit in der Dienstleistungsbranche immer noch von Menschen erledigt. „Dabei wurde der Computer schon 1942 erfunden.“

Wirbel um die Endzeit-Theorie
 
Er behaupte ja keineswegs, es sei gar keine Innovation mehr vom Computerzeitalter zu erwarten. Das zarte Wachstum werde aber ausgebremst, unter anderem von der demografischen Alterung.

Gordon, ein Anhänger der Demokraten, der bei den Vorwahlen für Hillary Clinton gestimmt hat, kommt aus einer politisch interessierten Ökonomenfamilie. Seine Eltern Robert Aaron und Margaret berieten als Arbeitsmarktexperten die Regierung. Sein Bruder David war bis zu seinem Tod ein marxistischer Wirtschaftswissenschaftler an der New School in New York. Jeder der Professoren Gordon legte viel Wert darauf, nicht nur im Elfenbeinturm zu forschen.
 
Der letzte Gordon ist da genauso. Er freut sich über den Wirbel um seine Endzeit-Theorie. Auf seine alten Tage ist der weißhaarige Mann mit der Vorliebe für bequeme Strickpullis und Gesundheitsschuhe auch noch einem breiteren Publikum in den USA bekannt geworden. Trotzdem glaubt man ihm, wenn er sagt: „Ich wäre hocherfreut, wenn ich mich irre.“
 
 
Nota. - Das ist in der Tat bemerkenswert, dass ein Ökonom den Fortschritt nicht einfach am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts misst, sondern an qualitativen Kriterien des Lebensstandards. Und da kommt er ganz richtig zu dem Ergebnis, dass der Fortschritt der Menschheit unter der Herrschaft des Kapitalismus - denn das waren die letzten 200 Jahre - viel größer war, als er sich in Geldwert ausdrücken lässt.
 
Aber quantifizieren will auch Gordon den Fortschritt; nur dass er ihn nicht, wie bei Ökonomen üblich, in den in Geld gemessenen Tauschwerten, sondern in den Gebrauchswerten quantifizieren will, was freilich ein Unding ist. Wie will man den Rückgang von Krankheiten, das bessere und schmackhaftere Essen, die wohlfeile Massenunterhaltung und die zunehmend allen zugängliche Spitzenkultur gegeneinander aufwiegen? Da müsste man schätzen, und das ist eine Sache des Geschmacks (im allerweisteten Sinn).

Doch nehmen wir für einen Moment an, die Lebensqualität ließe sich quantifizieren. Wäre nicht anzunehmen, dass es uns irgendwann reicht? Die Soffwechselkapazität der Individuen ist biologisch beschränkt. Zwar ist die Schranke noch lange nicht in aller Welt erreicht, aber die verbleibende Lücke ließe sich auch bei verlangsamten Wachstum nach und nach schließen. Das dauert eine Weile, wenn das jährliche Wachstum des Reichtums das Anwachsen der Bevölkerung nur noch um 0,3 Prozent übersteigt. Aber wie das Längenwachstum der Menschen und auch ihr erreichbares Höchstalter irgendwann an eine natürlich Grenzen stoßen werden, so auch ihr komsumtives Fassungsvermögen.
 
Und dann wird sich zeigen: Die wahre Ökonomie ist gar nicht die unablässige Steigerung des Outputs, sondern - die Ersparnis von Zeit. 
 
Das war der eigentliche Auslöser des historischen Wachstum der vergangen zwei Jahrhunderte: die Explosion von Wissenschaft und Technologie, die, indem sie ununterbrochen Arbeitszeit einsparte, Zeit frei machte für - zusätzliche Arbeit: Mehrarbeit. Die Frage an die Industrie 4.0 ist heute gar nicht, ob sie erheblich mehr, auch nicht, ob sie erheblich Besseres produziert. Die Frage nach dem wirtschaftlichen Fortschritt wird sich in der Zukunft daran entscheiden, ob er Arbeitszeit freisetzt, indem er menschliche Arbeit immer überflüssiger macht - und daher nicht in Mehrarbeit verwandelt, sondern in freie Zeit. 
 
