Dienstag, 29. Juli 2014

China: Zerfällt das Machtzentrum?

Chinas Antikorruptionsbehörde ermittelt gegen den ehemaligen Sicherheitschef des Landes, Zhou Yongkang (Bild: Archivaufnahme von 2007).
aus nzz.ch, 29. Juli 2014, 14:36

Korruptionsvorwürfe gegen ranghohen Funktionär
Es ist der bisher prominenteste Fall von Korruptionsermittlungen: China hat ein Korruptionsverfahren gegen den ehemaligen Sicherheitschef Zhou Yongkang eingeleitet.

(dpa/ap) China hat erstmals ein Korruptionsverfahren gegen ein ehemaliges Mitglied des höchsten Machtzirkels im Land eingeleitet. Die Behörden ermitteln gegen den ehemaligen Leiter des staatlichen Sicherheitsapparats, Zhou Yongkang. Wie am Dienstag auf der Internetseite der Antikorruptionsbehörde - der Zentralkommission für Disziplinkontrolle - mitgeteilt wurde, geht es um schwerwiegende Verletzungen der Parteidisziplin. Nähere Details wurden nicht genannt. Auf ähnliche Ankündigungen in der Vergangenheit folgten jedoch meist der Parteiausschluss und ein Strafprozess. Nie zuvor ist einem früheren oder amtierenden Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros der Prozess gemacht worden.

Ehemaliger Chef des Inlandsgeheimnisses

Bis zu seinem Rückzug im Jahr 2012 gehörte der 71-Jährige zu den mächtigsten und gefürchtetsten Männern des Landes. Als Chef der Inlandsgeheimdienste hatte Zhou auch Zugang zu Informationen über andere ranghohe Politiker, die möglicherweise ein Risiko für seine Macht darstellten. Zudem war er einer von neun Mitgliedern des innersten Zirkels der Partei. Um die Einheit der Partei nicht zu gefährden, galten dessen Mitglieder bislang als Tabu für die umfassenden Korruptionsermittlungen.


Unter der Ägide von Zhou wurde der gewaltige Sicherheitsapparat weitreichend ausgebaut. Er stützte sich auf ein grosses Netz von Gefolgsleuten aus seiner Zeit als Spitzenmanager der staatlichen Ölindustrie, als Parteichef der Provinz Sichuan, als Polizeiminister und dann als mächtiges Mitglied im Politbüro. Aber sehr viele seiner alten Vertrauten sind in den vergangenen Monaten selbst zum Ziel von Korruptionsermittlungen geworden.

Akt der Machtdemonstration des Präsidenten

Mit der Ankündigung vom Dienstag enden monatelange Spekulationen über das Schicksal Zhous. Die Nachrichtenagentur Reuters hatte bereits im Dezember berichtet, dass der 71-jährige Zhou wegen Korruptionsverdachts im Prinzip unter Hausarrest gestellt wurde. Ohne Erlaubnis dürfe er sein Haus in Peking nicht verlassen oder Gäste empfangen, war aus Parteikreisen zu erfahren.

Zuvor waren bereits mehrere ranghohe Beamte und bedeutende Geschäftsleute ins Visier der Korruptionsermittler geraten.

Zugleich wird deutlich, wie mächtig der Staats- und Parteichef Xi Jinping mittlerweile ist, dass er auch gegen die ranghöchsten Mitglieder des Staatsapparats vorgehen kann. Kurz nach seinem Amtsantritt vor mehr als einem Jahr hatte Xi eine grossangelegte Anti-Korruptions-Kampagne angestossen. Der neue Präsident will sowohl gegen «Fliegen» als auch mächtige «Tiger» vorgehen, womit er korrupte Funktionäre sowohl auf unterer als auch auf höchster Ebene meint. Seitdem sind Dutzende mächtiger Staatskonzerne ins Visier geraten. Viele mächtiger Funktionäre sind in den vergangenen Monaten über Korruptionsermittlungen gestürzt.

Freitag, 25. Juli 2014

Der Mensch im Netz.

Livingathome

Kay Gropp 
Pressestelle
Universität Witten/Herdecke  

25.07.2014 10:48

Prof. Dr. Birger P. Priddat beschreibt in seinem neuen Buch “Homo Dyctos“ (Netzmensch) den Zusammenhang von Wirtschaft und Denken

Im Jahr Eins nach den Enthüllungen von Edward Snowden zu den Methoden der NSA im Netz steht das Internet plötzlich vor einem großen Imageschaden: Vorher die große Hoffnung auf die große Freiheit und das jederzeit sofort überall dabei sein, nachher die bedrohliche Schnüffelmaschine, die die Privatsphäre zur Lachnummer macht. Für den Philosophen und Volkswirt der Universität Witten/Herdecke, Prof. Dr. Birger P. Priddat, ein Grund genauer hin zu sehen: Er untersucht drei Phänomene: Verhaltensänderungen des Menschen im Umgang mit und durch das Internet, Big Data und den Hochgeschwindigkeitshandel an den Börsen.

Priddat versucht hierbei, z.B. das Phänomen der Urheberrechtsverletzungen im Internet neu zu verstehen. Massenhafter und in einer juristischen Welt verbotener Download von Filmen und Musik gehört zu einem „remix“ von Bildern und Tönen, die in Blogs und Foren wie Facebook oder tumblr eine neue Art der Selbstdarstellung und der „ich-Konstruktion“ ermöglichen. „Der Konsum ist nicht mehr nur private Aneignung, sondern nimmt netz-öffentliche Formen an. Der Konsum erfolgt durch die Anderen, denen man sich so präsentiert. Man selber konsumiert deren Anerkennung bzw. Resonanz.“ (S. 15f) Oder an anderer Stelle geht er auf die Allgegenwärtigkeit des Netzes ein: „Das Inter-Netz forciert nicht nur das Gefühl, weltweit überall zugreifen zu können (permanent access) und dabei zu sein (high level presence), sondern auch das – aus klassischer Perspektive dilettierende – Probieren neuer Konstellationen (creativity). Wahrnehmungen (und deren remixe) gelten bereits schon als Wissen“. (S. 37f)

Die Überwachung unserer Klicks bei Amazon und Co führt zu persönlichen Profilen, die mir nur noch die Werbung zeigt, die ich auch mag und mich interessiert. Durch diese Datenberge (Big Data) verändert sich aber nicht nur mein Konsum. Indem ich viel individueller angesprochen und zum Kaufen angereizt werde, verändert sich auch ein Teil meiner Persönlichkeitsstruktur.

