«Vielleicht sollten die Belgier nach Kongo zurückkehren»: So überschreibt die NZZ heute einen Beitrag über ein neues Buch des amerikanischen Politologen Bruce Gilley.
"Können
die Probleme in Teilen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens mit der
kolonialen Vergangenheit erklärt werden? Die Frage treibt die
Wissenschaft seit langem um. Eindeutige Antworten gibt es trotz zahlreichen Studien zwar nicht, zumal nicht solche, die über alle
Kontexte hinweg Gültigkeit hätten. In der Tendenz sind sich die
Politologen, Ökonomen und Historiker jedoch einig: Der Kolonialismus war
nicht nur moralisch verwerflich, er hatte auch einen insgesamt
negativen Einfluss auf die Entwicklung der betroffenen Gebiete und hat
gewisse postkoloniale Konflikte und Missstände zumindest mit verursacht.
In
der jüngsten Ausgabe des Journals «Third World Quarterly», das trotz
seinem rückständigen Namen zu den renommierteren Publikationen im
Bereich der Entwicklungsstudien gehört, plädiert der Amerikaner
ohne Umschweife dafür, die «abfällige Bewertung des Kolonialismus»
grundsätzlich zu revidieren. Die Besetzung sei der Entwicklung der
betroffenen Länder nämlich «objektiv zuträglich» und legitim gewesen.
Als
Beispiel nennt der Autor unter anderem Guinea-Bissau: In der kleinen
westafrikanische Ex-Kolonie Portugals seien während und nach dem
Unabhängigkeitskampf Tausende von Menschen getötet oder vertrieben
worden. Was unter Portugals Ägide zu einem «wohlhabenden Macau Afrikas»
hätte werden können, sei heute eine «Kloake menschlichen Leidens». Eine
Ausnahme sei das Land nicht, so Gilley. In rund der Hälfte der
ehemaligen Kolonien habe die Unabhängigkeit zu «ähnlichen Traumata»
geführt.
Gilley
schliesst daraus, dass nicht nur das Erbe des Kolonialismus überdacht
werden muss, sondern dieser auch wiederbelebt werden sollte: «100 Jahre
des Desasters sind genug. Es wird Zeit, wieder für Kolonialismus zu
werben.» Gerade in fragilen und schwachen Staaten sei eine neuerliche
Kolonialisierung durch den Westen eine valable Option. «Vielleicht
sollten die Belgier nach Kongo zurückkehren», so Gilley."
Wie zu erwarten, brach ein Sturm der Entrüstung los. Zehntausend Wissenschaftler unterzeichneten eine Petition, die den Herausgeber Shahid Qadir aufforderte, den Beitrag aus dem Heft zu nehmen. Das tat der nicht, sondern entgegnete, ein Blatt wie seines sei dazu da, kontroverse Meinungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Da hat die Hälfte seiner Redaktion gekündigt.
Ich für mein' Teil kann mir unter der Aussage, der Kolonialismus sei eventuell legitim gewesen, nichts vorstellen. Das ist keine Tatsachenfeststellung, sondern ein Werturteil. Auf welchen Maßstab könnte es sich gründen? Ob der Kolonialismus indesssen "objektiv zuträglich" gewesen ist, müsste sich an Fakten messen lassen. Solche kann ich nicht erkennen, aber der Aufsatz stellt immerhin die Denkvorschrift in Frage, er sei selbstverständlich objektiv schädlich gewesen,
Die Annahme, er habe eine autochtone Entwicklung verhindert, unterstellt, dass es eine solche wenigstgens im Ansatz gegeben hat oder mit einiger Wahrhscheinlichkeit hätte geben können. Das ist in einem der afrikanischen Länder jedoch nicht zu beobachten.
Nehmen wir Belgisch-Kongo: Patrice Lumumba war, heißt es, als er Premierminister wurde, einer von nur vier kongolosischen Universitätsabsolventen. Das beweist ohne Frage die Heuchelei der kolonialen Progaganda, die Europäer hätten "die Kultur" nach Afrika gebracht. Es beweist aber nicht, dass es am Kongo ohne die Belgier mehr Universitätsabgänger gegeben hätte.
Das ist der Schlüssel für den Aufbau stabiler und rationeller staatlicher Strukturen nicht nur in Afrika: die Entwicklung einer gebildeten und ipso facto zivilisierten Oberschicht, die über den ethnischen Trennungslinien steht. Dazu hat es in dem halben Jahrhundert staatlicher Unabhängigkeit in Afrika nirgendwo erkennbare Ansätze gegeben. Freilich: dort, wo sich die Kolonialherren eine solche Elite herangezüchtet hatten, trat sie als ihre Komplizin und Agentin in Erscheinung, mit der Folge, dass sie im Moment der Unabhängigkeit zumeist verjagt (und ausgeplündert) wurde. Eine solitäre Ausnahme ist Sambia, das ehemalige Nord-Rhodesien; es ist nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Zur Rechtfertigung und womöglich Neubegründung des Kolonialismus taugt sie kaum.
Doch darum ist es Bruce Gilley im Ernst vielleicht nicht gegangen; aber sicher um die Aufmerksamkeit, die er für den Skandal gefunden hat, die Probleme Afrikas anders als in korrekter Sprache zu diskutieren.
JE