Und das wird nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern ein kultureller, eigentlich: der kulturelle Forstschritt der Menschheitsgeschichte sein: Wir werden uns nicht mehr darüber streiten müssen, wer wieviel abbekommt, sondern darüber, was wir tun wollen.
JE
 
 
 

Freitag, 28. Oktober 2016

Putins Plan.

aus nzz.ch, 25.10.2016, 07:08 Uhr

Was will Putin? 
Bomben in Syrien, Panzer in der Ukraine, Konfrontation mit dem Westen: Wladimir Putin ist die Schlüsselfigur in der internationalen Politik. Er will Russland wieder zur Supermacht aufsteigen lassen. Sein Plan in sechs Punkten. 

von Lucienne Vaudan und Anja Burri 

Syrien: Der verlässliche Verbündete der Araber werden

Die Lage: Die engen Beziehungen zwischen Russland und Syrien reichen in die Sowjetzeit zurück. Die Russen sicherten sich so direkten Zugang zum Mittelmeer, die Syrer profitierten von Militäraufbauhilfe. Seit dem Ausbruch des syrischen Krieges tritt Russland als Schutzmacht des Asad-Regimes auf. 

Mit seinem Veto verhindert Moskau regelmässig Massnahmen der Uno gegen den syrischen Machthaber. Und es unterstützt Bashar al-Asad militärisch, zuerst mit Waffenlieferungen, seit gut einem Jahr mit geschätzten 13 000 Luftangriffen.

Die russische Armee verfügt in Syrien über Militärstützpunkte bei Tartus und Latakia, zwei Städten an der syrischen Mittelmeerküste; Beobachter vermuten weitere Stationen.



Der Plan: Die Militärintervention in Syrien ist die erste überhaupt, die die russische Föderation ausserhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion unternimmt.

Dass die Position des syrischen Machthabers Bashar al-Asad seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 gefährdet ist, beunruhige Russland stark, sagt Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen: «Wladimir Putin fürchtet sich generell vor Regimewechseln in autoritär geführten Staaten, denn sie könnten die bestehende Ordnung gefährden.»

Russland habe bereits die Revolutionen 2003 in Georgien, 2004 in der Ukraine und 2005 in Kirgistan mit grosser Nervosität beobachtet und in Georgien und der Ukraine auch militärisch eingegriffen. Gemäss Schmid soll die russische Infrastruktur in Tartus und Latakia signalisieren: «Das ist jetzt unser Stützpunkt, wir bleiben hier.»

Zu dieser Symbolpolitik passe auch das grosse Siegeskonzert nach der Befreiung Palmyras, an dem Putin ein russisches Orchester vor den Ruinen der Wüstenstadt auftreten liess. Den Nutzen, den Putin aus dem Einsatz in Syrien ziehe, überwiege die Kosten, sagt Schmid. Putin wolle sich im östlichen Mittelmeer einen permanenten Militärstützpunkt sichern und sich zudem im gesamten arabischen Raum als zuverlässiger Partner empfehlen.

Der Militäreinsatz in Syrien zeige auch, dass Russland über Menschenrechtsverletzungen grosszügig hinwegsehe und den Regimen nicht ständig mit erhobenem Zeigefinger begegne. «Das kommt bei Staaten wie Ägypten gut an», sagt Schmid. Da die sunnitischen Golfstaaten traditionell Beziehungen zu den USA pflegen, müsse Russland zum wichtigsten Verbündeten der Schiiten werden. Das bedeute, mit Iran zu kooperieren.

Vor der Aufhebung der westlichen Sanktionen habe die schiitische Macht keine andere Wahl gehabt, als sich an die Seite von Russland zu stellen. «Im Moment driftet das Land aber von Putin weg», sagt Schmid. Iran verfolge eine Politik, die alle Optionen offenlasse. Das führe zu einer Konkurrenzsituation zwischen dem Westen und Russland in Iran.
Russische Kampfflugzeuge über Latakia.  Russische Kampfflugzeuge über Latakia. 
Ukraine: Die Nachbarn von der EU fernhalten 

Die Lage: Am Anfang des Konflikts in der Ukraine ging es um die Annäherung des osteuropäischen Landes an die EU. Die ukrainische Regierung stoppte 2013 unter starkem Druck aus dem Kreml ein Abkommen mit der EU. Es folgten monatelange Massenproteste, bis im Anfang 2014 der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch gestürzt wurde. Wenige Tage später liess Putin die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim annektieren.