Zum Hochgeschwindigkeitshandel an den Börsen: Das hektische Treiben auf dem Börsenparkett, das Ballett der Händler mit ihrem Winken, das alles ist verglichen mit dem Hochgeschwindigkeitshandel der Computer eine Superzeitlupe: Zum Jahreswechsel 2012/13 konnten die Rechner in jeder Sekunde 250.000 Aktienkäufe bzw. –verkäufe durchführen, 2014 werden es vermutlich schon 400.000 sein. Diese hohe Geschwindigkeit nutzen die Programme dazu, Käufe anzufragen und Millisekunden später wieder abzusagen, nur um zu sehen, ob jemand drauf anspringt und wo das Geld sitzt. Smoking und spoofing heißt das auf Börsendeutsch. 80% der Aufträge im Hochgeschwindigkeitshandel der deutschen Börse werden wieder storniert. Aber wenn man auch nur eine Aktie für einen Cent über dem Einkaufspreis wieder verkaufen kann, bringt das im großen Maßstab großen Gewinn: In der Börsenrushhour zwischen 15 und 16 Uhr wurden 2013 pro Tag 70 – 80 Millionen Wertpapiere gehandelt, macht rein theoretisch 700.000 – 800.000 Euro Gewinn täglich. Die Deutsche Bank verdient 40 Prozent ihrer Gesamterträge im Wertpapierbörsenhandel. „Der Hochgeschwindigkeitshandel verändert unsere Vorstellungen von Akteuren und von Zeit. Und: Er führt zu einer Veränderung bei unserer Vorstellung von ‚Entscheidung‘, denn tatsächlich entscheidet die Maschine ja nicht, sie reagiert nur so schnell, dass es wie eine Entscheidung aussieht“, fasst Priddat die Auswirkung zusammen. „Wenn wir das jetzt auf uns Menschen übertragen, dann fehlt das Moment des rationalen Vergleichens und Entscheidens, was ja den Kern der Ökonomik mit dem vernünftigen und informierten Subjekt ausmacht. Diese Rationalität entpuppt sich als Zeitluxus, weil keine Zeit mehr zum Überlegen bleibt. Das erst mal zu verstehen, ist eine bedeutsame Anforderung an die Theorien, die wir bislang noch vor uns haben.“

Birger P. Priddat: Homo Dyctos. Netze, Menschen, Märkte. Über das neue Ich: market-generated identities. Marburg: Metropolis 2014
http://www.metropolis-verlag.de/Homo-Dyctos/1067/book.do

Weitere Informationen bei Birger P. Priddat, 02302/926-582, birger.priddat@uni-wh.de
http://www.uni-wh.de/universitaet/personenverzeichnis/details/show/Employee/prid...

Donnerstag, 24. Juli 2014

Der Vergangenheit die Zukunft.

Segantini, Rückkehr ins Dorf

Land mit Aussicht 

Ruth Müller 
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung  

 24.07.2014 08:54

In einer Studie hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2009 den demografischen und wirtschaftlichen Erfolg des westlichen Niedersachsens analysiert und sich dabei nicht nur auf Zahlen verlassen.

Im westlichen Niedersachsen entstehen Jobs. Das ist ungewöhnlich für eine ländliche Gegend. Und die Region um Vechta und Cloppenburg, das Oldenburger Münsterland, gewinnt sogar Einwohner hinzu. Das hat das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) in Zusammenarbeit mit der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers herausgefunden.

Bereits im Jahr 2009 analysierte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung die Gründe für den wirtschaftlichen und demografischen Erfolg dieser Region in seiner Studie „Land mit Aussicht“ – sowohl auf Basis wirtschaftlicher und demografischer Daten als auch in Interviews mit den Einheimischen.

Demnach zeichnen sich die Oldenburger Münsterländer durch starke familiäre Bande aus. Junge Paare bekommen früh Kinder und können sich darauf verlassen, dass sie von der Verwandtschaft unterstützt werden. „Anders als in vielen anderen Gegenden Deutschlands leben im Oldenburger Münsterland viele Familien in Mehrgenerationenhaushalten. Großeltern können sich dort deshalb noch um ihre Enkel kümmern und Kinder wiederum um ihre pflegebedürftigen Eltern“, so Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts.

Gleichzeitig seien über 80 Prozent der Oldenburger Münsterländer in Vereinen oder in der Kirche aktiv. Dadurch sei der gesellschaftliche Zusammenhalt besonders hoch. Das befördere auch den großen wirtschaftlichen Erfolg. „Im Oldenburger Münsterland besteht ein dichtes Netz mittelständischer Unternehmen. Sie alle arbeiten eng miteinander zusammen“, sagt Klingholz. „Die Oldenburger Münsterländer haben es zusammen geschafft, aus ihrer ländlichen Struktur Kapital zu schlagen.“

Das war möglich, indem sie eine geschlossene Wertschöpfungskette von der Futtermittelproduktion über Viehzucht, Fleischverarbeitung, Maschinenbau, Verpackungsindustrie, Düngemittelherstellung bis hin zum Pharmaunternehmen erschlossen. „Das schafft nicht nur Arbeitsplätze. Der wirtschaftliche Erfolg führt auch zu einem positiven Selbstbild und zu einer noch engeren Verbundenheit mit der Region. Für die demografische und wirtschaftliche Zukunft des Oldenburger Münsterlands kann das nur von Vorteil sein“, erklärt Reiner Klingholz.

Die Studie erreichen Sie kostenfrei unterhttp://www.berlin-institut.org/publikationen/studien/land-mit-aussicht.html

Dienstag, 22. Juli 2014

Nach Bretton Woods der Schuldenstaat.

US-NIXON-RESIGNATION 3
aus Die Presse, Wien, 13. 7. 2014

Das kurze Leben von Bretton Woods
Im Juli 1944 wurde im amerikanischen Bretton Woods erstmals in der Geschichte ein formelles internationales Geldsystem geschaffen. Es hielt nur 25 Jahre lang.

Das Jahr 1944 verbrachte der spätere US-Präsident Richard Nixon als Navy-Offizier auf der Insel Bougainville, nordöstlich von Australien. Über seine Kriegserfahrungen ist nicht viel bekannt. In später veröffentlichten Briefen an seine Frau Patricia berichtete Nixon bloß von seinen Erfolgen beim Kartenspielen: „Liebste, du fragst wie viel der 675 Dollar aus Pokergewinnen stammen. Alles! Ich habe inzwischen sogar mehr als tausend gewonnen.“

Im selben Jahr stritten die Ökonomen Harry Dexter White und John Maynard Keynes im Mount Washington Hotel in Bretton Woods im US-Bundesstaat New Hampshire über die Zukunft der Welt. Genauer: über die Frage, wie das Geldsystem der Zukunft aussehen soll. Sie waren freilich nicht allein. Genau 730 Delegierte aus allen 44 Ländern der Alliierten waren von 1. bis 22.Juli 1944 in dem Hotel einquartiert. Aber White, der im Auftrag des US-Finanzministeriums dort war, und Keynes, der die britische Regierung vertrat, waren die mit Abstand wichtigsten Personen.

„Barbarisches Relikt“. 

Beide hatten einen Plan mitgebracht und waren eng in die zwei Jahre andauernden Vorbereitungen für die Konferenz eingebunden. Keynes repräsentierte das Imperium der Vergangenheit: Großbritannien. White sprach für die Supermacht der Zukunft: die Vereinigten Staaten. Und obwohl bis heute gern behauptet wird, dass das Bretton-Woods-System von Keynes entworfen wurde, war es White, der sich durchsetze.

Man mag es kaum glauben, aber die Konferenz im Sommer 1944 war der allererste Versuch, ein formelles internationales Geldsystem zu etablieren. In den Jahrhunderten davor basierten die Währungen fast immer auf Gold, Silber oder einer Kombination der beiden Metalle. Die Etablierung des klassischen Goldstandards, der bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs galt, wird meist mit 1717 datiert.

Der damalige Münzmeister Englands Sir Isaac Newton erließ eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen Gold und Silber, was das zweite Metall aus dem Umlauf verdrängte und de facto den Goldstandard etablierte. Die übrigen Länder folgten im Laufe der Jahrzehnte – ohne große Konferenz. John Maynard Keynes wird gern mit der Aussage zitiert, der Goldstandard wäre ein „barbarisches Relikt“.

