Mittwoch, 26. Oktober 2016

Globaler Jugendüberschuss und Migrationsdruck.

 aus nzz.ch, 25.10.2016, 05:30 Uhr                                                     revolutionintern

Triebkraft der Weltgeschichte
Die Gefahr der frustrierten Jugend
Die Zukunft lässt sich schwer voraussagen, eines aber scheint gewiss: Wegen der Bevölkerungsentwicklung und einer automatisierten Wirtschaft muss sich Europa auf dauerhafte Zuwanderung einstellen. 

Kommentar von Christian Weisflog

Dass die Jugend die rastlose Kraft der Weltgeschichte ist, mag keine revolutionäre Erkenntnis sein. Von der 68er Bewegung über die Tiananmen-Proteste in China bis zur Arabellion 2011 waren es stets Studenten, die gegen die herrschende Elite aufbegehrten. Ungelöst scheint hingegen das Rätsel, wann der jugendliche Tatendrang zu positiven Erneuerungen führt oder im Gegenteil in zerstörerische Gewalt umschlägt. 

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Historiker Herbert Moller ausgerechnet im bewegten Jahr 1968 einen Essay mit dem Titel «Die Jugend als Kraft in der modernen Welt» veröffentlichte. Ein «ungewöhnlich grosser Anteil» von jungen Erwachsenen trage zur potenziellen Instabilität einer Gesellschaft bei, erkannte Moller. Mit der französischen Revolution und Hitlers Machtergreifung wählte er zwei widersprüchliche Beispiele. In beiden Fällen handelte es sich um sehr junge Gesellschaften. Während die Revoluzzer in Paris jedoch universelle Rechte wie Freiheit und Gleichheit einforderten, propagierte das totalitäre Naziregime eine menschenverachten- de Rassentheorie. Aufgrund stark gesunkener Geburtenraten wuchs die deutsche Bevölkerung 1933 bereits nicht mehr, allerdings sorgte die schwere Weltwirtschaftskrise für verbreitete Jugendarbeitslosigkeit. Dies zeigt zweierlei: Jugendliche Energie kann sich ideologisch auf sehr unterschiedliche Weise entladen. Ob sie zu Frustration und Gewalt führt, hängt auch von anderen Stressfaktoren ab.

Blutiger Kampf um Zukunft

Aber auch wenn demografische Entwicklungen nicht immer alles erklären können, haben sie doch einen entscheidenden Vorteil. Sie ändern sich meist nur langsam und erlauben deshalb einen strategischen Blick in die Zukunft. Das erkannte in den neunziger Jahren auch die CIA. An einer ihrer Konferenzen präsentierte der Geograf Garry Fuller die Theorie des «youth bulge» – des Jugend-Bauches. Am Beispiel von Sri Lanka zeigte er, wie die Bevölkerungsentwicklung die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Singhalesen und Tamilen zu unterschiedlichen Zeitpunkten befeuerte. Es werde kritisch, wenn der Anteil der 15- bis 24-Jährigen auf 20 Prozent der Gesamtpopulation ansteige. Beträgt zudem der Anteil der Altersgruppe der 0- bis 14-Jährigen mindestens 30 Prozent, ist von einem anhaltenden «youth bulge» auszugehen.

Gestützt auf Fullers Theorie thematisierte der deutsche Völkermordforscher Gunnar Heinsohn in seinem Buch «Söhne und Weltmacht» bereits 2003 das demografische Konfliktpotenzial in der islamisch-arabischen Welt. Heinsohn warnte vor Unruhen, Krieg und Terror, weil es im Nahen Osten einerseits zu viele Söhne und andererseits zu wenige gesellschaftliche Positionen gebe, die ihren Ansprüchen genügten. Diese verschärfte Konkurrenz um Zukunftsperspektiven ist für Heinsohn die Ursache, die frustrierte Männer nach radikalen Ideologien suchen lässt, um in ihrem Namen zu töten. Es ist nicht die Ideologie selbst, die zu Gewalt führt. 