Im April 2014 erreichte die Krise schliesslich die Ostukraine: Es folgte ein Krieg zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und der ukrainischen Armee. Am 17. Juli 2014 schossen prorussische Separatisten das Passagierflugzeug MH17 der Malaysian Airlines mit 300 Passagieren ab. Russland streitet bis heute jede Verantwortung ab.

Die Friedensverhandlungen verlaufen zäh. Der im September 2014 erstmals ausgerufene Waffenstillstand wird permanent gebrochen. Diese Woche einigten sich die Kriegsparteien in Berlin auf eine Stärkung der OSZE-Mission in der Ostukraine. 

Der Plan: Russland habe bereits alles, was in seiner Macht stehe, unternommen, um eine Integration der Ukraine in die EU und die Nato zu verhindern – «durchaus mit Erfolg», urteilt Russlandexperte Ulrich Schmid. Präsident Putin wolle das Land nicht an den Westen verlieren, stattdessen habe er einen anderen Weg vorgesehen: Die Ukraine soll wirtschaftlich und politisch näher an Russland rücken – nämlich als Mitglied der eurasischen Wirtschaftsunion.

Zwar hat die Ukraine bis heute nicht den Kriegszustand ausgerufen und spricht lediglich von «terroristischen Aktivitäten» in der Ostukraine, die man bekämpfen müsse. Aber die Regierung habe die besetzten Gebiete im Osten nicht unter Kontrolle, sagt Schmid: «So sind weder ein Nato- noch ein EU-Beitritt in den nächsten 20 Jahren realistisch.»

Putin sei an einer Lösung des Konflikts gar nicht interessiert. Der Status quo diene seinen Interessen am besten. Die Situation sei ähnlich wie im Jahr 2008 in Georgien, das zwei Teilrepubliken verlor, die heute de facto ein russisches Militärprotektorat darstellen. Laut Schmid bereiten diese beiden Fälle den drei baltischen Nato-Mitgliedern Bauchschmerzen. Estland, Lettland und Litauen sähen es am liebsten, wenn das Militärbündnis permanente Truppen stationieren würde.

Die Nato zaudere jedoch, weil sie Russland in der angespannten Lage nicht zusätzlich provozieren wolle, erklärt Schmid. Als Signal setzt die Nato aber 4000 Soldaten im Baltikum und in Polen ab 2017 auf Rotationsbasis ein.

Abgeschossene MH17 in der Ukraine. (Bild: Maxim Zmeyev / Reuters) Abgeschossene MH17 in der Ukraine. 


USA: Die Macht der USA schwächen 

Die Lage: US-Präsident Barack Obama trat vor acht Jahren mit dem Vorsatz an, die abgekühlten russisch-amerikanischen Beziehungen neu zu beleben. Seit Putin 2012 ins Präsidentenamt zurückgekehrt ist, dominieren allerdings Beleidigungen und Belehrungen.

Im September 2013 stellte Putin Obama in einem Meinungsartikel in der «New York Times» als überheblichen Kriegstreiber dar. Zuvor hatte Obama ein Treffen mit Putin platzen lassen – als Retourkutsche für dessen Weigerung, den US-Whistleblower Edward Snowden auszuliefern. Je mehr sich die Krisen in Syrien und der Ukraine verschärften, desto angespannter wurde das Verhältnis der beiden Männer. Bei einem Gipfel zur Atomsicherheit in Den Haag im März 2014 degradierte Obama Russland zu einer «Regionalmacht».

Die neusten Vorwürfe aus den USA betreffen den Präsidentschaftswahlkampf. Hillary Clinton verdächtigt Russland, das E-Mail-Konto ihres Wahlkampfchefs gehackt und die Daten der Enthüllungsplattform Wikileaks zur Verfügung gestellt zu haben. US-Vizepräsident Joe Biden deutete an, die USA erwögen, sich mit einer Cyber-Attacke auf Russland zu revanchieren. 

Der Plan: Obama mache kein Hehl aus seiner Geringschätzung für den russischen Staatschef, Putin habe ihm die Kränkungen nie verziehen, erklärt Experte Schmid. Die Beziehungen zwischen den USA und Russland seien an einem Tiefpunkt angelangt, der Zustand erinnere zuweilen an den Kalten Krieg: «Es gibt aber einen Unterschied zwischen Rhetorik und Realität.»