Dabei wird aus heutiger Sicht aber vergessen, dass ein Geldsystem ohne eine gewisse Bindung an Gold den Ökonomen der damaligen Zeit komplett unvorstellbar war. Tatsächlich waren sich Keynes und Harry Dexter White in diesem Punkt einig: „Beide sahen Gold eine monetäre Rolle spielen“, schreibt Benn Steil in seinem Buch „The Battle of Bretton Woods“. Was herauskam, war ein System, in dem nur noch die US-Währung an Gold gebunden war – und die übrigen Währungen zu einem fixen Kurs an den Dollar. Es war eine Art Goldstandard light. Nur ausländische Zentralbanken konnten ihre Dollar in Gold tauschen. Den Amerikanern war der private Goldbesitz sogar verboten. Keynes dachte aber noch viel weiter. Er wollte eine Weltwährung schaffen, den Bancor. Damit sollte verhindert werden, dass eine einzelne Nation ihre Vormachtstellung auf dem Währungsmarkt missbrauchen kann. Die Logik der Briten war simpel: Wenn wir die Weltwährung nicht mehr ausgeben, dann soll es auch keine andere Nation dürfen. Der Amerikaner White war naturgemäß anderer Meinung. Keynes Idee wurde aber nicht vollkommen verworfen. Auf der Konferenz in Bretton Woods wurden auch der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Vorgängerin der Weltbank geschaffen.

Der IWF ist seither Herr über die sogenannten Sonderziehungsrechte, eine Esperanto-Währung, die sich aus einem Korb anderer Währungen zusammensetzt. Diese Sonderziehungsrechte hätten theoretisch das Potenzial, zu einer Weltwährung ausgebaut zu werden. Seit der Krise von 2008 wird diese Idee auch immer wieder vorgebracht. Da aber die USA ihre Sperrminorität im IWF nicht aufgeben wollen, die man sich in Bretton Woods gesichert hat, wird es wohl nicht dazu kommen. Die Etablierung des Euro und der Aufstieg Chinas haben Keynes Plan von der Weltwährung zusätzlich obsolet gemacht.

Neun Jahre. 

Aber auch Whites Erfolg war nicht so nachhaltig wie man glauben mag – auch wenn der Dollar bis heute die Weltwährung Nummer eins ist. Tatsächlich war das System von Bretton Woods nur „relativ kurz“ in Verwendung, schreibt der US-Ökonom Michael D. Bordo. Demnach sei das System nur von 1958 bis 1968 im Vollumfang aktiv gewesen: neun Jahre lang. 1968 brach das Londoner Goldpool zusammen, dessen Aufgabe es war, den Goldpreis so zu manipulieren, dass er dem fixen Wechselkurs des Dollar zum Gold entsprach: 35 Dollar pro Unze. Und selbst, wenn man von 1946 an rechnet, als das Bretton-Woods-System der festen Wechselkurse eingeführt wurde, hat es nur 25 Jahre lang gehalten. Denn dann kam Richard Nixon.

Nach dem Kollaps des Londoner Goldpools gab es zwei Goldpreise: den freien Marktpreis und den fixen Dollar-Preis. Die US-Regierung konnte ihre ausländischen Partner 1971 aber nicht mehr länger davon abhalten, große Mengen Dollar in Gold zu tauschen. Es kam zu einem Bank Run. Am 15.August 1971 hielt Präsident Richard Nixon eine Fernsehansprache und erklärte, er werde die Eintauschbarkeit des Dollar in Gold „vorrübergehend“ aufheben. De facto erklärte er damals die Zahlungsunfähigkeit der Vereinigten Staaten – aber der Rest der Welt akzeptierte die Entscheidung. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Denn was auf den Nixon Shock folgte, wäre fast in eine globale Finanzkatastrophe ausgeartet. Der US-Dollar wertete gegenüber wichtigen ausländischen Währungen wie der Deutschen Mark rapide ab. Die Fernsehnachrichten berichteten von amerikanischen Touristen, deren Dollar in Tokio nicht mehr akzeptiert würden.

Aber die ultimative Katastrophe blieb aus. Nixon unternahm einen letzten Versuch, das Bretton-Woods-System zu retten. Im Rahmen der G10 wurde 1971 das Smithsonian Agreement vereinbart, der Dollar wurde um acht Prozent abgewertet. Nixon nannte die Vereinbarung damals „das wichtigste monetäre Abkommen in der Geschichte“. Er lag extrem daneben. Nach nur zwei Jahren kollabierte auch das Smithsonian Agreement. Die Wechselkurse der Währungen wurden zur freien Fluktuation freigegeben. Seitdem nutzt die ganze Welt Währungen, die nicht an ein Metall gebunden sind (Fiat Money – von lat. fiat: Es werde Geld).

Heute gibt es kein System.  

Was folgte, nannte der französische Ökonom Jacques Rueff, der auch das Ende von Bretton Woods vorhergesagt hatte, das „Zeitalter der Inflation“. Nach dem Ende von Bretton Woods schoss der freie Goldpreis auf mehr als 800 Dollar– bevor der damalige Chef der US-Zentralbank Paul Volker den Dollar durch eine dramatische Zinsanhebung wieder stabilisieren konnte. Ein formelles Geldsystem existiert seit 1973 gar nicht mehr, der Dollar konnte seine Rolle als Weltreservewährung aber weiter behalten – auch weil es in den 1970ern keine echte Alternative gab. Erst mit der Einführung des Euro 1999 wurde wieder ein neues Kapitel aufgeschlagen.




Montag, 21. Juli 2014

Die Dampfmaschine.

jobs.NZZ.ch Wärmkraftmaschine
aus nzz.ch, 7. Juli 2014, 09:28

Errungenschaften der Technik 
Kraft aus Dampf

von Lucien F. Trueb 

Das Prinzip der Wärmekraftmaschine – dazu gehören unter anderem die klassische Kolben-Dampfmaschine und die Dampfturbine – war schon in der Antike bekannt. Der griechische Mathematiker Heron von Alexandria, der im 1. Jh. n. Chr. lebte, beschrieb in seinem Werk «Pneumatika» eine auf dem Rückstossprinzip basierte Dampfturbine, die er Aeolipile nannte.

Es handelte sich um eine drehbar gelagerte Kugel, in welche über die hohlen Achsen Dampf aus einem holzbefeuerten Kessel eingeleitet wurde. Der Dampf wurde über zwei entgegengesetzt abgewinkelte Rohre ausgestossen und brachte die Kugel bis auf 1500 Umdrehungen pro Minute. Herons Kugel war als Spielzeug konzipiert; moderne Nachbildungen ergaben, dass der Wirkungsgrad sehr schlecht war.
 
Bergwerke entwässern

Mehr als eineinhalb Jahrtausende vergingen, bis Wasserdampf zum Verrichten nützlicher Arbeit eingesetzt wurde. In diesem Zusammenhang muss gleich festgehalten werden, dass James Watt (1736-1819) nicht der Erfinder der Dampfmaschine war; allerdings hat er sie wesentlich verbessert. Die allererste Kolbendampfmaschine baute der Franzose Denis Papin (1647-1712) zum Antrieb einer Pumpe. Der in seinen Zylinder geleitete Dampf kondensierte unter der Wirkung von eingespritztem, kaltem Wasser, wobei der atmosphärische Druck den Kolben in den Zylinder drückte.

Die britischen Pioniere der Dampfmaschine waren Thomas Savery (1650-1715) und Thomas Newcomen (1663-1729). Newcomens Maschine diente schon 1712 – lange vor Watts Geburt – zum Abpumpen von Wasser in einem Bergwerk. Ihr Betrieb war trotz dem Wirkungsgrad von weniger als 1 Prozent im Vergleich zum Einsatz von Pferden durchaus rentabel. Auch bei den britischen Vorreitern handelte es sich um sogenannte atmosphärische Dampfmaschinen, bei denen das im Zylinder erzeugte, grobe Vakuum den Arbeitstakt ausführte.
 