Auf den ersten Blick bestätigt der brutale Krieg in Syrien diese Theorie. Der Anteil der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren lag 2011 bei über 21 Prozent. Allerdings hatten Marokko, Jordanien oder Algerien etwa ähnlich junge Gesellschaften. Warum ist es dort nicht zum Krieg gekommen? Die Antwort liegt in Syriens ethnisch-religiösen Spannungen zwischen Sunniten, Alawiten und Kurden. Spannungen, die vom Regime und von Teilen der Opposition während Jahrzehnten für ihre Machtkämpfe instrumentalisiert wurden, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren. Spannungen, die nun wiederum durch die Rivalitäten der Regionalmächte Saudiarabien, Iran und Türkei befeuert werden. Hinzu kommt die durchaus auch ideologisch getriebene Konfrontation (Demokratie contra Autoritarismus) zwischen den USA und Russland. Der zunehmende russische Militarismus unter Wladimir Putin zeigt im Übrigen, dass auch schrumpfende Gesellschaften zu Gewalt neigen können. Grosse Eroberungszüge sind angesichts der knappen Jugend allerdings schwierig. Nicht umsonst hat der Kreml den Tod russischer Soldaten gesetzlich unter Geheimhaltung gestellt. 

Ein grosser Jugendanteil ist wie ein Brennstoff, der je nach Umständen durch andere Faktoren entzündet oder entschärft wird. Die jugendliche Energie kann sowohl einen Krieg befeuern als auch eine boomende Wirtschaft antreiben. Je grösser indes der Nachwuchs ist, desto schwieriger scheint es, ein friedliches Ventil für ihn zu finden. 

Sonderfall Afrika

Die gute Nachricht für Nordafrika und den Nahen Osten ist, dass die «youth bulges» abklingen. Entgegen dem verbreiteten Vorurteil ist der Islam kein entscheidender Faktor für die Geburtenraten. Selbst in Saudiarabien bringt eine Frau heute im Durchschnitt weniger als drei Kinder auf die Welt. In der Islamischen Republik Iran fiel die Geburtenrate ab 1985 innerhalb von 15 Jahren von über 6 auf unter 2 Kinder pro Frau. Ursache dafür war vor allem die bessere Bildung der Frauen sowie eine bessere Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung der ländlichen Gebiete.

 Der Demograf Youssef Courbage und der Politologe Emmanuel Todd hatten aufgrund dieser Entwicklung die Arabellion bereits 2007 in ihrem Buch «Die unaufhaltsame Revolution» vorausgesagt. Eine gebildete, urbane Jugend geht für moderne Werte – Freiheit, Gleichheit und politische Partizipation – auf die Strasse. Die Umwälzungen und Kriege sind demnach bloss «Krisen des Übergangs» und der Islamismus ein verzweifeltes Rückzugsgefecht der Traditionalisten. Angesichts sinkender Kinderzahlen, so die Hoffnung, sollten die arabischen Staaten nach dem ostasiatischen Vorbild nun ihre «demografische Dividende» ernten können. Die jungen Gesellschaften, die weniger Kinder und alte Menschen versorgen müssen, können vermehrt in höhere Bildung, Forschung, in Infrastruktur oder private Unternehmen investieren. 

Bis jetzt jedoch fallen die Früchte der Arabellion sehr enttäuschend aus. Die eigentliche demografische Zeitbombe – mit der Ausnahme von Pakistan – aber tickt in Subsahara-Afrika. Es handle sich um eine «einzigartige» Weltregion, schreibt der auf Afrika spezialisierte Demograf Jean-Pierre Guengant im neuen Sammelband «Africa's Population», der im Dezember erscheinen wird. Die Geburtenraten in Schwarzafrika sinken zwar auch, aber der Abwärtstrend begann später, verläuft langsamer und ist in einigen Ländern zum Stillstand gekommen. Die Bevölkerung hat sich im vergangenen Jahrhundert verzehnfacht und wird sich bis 2050 auf rund zwei Milliarden Menschen verdoppeln. 