Der Westen unterstelle Putin gerne, er wolle die Sowjetunion wiederaufleben lassen. Eine ideologische Systemkonkurrenz gebe es jedoch nicht mehr, stellt Schmid fest: «Schon Ende 1999 sagte Putin, der Kommunismus sei eine Sackgasse.» Gleichzeitig versuche Russland seit zehn Jahren, die USA als einzig verbliebene Supermacht herauszufordern und eine multipolare Weltordnung mit mehreren Machtzentren zu installieren.

In dieser Ordnung sollen neben Russland und den USA auch Japan, China, Südamerika und Europa eine Rolle spielen. Offiziell gibt sich der Kreml in Hinblick auf die Präsidentschaftswahl in den USA neutral. «Es liegt aber auf der Hand, dass ihm ein Präsident Trump lieber wäre», sagt Schmid. Clinton, die unter Obama bereits Aussenministerin war, würde vermutlich kaum grösseres Verständnis für Putin aufbringen.

Europa: Den Europäern auch in Zukunft Erdöl verkaufen

Die Lage: Die Beziehungen zwischen der EU und Russland sind durch die Kriege in der Ukraine und in Syrien getrübt. Als Reaktion auf Russlands Rolle in der Ukraine hat die EU Wirtschaftssanktionen und einen Verhandlungsstopp für ein neues Partnerschaftsabkommen beschlossen. Die Sanktionen wurden kürzlich verlängert. Die EU ist dennoch Russlands wichtigste Handelspartnerin.


Überraschender Besuch: Russlands Präsident Wladimir Putin reiste diesen Donnerstag zum Ukraine-Gipfel nach Deutschland. (Berlin, 20. Oktober 2016) (Bild: AXEL SCHMIDT / REUTERS) Russlands Präsident Wladimir Putin reiste diesen Donnerstag zum Ukraine-Gipfel nach Deutschland. 

Der Plan: Obwohl Russland die Sanktionen deutlich spüre, versuche Moskau die Europäische Union als Staatenverbund zu ignorieren, erklärt Russlandexperte Schmid. Mit EU-Vertretern treffe sich Putin nur in Ausnahmefällen. Der Kreml verfolge eine andere Strategie: Er verhandle nicht mit der EU als Ganzes, sondern picke sich russlandfreundliche Mitgliedstaaten heraus, wie etwa die Slowakei, Ungarn, Griechenland oder auch Österreich.

«Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat ein kritisches Verhältnis zu Putin, lässt den Dialog aber nicht abbrechen», sagt Schmid. So kam diese Woche in Berlin ein Ukraine-Gipfel zustande, bei dem Putin unter Vermittlung Merkels und des französischen Präsidenten Hollande mit dem ukrainischen Präsidenten sprach.

Was die Bekenntnisse zu einem Friedensplan wert sind, wird sich zeigen. Die Gaspipelines zwischen Russland und Europa betrachtet Schmid als Konstante in der sonst angespannten Beziehung. Wie wichtig diese Handelsbeziehung für beide sei, sehe man auch daran, dass der Energiesektor nicht von Sanktionen betroffen sei.

Russland könne nicht so einfach neue Abnehmer für seine Öl- und Gaslieferungen finden, und umgekehrt sei auch Europa auf die Versorgung angewiesen. Viele europäische Staaten denken zwar über Alternativen nach, aber diese Pläne sind laut Schmid nicht ausgereift.


Putin mit dem Griechen Tsipras. (Bild: Orestis Panagioutou / EPA) Putin mit dem Griechen Tsipras

 Asien: Ein Gegenprojekt zur EU aufbauen

Die Lage: Putins Prestigeprojekt ist die Eurasische Wirtschaftsunion, die im vergangenen Jahr gegründet wurde. Sie soll, ähnlich der EU, einen Binnenmarkt ermöglichen. Gründungsmitglieder sind Kasachstan und Weissrussland, auch Armenien und Kirgistan gehören dazu. Tadschikistan und Syrien haben Interesse an einem Beitritt bekundet.

Putin möchte die Eurasische Wirtschaftsunion politisch vertiefen, um die russische Vormachtstellung im postsowjetischen Raum wiederauferstehen zu lassen. 

Der Plan: Die Pläne für eine politische Integration der Eurasischen Wirtschaftsunion haben nach der Annexion der Krim an Schwung verloren. Kasachstan habe kalte Füsse bekommen, denn ein Viertel der kasachischen Bürger seien ethnische Russen, erklärt Ulrich Schmid: «Putin hat gezeigt, dass er mit der Begründung, die russische Bevölkerung im Ausland zu schützen, handstreichartig fremde Territorien einnehmen kann.»