James Watt und die Pferde

An diese Entwicklungen anschliessend, baute James Watt ab 1769 die ersten Niederdruck-Dampfmaschinen, bei denen auch das Füllen des Zylinders ein Arbeitstakt war. Watts wichtigste Erfindung war jedoch die doppelt wirkende Dampfmaschine, bei welcher der Kolben abwechslungsweise von beiden Seiten her mit Dampf angetrieben wurde. Zudem kühlte man den ausgestossenen Dampf in einem externen Kondensator und rezyklierte das Wasser. Die optimierte Betätigung der Dampfschieber sowie der (bereits existierende) Fliehkraftregler brachten den Wirkungsgrad von Watts Maschinen bis auf 3 Prozent.

Um die Leistung seiner Dampfmaschinen quantitativ angeben zu können, erfand James Watt auch die Pferdestärke (PS). Nach langen Gesprächen mit Mühlenbauern fand er, dass ein langfristig gesund bleibendes Pferd während eines zehnstündigen Arbeitstags nicht mehr als 10 Prozent seines Körpergewichts bei einer Geschwindigkeit von 4 bis 5 km/h bewegen sollte. Daraus ergibt sich die Einheit PS, wobei eine Pferdestärke 735,5 Watt entspricht. Kurzfristig kann ein Pferd bis zu 15 PS leisten, doch wird es dabei richtiggehend geschunden.
 
Industrielle Revolution

Im Sinne höherer Leistungen und eines besseren Wirkungsgrades führte die Entwicklung zu immer höheren Drücken und Temperaturen. Dazu benötigte man Stähle hoher Festigkeit – Ansporn für die Metallurgie. Eine Hochdruckdampfmaschine wurde schon 1801 zum Antrieb eines Strassenfahrzeugs eingesetzt. Man verzichtete auf den Kondensator, um Gewicht einzusparen: Der Dampf wurde gleich nach der Entspannung im Zylinder ausgestossen. Ein wichtiger Fortschritt war zudem die Compound-Maschine, bei welcher der vom Hochdruckzylinder ausgestossene Dampf einem oder mehreren Niederdruckzylindern zugeführt wurde und weitere Arbeit leistete.

Die Dampfmaschine revolutionierte nicht nur den Bergbau, sondern auch die Textil- und Metallindustrie. Man identifiziert sie mit der industriellen Revolution. Im Transportwesen wurden mit der Dampflokomotive und dem Dampfschiff im 19. Jahrhundert völlig neue Horizonte erschlossen. Wer Geld hatte, konnte nun komfortabel rund um die Welt reisen. Doch ab dem 20. Jahrhundert wurde die Kolbendampfmaschine durch die ohne Vorerwärmung startenden Verbrennungsmotoren verdrängt.
 
1800 Megawatt Leistung

Bei den fossil befeuerten beziehungsweise nuklearen Kraftwerken spielt Dampf weiterhin die zentrale Rolle, doch dient er zum Antrieb von hocheffizienten Dampfturbinen. Ihre massive, mit zahlreichen Kränzen von Schaufeln bestückte Welle ist zum Sinnbild der modernen Technik geworden. Im Hochdruckteil sind die Schaufeln sehr kurz, sie werden zur optimalen Nutzung des bereits teilweise entspannten Dampfs immer grösser und können eine Länge von über zwei Metern erreichen. Die zum Antrieb eines Generators dienenden Dampfturbinen erreichen Leistungen um 1800 Megawatt.




aus nzz.ch, 25. Juli 2012, 08:58


Dampfmaschine
Mehr Kunst als Wissenschaft

von Marcel Hänggi ⋅ «Technik ist der Kunst näher verwandt als der Wissenschaft», hat der amerikanische Ingenieur Cyril Stanley Smith einmal geschrieben. Dass Technik als Anwendung aus der Wissenschaft hervorgeht, ist eher die Ausnahme als die Regel. Häufiger geht sie der Wissenschaft voraus. 

Paradebeispiel ist die Dampfmaschine. Thomas Newcomen, der vor genau 300 Jahren die erste funktionstüchtige Dampfmaschine baute, war Schmied und damit mehr Künstler als Wissenschafter.
Andere vor ihm hatten versucht, die Dampfkraft zu nutzen, aber erst Newcomen erreichte die nötige Präzision der Kolben, Ventile und Dichtungen. Wohl profitierte er von der Wissenschaft – aber nicht von deren Theorie, sondern von praktischen Erfahrungen: Naturforscher experimentierten schon länger mit Luftdruck und Vakuum und liessen entsprechende Geräte bauen. Die Theorie der Thermodynamik indes folgte erst 150 Jahre nach der ersten thermodynamischen Maschine.

Die Dampfmaschine war eine der folgenschwersten Erfindungen der Neuzeit. Die industrielle Revolution ausgelöst, wie das so oft behauptet wird, hat sie zwar nicht; diese Revolution setzte zu Beginn vor allem auf Wasser- und menschliche Arbeitskraft. Die Dampfmaschine war also «kein Motor der Geschichte», wie der Historiker Joachim Radkau in seinem Buch «Technik in Deutschland» schreibt. Aber die Dampfmaschine begründete das «fossile Zeitalter» mit all seinen Implikationen bis hin zum Klimawandel. Sie hat der Industrialisierung eine Richtung gewiesen und das Gesicht unserer Gesellschaft, ihre Machtstrukturen, ihren Rhythmus massgeblich geprägt.

Die ersten Dampfmaschinen entwässerten als Pumpen Kohlebergwerke. Kohle wurde eingesetzt, um Kohle zu gewinnen; wer mehr Kohle hatte, konnte mehr Kohle «machen». Der Vorteil der Dampfkraft lag nicht im Preis oder in der Effizienz, sondern in ihrem Hang zur Grösse. Pferdekraft war zwar billiger. Aber es liessen sich schlecht 60 Pferde in einen Göpel spannen – während man ohne weiteres eine 60-PS-Dampfmaschine bauen konnte.

Wasserkraft wiederum war um Welten effizienter. Aber sie war ortsgebunden, solange man den elektrischen Strom nicht nutzen konnte. Kohle dagegen wurde mit der Eisenbahn ortsunabhängig. Die ersten Eisenbahnen wurden zum Kohletransport gebaut: Kohle transportierte sich selber, der Energieverbrauch entkoppelte sich räumlich von der Energiegewinnung, Industrieballungen entstanden.

Die Dampfkraft ersetzte die menschliche und tierische Arbeitskraft nur teilweise. Ihren grausamen Höhepunkt erreichte die manuelle Arbeit, als die dampfgetriebenen Textilfabriken Europas immer mehr Baumwolle aus Sklavenplantagen nachfragten. Auch in den Fabriken selbst schufteten Arbeiter, und zwar rund um die Uhr. Denn mit dem Gas, das bei der Verkokung von Kohle anfiel, liessen sich die Hallen künstlich beleuchten.

Zurück zum Anfang: Technik sei der Kunst näher als der Wissenschaft – das gilt wohl nur für vormoderne, wissenschaftsferne Zeiten, könnte man meinen. Keineswegs. Der eingangs zitierte Cyril Stanley Smith münzte seine Aussage auf eine Entwicklung, die für wissenschaftsbasierte Technik steht wie keine zweite: Er war Atombomben-Konstrukteur im Manhattan Project.