Der afrikanische Sonderfall hat viele Ursachen: unter anderem mangelnde Bildung, landwirtschaftlich geprägte Gesellschaften oder die weitgehende Abwesenheit von staatlichen Informationskampagnen für Familienplanung. Aber auch wenn sich diese Rahmenbedingungen verbessern sollten, die «youth bulges» bestehen bereits. Und sie werden vermutlich gerade dort zu grossen Konflikten oder Fluchtbewegungen führen, wo die Moderne in Form von Bildung und Urbanisierung bereits voranschreitet, aber ihre Versprechen nicht halten kann. In Uganda etwa, wo 68 Prozent der Bevölkerung jünger als 24 Jahre alt sind und wo jedes Jahr 40 000 Universitätsabgänger um 8000 Stellen kämpfen. Besorgt sind die Experten auch über Äthiopien, das bisher als Stabilitätsanker für das ganze Horn von Afrika galt, aber seit vergangenem November von Unruhen erschüttert wird. Hans Groth, Präsident des St. Galler World Demographic Forum und Mitherausgeber des oben erwähnten Sammelbandes, schätzt Äthiopiens theoretisches Migrationspotenzial in den kommenden Jahrzehnten auf 40 Millionen Menschen. 

Im Vergleich mit den demografischen Übergängen in anderen Weltregionen hat Afrika einen weiteren Nachteil. In Zeiten einer zunehmend automatisierten Produktionsweise lässt sich das chinesische Modell einer Werkbank mit einer fast unbegrenzten Menge an billigen Arbeitskräften kaum mehr kopieren. Ein grosser Teil des Wirtschaftswachstums in Afrika sei «jobless growth», erklärte Aeneas Chuma, der Regionaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation, im vergangenen Jahr in einem Interview. «Es ist riskant, wenn junge, gut ausgebildete und körperlich tüchtige Afrikaner unbeschäftigt sind.»

Insgesamt lässt sich eine optimistischere oder eine pessimistische Schlussfolgerung ziehen. Afrikas Geburtenzahlen sinken langsam, aber in die ähnliche Richtung wie zuvor in allen anderen Weltregionen. Auch Europa ist im Zuge seiner Bevölkerungsexplosion ab dem 16. Jahrhundert durch viele Kriegsjahre gegangen, hat schliesslich aber daraus herausgefunden. Wenn wir dem Einwanderungsdruck nicht allein mit Abschottung begegnen, sondern in Afrika auch geduldig in die Problembewältigung investieren, lassen sich die schlimmsten Gewaltexzesse vielleicht verhindern. Der Historiker Herbert Moller neigte indes zu einer pessimistischen Einschätzung. Die meisten Gesellschaften seien immer schon zu arm, ihre Machtstrukturen zu starr und ihre Bildungseinrichtungen zu schlecht gewesen, um das kreative Potenzial ihrer Jugend zu nutzen, resümiert er in seinem Essay von 1968. «Die grosse Mehrheit des menschlichen Talents bleibt unerkannt und wird verschwendet.»


Nota. - In der Historischen Demographie scheint nur eins festzustehen: dass es Gesetze nicht gibt. Allenfalls kann man sagen, dass wohl ein Zusammenhang besteht zwischen der Geburtenrate und dem Wohlstand: Jahr- tausendeland führte wachsendeer Wohlstand zu höheren Geburtenzahlen, doch ab einem bestimmten Punkt war es umgekehrt. In jeder Weltregion neu. Wo der Punkt jeweils liegt, lässt sich nur mutmaßen. 

Und andererseits ist eine Zuwachs an Menschen auch ein Zuwachs an Produktivkraft - nämlich wenn man sie ernähren und mit Arbeitsmitteln ausrüsten kann; sonst ist er eine Katastrophe. Richtiger gesagt: war der Zu- wachs an Menschen ein Zuwachs an Arbeitskräften; denn mit voranschreitender Digitalisierung werden in der Produktion kaum noch Menschen gebraucht.

In der Produktion werden sie nicht gebraucht, aber ein Reichtum sind sie trotzdem, jedenfalls die vielen Talente, die unter ihnen sind und die auf andern Gebieten auch Großes leisten können. Und da man nicht weiß, welche von ihnen Talente haben - noch, woran man das messen könnte -, sollte man eigentlich diesen Reichtum en gros begrüßen. Denn da wir - vorläufig noch - immer mehr werden und die Erde nicht mitwächst, werden wir ein- fallsreiche Köpfe noch gut gebrauchen können
JE


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