Auch in anderen Mitgliedstaaten sei die Angst vorhanden, von Russland dominiert zu werden. Ein berühmter Ausspruch von Zar Alexander III. lautete, Russland kenne nur zwei Verbündete: die Flotte und die Armee. «Daran hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert », sagt Schmid.

Russland gehe höchstens opportunistische Bündnisse ein, wie etwa mit der Türkei, einem wichtigen Verhandlungspartner im Syrien-Krieg. Oder China, mit dem es wirtschaftliche Interessen teile: «Im Moment ist die russisch-chinesische Beziehung ein Zweckbündnis, in dem der Nutzen die Kosten übersteigt», so Schmid. Aber sobald sich die Rechnung ändere, werde Russland auch dieses Engagement überdenken.

Wirtschaft und Innenpolitik: Mit Säbelrasseln von Problemen ablenken

Die Lage: Die russische Wirtschaft kämpft mit strukturellen Problemen: Die verarbeitende Industrie ist kaum konkurrenzfähig, auch wegen der Korruption. Die Finanzkrise 2008 traf Russland stark. Die anschliessende Erholung verdankte die Wirtschaft vor allem den höheren Staatsausgaben.

Auch der Verfall des Ölpreises macht dem Land zu schaffen: Etwa die Hälfte der Staatseinnahmen stammen aus Steuern des Öl- und Erdgassektors. Hinzu kommen die westlichen Sanktionen. Gemäss Internationalem Währungsfonds schrumpfte die russische Wirtschaft 2015 um rund fünf Prozent.

Das alles schwächt die Kaufkraft der Russen, wie der «Big-Mac-Index» des Wirtschaftsmagazins «The Economist» zeigt. Für einen Big Mac in den USA müssen 4 Dollar 93 gezahlt werden. In Russland kostet er nur 1 Dollar 53. 

Der Plan: Russland könne die wirtschaftliche Durststrecke dank der vorausschauenden Finanzpolitik in den Jahren 2000 bis 2008 überbrücken, sagt Experte Schmid: «Damals hatte Russland Reservefonds eingerichtet. Diese schmelzen nun aber dahin wie ein Schneemann in der Sonne.»

Dafür verantwortlich sei auch eine Fehleinschätzung: Zwar hatte der Kreml für die Krim-Annexion einige Sanktionen gegen hochrangige Vertreter der Regierung einkalkuliert. Doch der Abschuss der MH17 sei ebenso unvorhersehbar gewesen wie die anschliessende Reaktion der EU, einheitliche Wirtschaftssanktionen einzuführen.

«Die russischen Medien spotten über den fehlenden Mozzarella in den Supermärkten», sagt Schmid. Aber abgesehen davon, dass Reisen in den Westen um 30 Prozent teurer wurden, mangele es den Russen im Alltag letztlich an nichts, erklärt der Experte: «Putins Zauberwort heisst Importsubstitution, die einheimische Wirtschaft soll nun jene Güter bereitstellen, die nicht mehr importiert werden.»

Innenpolitisch scheint Putin keine Konkurrenz fürchten zu müssen. Seine Partei «Geeintes Russland» hat sich in den Parlamentswahlen über drei Viertel der Mandate gesichert. «Das russische Machtsystem ist stark personalisiert, Loyalität ist ausschlaggebend», erklärt Schmid Putins Führungsstil. So habe der Präsident drei seiner Leibwächter zu Gouverneuren ernannt. Gleichzeitig sei es ihm wichtig, die Fassade einer Demokratie zu bewahren.

Der Kreml schaffe es, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf anderes zu lenken. In den Nachrichten der letzten Wochen drehe sich vieles um die Armee: Die Entsendung russischer Kriegsschiffe ins Mittelmeer, die Teilnahme von 5000 russischen Fallschirmjägern an Übungen in Ägypten sowie die grösste Zivilschutzübung der russischen Geschichte, bei der die Rettung von 40 Millionen Menschen geprobt wurde.