Freitag, 18. Juli 2014

Die ursprüngliche Vieldeutigkeit des Islam.

aus Die Presse, Wien, 17. 7. 2014

Salzburger Festspiele: 
Allah ist vieldeutig, Allah sei Dank
Sehr „ambiguitätstolerant“ sei die klassische islamische Kultur im Gegensatz zum Islamismus gewesen, sagt der deutsche Arabist Thomas Bauer, der am Freitag in Salzburg auftritt.

 

Die Presse: Das Wort Ambiguitätstoleranz kommt aus der Psychologie: Es gibt Leute, die Mehrdeutigkeiten, Widersprüche besser als andere aushalten. Wendet man das auf Gesellschaften an, fallen einem als Erstes nicht unbedingt islamische Länder ein. Früher war das anders, meinen Sie?
Thomas Bauer: Ja, Widersprüche à la „Einerseits mag ich Musik, andererseits gibt es einen Hadith, der das verbietet“ spielten im Islam in klassischer Zeit nicht so eine Rolle. Er ruhte stärker in sich, man musste sich nicht so sehr gegenüber anderen definieren, abgrenzen. Sogar rechthaberischsten Gelehrten war klar, dass ihre Meinung nur wahrscheinlich die richtige war, nicht sicher.

Der Koran als geoffenbartes Gotteswort wird gern für die angebliche Starre des Islam verantwortlich gemacht. Wie mehrdeutig ist Allahs Wort?

Über tausende Jahre ist die Auslegungskultur davon ausgegangen, dass der Koran unendlich viele Bedeutungen hat. Ob der Ursprungstext geoffenbart ist oder nicht, spielt da die kleinste Rolle. Dass der Koran als Gotteswort Ambiguität nicht verhindert, sehen Sie an jedem klassischen Korankommentar, der mehrere Deutungen nebeneinander anführt. Diesen Auslegungsspielraum haben die Juristen auch genutzt. Das Wort Gottesstaat stammt von Augustinus, das gibt es im Arabischen gar nicht. Man wollte Rechtssicherheit, dafür sorgten die Rechtsgelehrten, und diese hatten zwar göttliche Quellen, aber was sie daraus machten, war wieder eine ganz andere Sache. Gerade im Strafrecht spielen religiöse Texte so gut wie keine Rolle. Und wenn doch einmal, wie im 17. Jahrhundert, hatte das politische Hintergründe.

Wissenschaft konnte sich in der islamischen Kultur nicht weiterentwickeln. Was hat das für Sie mit Religion zu tun?

Die einst blühenden Wissenschaften seien durch engstirnige Religionsgelehrte verkümmert – da wirkt das Aufklärungsdenken, dass die Priester Volksverdummer sind. Für den Islam stimmt das nicht, es hat dort kaum Gelehrte gegeben, die gegen die Wissenschaft gekämpft haben. In diesem Punkt hat sich auch die Islamwissenschaft lange Zeit irreführen lassen. Heute weiß man, dass der Grund dafür strukturelle Entwicklungen* sind, die erst viel später eingesetzt haben.

In allen möglichen Bereichen wie Musik oder Sexualität gab es oft ein geduldetes Neben- und Durcheinander unterschiedlicher Werte und Regeln. Diese Inkonsequenz in der Alltagskultur findet man im christlichen Abendland genauso. Interessant finde ich vor allem, wie sehr die Freude an der Ambiguität in der Wissenschaft von den Lesarten des Korans und im Nachdenken über Sprache dominierte...

Das Erstaunlichste an der Lesartenlehre ist nicht, dass es die unterschiedlichen Lesarten gibt, sondern die Freude und Begeisterung, mit der diese Mehrdeutigkeit als göttliche Gnade begrüßt wurde! Auch die arabische Rhetoriktheorie hatte enorme Freude am Uneindeutigen. Es gab immer wieder Strömungen, die von der Interpretationsvielfalt weg und den Text wörtlich lesen wollten; sie setzten sich aber höchstens kurzzeitig durch. Heute geht diese Lesartentradition allerdings etwas unter, die Islamisten ersetzen sie durch Ideologien, die unzweideutig nach westlichem Ideologiemuster funktionieren.

Sie meinen tatsächlich, der Islamismus hat sich die „Ambiguitätsintoleranz“ vom Westen abgeschaut?

Das 19. Jahrhundert ist im Westen eine Zeit, in der man Widersprüche als quälend empfindet und in der sich Ideologien bilden. Genau in dieser Zeit stellt sich auch für die islamische Welt die Alternative, westliche Ideologien zu übernehmen oder sich mit einer eigenen Ideologie dagegen zu behaupten.

Kämpfe um den „wahren“ Islam gab es aber immer schon. Wie passt der alte Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zur islamischen Ambiguitätstoleranz?

In der Frühzeit gab es große Spannungen, aber Sunniten und Schiiten waren in der Geschichte nicht ein großer Gegensatz, sie waren auch nie homogene Gruppen. Rivalitäten gab es immer, aber mit den heutigen sind sie nicht vergleichbar. Die meiste Zeit war das Zusammenleben friedlich, auch im Irak bis ganz zuletzt – der Stamm war dort wichtiger als die Frage, ob man Sunnit oder Schiit ist. Das sind moderne Fronten. Auch die jetzige Solidarität zwischen Assads Alewiten und den Zwölfer-Schiiten in Syrien verdankt sich modernen Verhältnissen.

Die Terrorgruppe Isis beruft sich auf das Kalifat...

Isis macht aus dem Islam, was Pol Pot aus Karl Marx gemacht hat. Das fängt schon damit an, dass man Kirchen zerstört, was man nach dem klassischen Islam nicht darf. Als der Islamismus mit den Wahhabiten in Saudiarabien das erste Mal schlagend wurde – damals noch ohne westlichen Einfluss –, da waren die Hauptgegner traditionelle Muslime. Sie empfanden es als unislamisch, dass man sagte, jemand sei kein Muslim mehr, weil er das und das anders sehe.

Sie sprechen in Salzburg über Einflüsse der islamischen Kultur auf die europäische Dichtung seit dem Mittelalter. Goethe oder Rückert waren fasziniert vom Islam. Wann kam der große Umschwung im westlichen Islambild?

Viel später, als man glaubt. Die iranische Revolution 1979 war ein Wendepunkt, als sich zum ersten Mal ein größerer islamischer Staat nicht in die vom Ost-West-Konflikt geprägte Nachkriegswelt einfügen wollte. Dramatisch wurde es, als der „Ostblock“ zusammenbrach. Man brauchte einen Ersatzfeind. 


ISLAM-DISKUSSION IN SALZBURG

Thomas Bauer, geboren 1961 in Nürnberg, ist Arabist und Islamwissenschaftler an der Universität Münster. In Salzburg ist er Gast bei der Auftaktveranstaltung zur „Ouverture spirituelle“ der Festspiele am 18.Juli 2014. Thema der Vorträge und Diskussion: „Der Islam im europäischen Gedächtnis“.


*Nota.
Herr Bauer, das hätte ich gern genauer erfahren.
JE

Mittwoch, 16. Juli 2014

Die Frau mit dem Anticharisma.


Etwas besseres hätte Deutschland nicht passieren können. Es ist weißgott ohne es gewollt zu haben wieder in die Lage geraten, in der Welt eine Rolle spielen zu müssen. Da hätte ein Leader (darf man noch sagen) mit Aura und Charisma gerade noch gefehlt. In Griechenland haben sie Frau Merkel vor ein paar Monaten noch in NS-Uniform dargestellt - mein Gott, wie lächerlich! Sie regiert das Land, wie es jede ordentliche deutsche Haufrau täte, ohne Visionen, in der Tat, aber pragmatisch auf kurze Sicht und mit gesundem Menschenverstand. "Der große Wurf blieb ihr versagt", schreibt heute die Neue Zürcher zu ihrem sechzigsten Geburtstag. Na, mehr wäre weniger gewesen. Hätte die Welt es so souverän weggesteckt, dass Deutschland zum vierten Mal Weltmeister geworden ist, wenn Gerhard Schröder* noch regierte?

*) Visionen hatte der auch nicht, wohl wahr, aber eitel ist es bis zum Platzen. 


Eschatologie?


Wolfgang Dirscherl  / pixelio.de

"Eschatologisch"? Das Wort macht mich weder erröten noch erblassen. Aber recht verstanden fühle ich mich auch nicht. 'Eschatologie' kommt von gr. eschatos=der Letzte, und stammt aus der christlichen Heilslehre: Die Welt strebt einem von Gott gesetzten Letzten Ziele zu. Ob man nun direkt von Gott redet oder es zu den 'ehernen Gesetzen der Geschichte' säkularisiert: Der Gedanke, unsere Geschichte verfolgte vorgegebene Bahnen, ist so oder so theo- logisch, denn er nimmt ein "intelligent design" an, und das kann man drehn und wenden wie man will: Es ist nur als 'göttlicher Heilsplan' zu denken - und anders nicht. Und ich denke es - nicht.

Ich denke, dass die Menschen ihre Geschichte selber machen. Aber sie machen sie nicht unter frei gewählten Vor- aussetzungen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden. Die Ent- scheidungen, die sie getroffen haben, eröffnen uns mannigfaltige Möglichkeiten, die sie selber nicht hatten. Aber sie haben uns ebenso viele Möglichkeiten, die sie noch hätten wählen können, verbaut. Will sagen - das Geschichte-selber-Machen der auf einander folgenden Generationen hat besagter Geschichte eine Richtung gegeben, die nicht aus freien Stücken gewendet werden kann.

Das fing an mit... dem Anfang, dem Akt der Menschwerdung alias "Hominisation" selbst. Im ostafrikanischen Graben, wo unsere Vorfahren in ihren Regenwäldern auf den Bäumen hausten, änderte sich das Klima, es wurde kälter, der Wald zog sich zurück, nach und nach entstand dort eine Feuchtsavanne aus offenem Grasland, Gebüsch, Baumgruppen, Wasserläufen und Tümpeln. Ein Teil unserer Ahnen blieb auf den Bäumen und zog mit der Wald- grenze nach Westen. Schimpansen und Bonobos dürften zu ihren Nachfahren gehören. Unsere Urväter stiegen von den Bäumen und richteten sich auf ihre Hinterbeine auf. Und wenn wir es wollten: Diese Weichenstellung können wir nicht mehr rückgängig machen! Der erste eigene, historische Akt der Gattung Homo hat sich unserer Anatomie eingeprägt, so als ob er zu unserer 'Natur' gehörte.

Im Lauf der Evolution hat sich eine jede Gattung ihre passende biologische Nische eingerichtet und zu einer Um- welt umgewidmet, wo die Bedeutung eines jeden Dings für das Individuum festgeschrieben ist durch seinen Platz im ökologischen Geflecht. Als unsere Urahnen von den Bäumen stiegen und aus der angestammten Urwaldnische zu ihrer Wanderschaft in einen fremden weiten Raum aufbrachen, mussten sie sich nicht nur auf zwei Beine erheben, sondern auch den Verlust ihres ererbten Bedeutungsrahmens (über-)kompensieren: indem sie für das Neue neue Bedeutungen erfanden, in Symbolen objektivierten, in den fragwürdig offenen Raum hinein projizierten und zu einem world-wide web verknüpften.

Insofern war die Hominisation selbst die erste große Richtungsentscheidung in unserer selbstgemachten Geschichte: aus dem Gebundenen ins Freie.

Die zweite fiel, als sich Homo (inzwischen sapiens) aus freien Stücken selber wieder festsetzte – im Tal des Jordan, vor rund zwölftausend Jahren, um Ackerbau zu treiben und seine erste Stadt zu gründen: Jericho. Aus jagenden und sammelnden Wilden vorm offenen Horizont einer befremdenden und lockenden Welt wurden kultivierte Werktätige mit festem Wohnsitz. Ich mache es kurz: Wir wissen ja, welche immensen Schätze die Arbeitsgesellschaft in zehn- tausend Jahren angehäuft und welch ungeahnte Möglichkeiten sie gerade in den letzten Jahrzehnten aufgeschlossen hat. Aber zugleich war sie immer auch ein Klotz am Bein – nur hat man es nicht so gemerkt, solange der industrielle Fortschritt unaufhaltsam war. Ein Klotz am Bein, denn sie war – wie damals der Urwald – ein Nische, wo die Bedeu- tung eines jeden Dinges festgeschrieben war durch den Platz, den es im Produktionsprozess einnahm. Die Welt er- schien nicht als offener Horizont und weites Feld, sondern als ein zu erfüllenden Maß; als ein Eigenheim, das es bequem und praktisch einzurichten galt. Möglich war nur, was da hinein passte. Nicht wirklich eine Welt, sondern wieder nur eine Umwelt. 


Nun ist das Ende der Arbeitsgesellschaft, ist das Ende der industriellen Zivilisation in Sicht. Du und ich, wir können uns einstweilen nicht darüber einigen, wie schnell das geht und was noch alles dazwischenkommen kann. Und ich wäre ein Narr, wollte ich grundsätzlich die Möglichkeit ausschließen, dass alles auch noch in einer gewaltigen Kata- strophe enden könnte. Die Frage ist immer nur, wie wahrscheinlich das eine oder das andere ist. Es ist aber keine Frage, die theoretisch lösbar ist durch Betrachtung, sondern die nur praktisch entschieden werden kann.

Aber wenn es die Katastrophe nicht sein sollte – dann wäre es auf jeden Fall auch nicht ein Rückweg in die alte Se- kundärnische von Ackerbau und Maschinenhalle, sondern der Ausbruch in einen neuen, neu erweiterten Horizont, in ein wieder offenes Universum.

Will sagen, nicht das aller Letzte Ende aller Möglichkeiten, sondern als die zurück gewonnene Möglichkeit. Nicht Eschatologie, sondern neuer Anfang.
 


Aus e. online-Forum, Sommer 2007

Dienstag, 15. Juli 2014

Vor der Belagerung Wiens.

aus Der Standard, Wien, 14. 7. 2014


Vorspiel zur Belagerung
Als die Osmanen am Marsch nach Wien gehindert wurden
Am 1. August 1664 kam es zum ersten österreichischen Sieg über die Türken in einer offenen Feldschlacht

Mogersdorf - Heuer jährt sich ein historischer Sieg zum 350. Mal: Am 1. August 1664 gelang es erstmals kaiserlichen Truppen, unterstützt von deutschen und französischen Verbänden, die osmanische Hauptstreitmacht in einer offenen Feldschlacht zu bezwingen und am Weitermarsch nach Wien zu hindern. Die Gefechte fanden bei Mogersdorf im heutigen Burgenland in der Nähe des ehemaligen Klosters St. Gotthard (Szentgottard) statt und sorgten auf beiden Seiten für schwere Verluste.