Kürzlich liess das Verteidigungsministerium verbreiten, Russland wolle seine Militärbasen auf Kuba und Vietnam reaktivieren. Schmid erklärt: «Die Russen hören aus den Medien oft, Amerika wolle nicht, dass sich Russland ‹von den Knien erhebe›. Die militärische Aufrüstung soll die Leute glauben lassen, dass das keine leeren Worte sind, sondern eine ernsthafte Bedrohung – und dass Russland gewappnet ist.»


Ulrich Schmid, 51, ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Seit 2011 koordiniert er zudem ein internationales Forschungsprojekt zum Regionalismus in der Ukraine und schreibt regelmässig für die NZZ. Schmid hat Germanistik, Slawistik und Politische Wissenschaften in Zürich, Heidelberg und Leningrad studiert.

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Globaler Jugendüberschuss und Migrationsdruck.

 aus nzz.ch, 25.10.2016, 05:30 Uhr                                                     revolutionintern

Triebkraft der Weltgeschichte
Die Gefahr der frustrierten Jugend
Die Zukunft lässt sich schwer voraussagen, eines aber scheint gewiss: Wegen der Bevölkerungsentwicklung und einer automatisierten Wirtschaft muss sich Europa auf dauerhafte Zuwanderung einstellen. 

Kommentar von Christian Weisflog

Dass die Jugend die rastlose Kraft der Weltgeschichte ist, mag keine revolutionäre Erkenntnis sein. Von der 68er Bewegung über die Tiananmen-Proteste in China bis zur Arabellion 2011 waren es stets Studenten, die gegen die herrschende Elite aufbegehrten. Ungelöst scheint hingegen das Rätsel, wann der jugendliche Tatendrang zu positiven Erneuerungen führt oder im Gegenteil in zerstörerische Gewalt umschlägt. 

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Historiker Herbert Moller ausgerechnet im bewegten Jahr 1968 einen Essay mit dem Titel «Die Jugend als Kraft in der modernen Welt» veröffentlichte. Ein «ungewöhnlich grosser Anteil» von jungen Erwachsenen trage zur potenziellen Instabilität einer Gesellschaft bei, erkannte Moller. Mit der französischen Revolution und Hitlers Machtergreifung wählte er zwei widersprüchliche Beispiele. In beiden Fällen handelte es sich um sehr junge Gesellschaften. Während die Revoluzzer in Paris jedoch universelle Rechte wie Freiheit und Gleichheit einforderten, propagierte das totalitäre Naziregime eine menschenverachten- de Rassentheorie. Aufgrund stark gesunkener Geburtenraten wuchs die deutsche Bevölkerung 1933 bereits nicht mehr, allerdings sorgte die schwere Weltwirtschaftskrise für verbreitete Jugendarbeitslosigkeit. Dies zeigt zweierlei: Jugendliche Energie kann sich ideologisch auf sehr unterschiedliche Weise entladen. Ob sie zu Frustration und Gewalt führt, hängt auch von anderen Stressfaktoren ab.

Blutiger Kampf um Zukunft

Aber auch wenn demografische Entwicklungen nicht immer alles erklären können, haben sie doch einen entscheidenden Vorteil. Sie ändern sich meist nur langsam und erlauben deshalb einen strategischen Blick in die Zukunft. Das erkannte in den neunziger Jahren auch die CIA. An einer ihrer Konferenzen präsentierte der Geograf Garry Fuller die Theorie des «youth bulge» – des Jugend-Bauches. Am Beispiel von Sri Lanka zeigte er, wie die Bevölkerungsentwicklung die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Singhalesen und Tamilen zu unterschiedlichen Zeitpunkten befeuerte. Es werde kritisch, wenn der Anteil der 15- bis 24-Jährigen auf 20 Prozent der Gesamtpopulation ansteige. Beträgt zudem der Anteil der Altersgruppe der 0- bis 14-Jährigen mindestens 30 Prozent, ist von einem anhaltenden «youth bulge» auszugehen.

Gestützt auf Fullers Theorie thematisierte der deutsche Völkermordforscher Gunnar Heinsohn in seinem Buch «Söhne und Weltmacht» bereits 2003 das demografische Konfliktpotenzial in der islamisch-arabischen Welt. Heinsohn warnte vor Unruhen, Krieg und Terror, weil es im Nahen Osten einerseits zu viele Söhne und andererseits zu wenige gesellschaftliche Positionen gebe, die ihren Ansprüchen genügten. Diese verschärfte Konkurrenz um Zukunftsperspektiven ist für Heinsohn die Ursache, die frustrierte Männer nach radikalen Ideologien suchen lässt, um in ihrem Namen zu töten. Es ist nicht die Ideologie selbst, die zu Gewalt führt. 