Diesem hart errungenen Sieg folgte allerdings der "Schandfriede" von Vasvar (Eisenburg), weil Kaiser Leopold I. aus Misstrauen gegenüber dem französischen König Ludwig XIV. freie Hand behalten wollte. Der Friede sorgte für ziemlichen Verdruss unter einigen ungarischen Magnaten aus, deren Verschwörung der Kaiser niederschlagen musste.

Nach dem großen Krieg geschwächt

Da die habsburgischen Stammländer noch an den schweren Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieg zu leiden hatten, konnten sie von Glück sagen, dass die Osmanen auf österreichischem Boden - abgesehen von kleineren Plünderungszügen im Grenzgebiet - keine größeren kriegerischen Aktivitäten entfalteten. Das hatte seine Ursachen teils in der Regentschaft schwacher Sultane im Osmanischen Reich, aber auch in den Auseinandersetzungen dieses Reiches mit Persien und ab 1645 mit der Seerepublik Venedig um die Insel Kreta, die sie erst 1669 endgültig einnehmen konnten.

Erst unter Sultan Mehmet IV. (1648-87) und seinem fähigen Großwesir Ahmed Köprülü wurde die alte Politik gegen die christlichen Mächte im Westen wieder aufgenommen. Anlass waren Streitereien in Siebenbürgen, einem türkischen Vasallenstaat, wo Fürst Georg Rakoczy auf eigene Faust politisch aktiv wurde und sich mit Schweden gegen Polen verbündete. Als der Pascha (Provinzgouverneur) von Ofen (Buda) gegen ihn einschritt, wurde er von Rakoczy besiegt, was den Großwesir auf den Plan rief, der aus Siebenbürgen ein Paschalik (türk. Provinz; Anm.) machen wollte, um es gänzlich in türkische Hände zu bekommen.

Fürst und Gegenfürst

Die Ereignisse in Siebenbürgen berührten Interessen des Kaisers in Wien, der nach dem Schlachtentod Rakoczys und seines Nachfolgers Janos Kemeny einen Fürsten seiner Wahl einsetzte. Großwesir Köprülü berief einen Gegenfürsten. Noch während kaiserliche Sondergesandte auf der Reise waren, um den seit 1606 bestehenden Frieden mit den Türken zu wahren, rüstete der Großwesir 1663 zum Krieg.

Krimtataren und Akindschi (leichte Reiterei) drangen plündernd bis Mähren vor. Der Großwesir zog entlang der Donau und bezwang nach längerer Belagerung die Festung Neuhäusel (heute: Nove Zamky in der Slowakei). Da wegen Schlechtwetters die Niederungen der Donau unpassierbar geworden waren, konnte Köprülü nicht bis Wien vorstoßen und zog sich mit seinem Heer nach Belgrad zurück.

Die Gefährdung Wiens und die Verwüstungen in Mähren veranlassten Kaiser Leopold, einen Reichstag nach Regensburg einzuberufen, um Hilfe der Deutschen Länder gegen die im Osten vordringenden Türken zu erhalten. Eine Reihe deutscher Fürsten, aber auch Schweden und Frankreich, stellten Hilfskontingente zur Verfügung, von Spanien und Papst Alexander VII. kamen Hilfsgelder und Kriegsmaterial.

Des Großwesirs riesiges Heer an der Raab

Erst im Juli 1664 war das Heer des Großwesirs an die Raab gelangt, da der Banus von Kroatien, Niklas Zriny, die Draubrücke bei Esseg (heute: Osijek) zerstört und so den türkischen Anmarsch verzögert hatte. Ende Juli standen die Türken am Südufer der Raab gegenüber von Mogersdorf, das damals Nagyfalva hieß. Die Armee der Osmanen war zahlenmäßig und auch mit ihrer Artillerie den Gegnern überlegen, außerdem war Köprülü ihr einziger Befehlshaber, während auf christlicher Seite Kommandanten eifersüchtig und misstrauisch neben- und gegeneinander standen.

Wenig geregelt war auch ihr Nachschub. Diesbezüglich nach Wien gelangte negative Berichte veranlassten den Kaiser, den seit vier Jahrzehnten bei Einsätzen in ganz Europa erfahrenen Feldmarschall Raimondo Montecuccoli (1609-80) zum Oberbefehlshaber zu ernennen. Von ihm ist auch eine Schilderung der Ereignisse vom Sommer 1664 "Vom Krieg mit den Türken in Ungarn" erhalten.

Nota.

1. Der gewaltige Einschnitt, den die Verheerung Mitteleuropas durch den Dreißigjährigen Krieg für die abendländische Geschichte bedeutet hat, ist durch die Verheerungen des 20. Jahrhunderts leider in Vergessenheit gefallen. 2. Wäre dem Osmanischen Reich am christlichen Westen mehr gelegen gewesen und nicht soviel an seinem islamischen Osten, hätte Europa womöglich nie die Welt beherrscht.

Mit andern Worten, was in der Geschichte wirklich geworden ist, war nicht notwendig.
JE

Donnerstag, 10. Juli 2014

Das Kalifat.

 
aus nzz.ch, 10. 7. 2014        Abu Bakr, Gefährte und Nachfolger Mohammeds, schützt diesen gegen die Steinwürfe der Ungläubigen

Das Kalifat im Wandel der Zeit
Statthalter Gottes – Strohmann der Mächtigen


 
Wie ein Echo aus längst vergangener Zeit mutet die Ausrufung eines Kalifats im Machtbereich der extremistischen Gruppierung Isis an. Wie definierte sich die Macht des Kalifen im Lauf der islamischen Geschichte, und in welchem Verhältnis zur Vergangenheit steht das Selbstverständnis der Extremisten?

Pathetisch verkündete der Sprecher der islamistischen Extremistengruppe Isis, Abu Muhammad al-Adnani, am 29. Juni die Ausrufung des Kalifats und die Einsetzung von Ibrahim Awwad Ibrahim, alias Abu Bakr al-Baghdadi, als Kalifen. Schon die Wahl des Nom de guerre Abu Bakr liess vermuten, dass Ibrahim Grosses im Sinn hatte, war doch Abu Bakr der erste Nachfolger, das heisst der erste Kalif, des Propheten Mohammed gewesen. Al-Baghdadis Vorstellung vom Kalifat kann als eine Neuerfindung gelten; sie deutet eine ultrareligiöse Heilsherrschaft mit mittelalterlichen Ordnungsmustern, die auf die islamische Frühzeit projiziert werden.

Zwischen Moschee und Palast

Als herrschaftliche Ordnung wurde das Kalifat erstmals von mittelalterlichen Gelehrten wie al-Mawardi (972–1058), al-Djuwayni (1028–1085) und al-Ghazzali (1058–1111) systematisch beschrieben. Dabei war man sich schon damals keineswegs einig, ob es überhaupt ein Kalifat geben müsse. Die einen meinten, das Kalifat habe den Zweck, Herrschaft an den Islam anzubinden und die Herrschaftsordnung dem islamischen Recht zu unterstellen; ohne Kalifat würde unter Muslimen nur Zwietracht herrschen. Die anderen erachteten das Kalifat als eine Form von religiöser Vertretung der islamischen Ökumene, die zwar empfehlenswert, aber nicht unabdingbar sei. Theoretisch sollte der Kalif, so al-Ghazzali, zwei Aufgaben erfüllen: die des Imams, das heisst bei ihm die Führung der Muslime in den Angelegenheiten der Religion, und die des Sultans, das heisst die Exekutive einer Herrschaftsordnung. Letztere Funktion aber habe er nicht persönlich auszuüben, sondern an König, Sultane und Fürsten zu delegieren, die sich wiederum vertraglich zur Anerkennung des Kalifen verpflichten müssten.