Auf den ersten Blick bestätigt der brutale Krieg in Syrien diese Theorie. Der Anteil der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren lag 2011 bei über 21 Prozent. Allerdings hatten Marokko, Jordanien oder Algerien etwa ähnlich junge Gesellschaften. Warum ist es dort nicht zum Krieg gekommen? Die Antwort liegt in Syriens ethnisch-religiösen Spannungen zwischen Sunniten, Alawiten und Kurden. Spannungen, die vom Regime und von Teilen der Opposition während Jahrzehnten für ihre Machtkämpfe instrumentalisiert wurden, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren. Spannungen, die nun wiederum durch die Rivalitäten der Regionalmächte Saudiarabien, Iran und Türkei befeuert werden. Hinzu kommt die durchaus auch ideologisch getriebene Konfrontation (Demokratie contra Autoritarismus) zwischen den USA und Russland. Der zunehmende russische Militarismus unter Wladimir Putin zeigt im Übrigen, dass auch schrumpfende Gesellschaften zu Gewalt neigen können. Grosse Eroberungszüge sind angesichts der knappen Jugend allerdings schwierig. Nicht umsonst hat der Kreml den Tod russischer Soldaten gesetzlich unter Geheimhaltung gestellt. 

Ein grosser Jugendanteil ist wie ein Brennstoff, der je nach Umständen durch andere Faktoren entzündet oder entschärft wird. Die jugendliche Energie kann sowohl einen Krieg befeuern als auch eine boomende Wirtschaft antreiben. Je grösser indes der Nachwuchs ist, desto schwieriger scheint es, ein friedliches Ventil für ihn zu finden. 

Sonderfall Afrika

Die gute Nachricht für Nordafrika und den Nahen Osten ist, dass die «youth bulges» abklingen. Entgegen dem verbreiteten Vorurteil ist der Islam kein entscheidender Faktor für die Geburtenraten. Selbst in Saudiarabien bringt eine Frau heute im Durchschnitt weniger als drei Kinder auf die Welt. In der Islamischen Republik Iran fiel die Geburtenrate ab 1985 innerhalb von 15 Jahren von über 6 auf unter 2 Kinder pro Frau. Ursache dafür war vor allem die bessere Bildung der Frauen sowie eine bessere Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung der ländlichen Gebiete.

 Der Demograf Youssef Courbage und der Politologe Emmanuel Todd hatten aufgrund dieser Entwicklung die Arabellion bereits 2007 in ihrem Buch «Die unaufhaltsame Revolution» vorausgesagt. Eine gebildete, urbane Jugend geht für moderne Werte – Freiheit, Gleichheit und politische Partizipation – auf die Strasse. Die Umwälzungen und Kriege sind demnach bloss «Krisen des Übergangs» und der Islamismus ein verzweifeltes Rückzugsgefecht der Traditionalisten. Angesichts sinkender Kinderzahlen, so die Hoffnung, sollten die arabischen Staaten nach dem ostasiatischen Vorbild nun ihre «demografische Dividende» ernten können. Die jungen Gesellschaften, die weniger Kinder und alte Menschen versorgen müssen, können vermehrt in höhere Bildung, Forschung, in Infrastruktur oder private Unternehmen investieren. 

Bis jetzt jedoch fallen die Früchte der Arabellion sehr enttäuschend aus. Die eigentliche demografische Zeitbombe – mit der Ausnahme von Pakistan – aber tickt in Subsahara-Afrika. Es handle sich um eine «einzigartige» Weltregion, schreibt der auf Afrika spezialisierte Demograf Jean-Pierre Guengant im neuen Sammelband «Africa's Population», der im Dezember erscheinen wird. Die Geburtenraten in Schwarzafrika sinken zwar auch, aber der Abwärtstrend begann später, verläuft langsamer und ist in einigen Ländern zum Stillstand gekommen. Die Bevölkerung hat sich im vergangenen Jahrhundert verzehnfacht und wird sich bis 2050 auf rund zwei Milliarden Menschen verdoppeln. 

Der afrikanische Sonderfall hat viele Ursachen: unter anderem mangelnde Bildung, landwirtschaftlich geprägte Gesellschaften oder die weitgehende Abwesenheit von staatlichen Informationskampagnen für Familienplanung. Aber auch wenn sich diese Rahmenbedingungen verbessern sollten, die «youth bulges» bestehen bereits. Und sie werden vermutlich gerade dort zu grossen Konflikten oder Fluchtbewegungen führen, wo die Moderne in Form von Bildung und Urbanisierung bereits voranschreitet, aber ihre Versprechen nicht halten kann. In Uganda etwa, wo 68 Prozent der Bevölkerung jünger als 24 Jahre alt sind und wo jedes Jahr 40 000 Universitätsabgänger um 8000 Stellen kämpfen. Besorgt sind die Experten auch über Äthiopien, das bisher als Stabilitätsanker für das ganze Horn von Afrika galt, aber seit vergangenem November von Unruhen erschüttert wird. Hans Groth, Präsident des St. Galler World Demographic Forum und Mitherausgeber des oben erwähnten Sammelbandes, schätzt Äthiopiens theoretisches Migrationspotenzial in den kommenden Jahrzehnten auf 40 Millionen Menschen. 

Im Vergleich mit den demografischen Übergängen in anderen Weltregionen hat Afrika einen weiteren Nachteil. In Zeiten einer zunehmend automatisierten Produktionsweise lässt sich das chinesische Modell einer Werkbank mit einer fast unbegrenzten Menge an billigen Arbeitskräften kaum mehr kopieren. Ein grosser Teil des Wirtschaftswachstums in Afrika sei «jobless growth», erklärte Aeneas Chuma, der Regionaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation, im vergangenen Jahr in einem Interview. «Es ist riskant, wenn junge, gut ausgebildete und körperlich tüchtige Afrikaner unbeschäftigt sind.»

Insgesamt lässt sich eine optimistischere oder eine pessimistische Schlussfolgerung ziehen. Afrikas Geburtenzahlen sinken langsam, aber in die ähnliche Richtung wie zuvor in allen anderen Weltregionen. Auch Europa ist im Zuge seiner Bevölkerungsexplosion ab dem 16. Jahrhundert durch viele Kriegsjahre gegangen, hat schliesslich aber daraus herausgefunden. Wenn wir dem Einwanderungsdruck nicht allein mit Abschottung begegnen, sondern in Afrika auch geduldig in die Problembewältigung investieren, lassen sich die schlimmsten Gewaltexzesse vielleicht verhindern. Der Historiker Herbert Moller neigte indes zu einer pessimistischen Einschätzung. Die meisten Gesellschaften seien immer schon zu arm, ihre Machtstrukturen zu starr und ihre Bildungseinrichtungen zu schlecht gewesen, um das kreative Potenzial ihrer Jugend zu nutzen, resümiert er in seinem Essay von 1968. «Die grosse Mehrheit des menschlichen Talents bleibt unerkannt und wird verschwendet.»


Nota. - In der Historischen Demographie scheint nur eins festzustehen: dass es Gesetze nicht gibt. Allenfalls kann man sagen, dass wohl ein Zusammenhang besteht zwischen der Geburtenrate und dem Wohlstand: Jahr- tausendeland führte wachsendeer Wohlstand zu höheren Geburtenzahlen, doch ab einem bestimmten Punkt war es umgekehrt. In jeder Weltregion neu. Wo der Punkt jeweils liegt, lässt sich nur mutmaßen. 

Und andererseits ist eine Zuwachs an Menschen auch ein Zuwachs an Produktivkraft - nämlich wenn man sie ernähren und mit Arbeitsmitteln ausrüsten kann; sonst ist er eine Katastrophe. Richtiger gesagt: war der Zu- wachs an Menschen ein Zuwachs an Arbeitskräften; denn mit voranschreitender Digitalisierung werden in der Produktion kaum noch Menschen gebraucht.

In der Produktion werden sie nicht gebraucht, aber ein Reichtum sind sie trotzdem, jedenfalls die vielen Talente, die unter ihnen sind und die auf andern Gebieten auch Großes leisten können. Und da man nicht weiß, welche von ihnen Talente haben - noch, woran man das messen könnte -, sollte man eigentlich diesen Reichtum en gros begrüßen. Denn da wir - vorläufig noch - immer mehr werden und die Erde nicht mitwächst, werden wir ein- fallsreiche Köpfe noch gut gebrauchen können
JE