Das damalige Gerangel um die Legitimität des Kalifats hatte durchaus historische Gründe. Um das Jahr 1000 existierten in der damaligen islamischen Welt gleich drei Kalifate: das abbasidische Kalifat von Bagdad, das ismailitisch-schiitische von Kairo und das umayyadische von Cordoba in Spanien. Nach dem Sturz der Umayyaden in Spanien 1031 und dem der Fatimiden in Ägypten 1171 blieb abgesehen vom allein in Nordafrika anerkannten Kalifat der Almohaden (1130–1269) nur noch das auf einen sehr kleinen Machtbereich geschrumpfte Kalifat von Bagdad übrig, ehe auch dieses 1258 nach der Eroberung durch die Truppen des Mongolen Hülegü unterging. Die symbolische Bedeutung des Kalifats blieb allerdings bestehen: Al-Hakim, ein abbasidischer Flüchtling aus Bagdad, wurde von mamlukischen Fürsten in Aleppo und Kairo 1261 als Kalif eingesetzt, einzig mit dem Ziel, grössere Allianzen bilden zu können.

Denn schon damals war das Kalifat nur noch ein Instrument, Allianzen zwischen Fürsten durch die symbolische Bindung an einen Kalifen zu bilden. Herrschaftliche Macht hatten dieser Kalif und seine Nachfahren nicht. Der letzte dieser sogenannten Schattenkalifen war al-Mutawakkil III., der 1517 vom osmanischen Sultan Selim I. abgesetzt wurde. Im späten 18. Jahrhundert entdeckten die osmanischen Sultane das Kalifat neu und nutzten es, um ihren Geltungsanspruch gegenüber muslimischen Gemeinschaften, die nach den Gebietsverlusten nicht mehr ihrer Herrschaft unterstanden, zum Ausdruck zu bringen. Eine herrschaftliche Funktion hatte das Kalifat auch dann bis zu seiner offiziellen Abschaffung im Jahre 1924 nicht.

Nachfolge des Propheten

Die seit al-Mawardi tradierte scholastische Normenordnung hatte praktisch nichts mit dem damaligen realen Kalifat zu tun. Doch ohne eine historische Imagination kommt heute ein Kalifat nicht aus. Diese bildet einen zweiten Pfeiler, auf den sich der von al-Baghdadi verkündete «Islamische Kalifatsstaat» stützt. Sie bezieht ihre Bilder aus der Zeit der ersten Nachfolger des Propheten Mohammed, der Kalifen Abu Bakr (Kalif von 632 bis 634), Umar (634–644) und Uthman (644–656). Diese drei Personen werden nun als Figuration der spätmittelalterlichen Normenordnung gedeutet und so beschrieben, als wären sie reale Herrscher im Sinne dieser Normen gewesen. Doch die Herrschaftsgewalt der ersten Kalifen lässt sich kaum mit diesen Normen in Beziehung bringen. Dies liegt vor allem daran, dass sie eben als Nachfolger des Propheten Mohammed galten; eine Nachfolgeschaft dieser Art liess sich nur auf jene beziehen, die tatsächlich aus dem direkten Umfeld des Propheten kamen. Die Partei des vierten Kalifen Ali (656–661), des Cousins und Schwiegersohns Mohammeds, hatte von Anfang an darauf gepocht, dass allein die Familie Alis legitimiert sei, die Führung der Kultgemeinschaft auszuüben.

Diese vier ersten, die sogenannten «rechtgeleiteten Kalifen» aber waren keine Cäsaren. Ihre Befehlsgewalt beschränkte sich auf das, was die islamische Kultgemeinschaft kennzeichnete; so waren sie zunächst Vorsteher im Kult. Daneben wirkten sie als Hüter des «Schatzhauses» und damit als diejenigen, denen die Befehlsgewalt über die Gemeinde der Gottestreuen anvertraut wurde, sowie als Schiedsrichter in den Angelegenheiten, die als Verletzung der Grenze zwischen dem Kult und der Sozialwelt galten. Diese Bevollmächtigung war aber verschieden von der Herrschaft, welche die sozialen Verbände, mithin die Stämme, ausübten und die sich zum Beispiel in der Privilegierung bei der Beuteverteilung oder in den Eroberungszügen zeigte. Die Befehlsgewalt der ersten vier Kalifen bezog sich auf Anliegen der Kultgemeinde. Alles Leben jenseits dessen, was sich auf den Kult beziehen liess, unterstand nicht ihrer Autorität.

Dieses frühislamische Kalifat verlor aber nach 660/680 zunächst unter den Umayyaden, dann unter den Abbasiden an Bedeutung, da sich die Kalifen nun nicht mehr als Nachfolger des Propheten sehen konnten, sondern sich stattdessen als «Stellvertreter» oder «Sachwalter» Gottes auf Erden verstanden. Hierzu wurde gerne von den beiden einzigen Stellen im Koran Gebrauch gemacht, in denen der Begriff Kalif auftaucht: In 2:30 wird davon gesprochen, dass Gott Adam als «einen Nachfolger» einsetzen wird, und in 38:26 wird David als jemand bezeichnet, den Gott als Nachfolger (zu ergänzen wäre wohl: früherer Herrscher) eingesetzt habe. Gelesen wurden beide Verse als Hinweis darauf, dass Gott einen Menschen als Herrscher einsetzen könne und dass ein so von Gott privilegierter Herrscher Kalif sei. 

Dies erinnert natürlich an die mittelalterliche Diskussion um das Gottesgnadentum und an die berühmte Stelle im Römerbrief 13:1: «Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.»

Streng genommen gab es also zwei Formen des Kalifats: die frühe Nachfolgeschaft des Propheten Mohammed und die von Gott verordnete Herrschaft. Natürlich stellte sich für islamische Juristen die Frage, wie der Akt der Einsetzung des Herrschers durch Gott gedacht werden könne. Für die meisten ergab sich die Notwendigkeit der Zustimmung. Nur dann könne eine Herrschaft als Kalifat, also als von Gott eingesetzt, gedacht werden, wenn es eine hinreichende Zustimmung der Gemeinde gebe, wenn die Einsetzung durch ein Beratungsgremium erfolge und wenn der potenzielle Kalif über einen Fähigkeitsnachweis verfüge.

Eine Minderheit nutzte diese allgemeine Rahmenordnung, um das Amt des Kalifen theoretisch jedermann zugänglich zu machen, denn allein in der Zustimmung äussere sich der Wille Gottes. Die Mehrheit allerdings beharrte darauf, dass die Nachfolge immer genealogisch zu verstehen sei: Zwar könne ein Herrscher von Gott eingesetzt und damit Kalif sein, aber nur in der genealogischen Nachfolge bilde sich der ursprüngliche Wille Gottes weiterhin ab. Daher war das Kalifat bis 1924 stets eine dynastische Ordnung. Versuche, unabhängig von einer solchen Ordnung einen Kalifen einzusetzen, sind in der islamischen Geschichte stets gescheitert. Das Kalifat wurde so zu einem Qualifikationsmerkmal königlicher Herrschaft und damit zum Bestandteil königlicher Titulatur; der Titel definierte nur noch den nie eingelösten Anspruch, eine Allianz der gesamten islamischen Ökumene zu bilden. Ein Primat der religiösen Auslegung oder gar die Normierung einer islamischen Ordnung fiel nicht in den Aufgabenbereich des dynastischen Kalifats.

Al-Baghdadi beansprucht, beide Formen des Kalifats in einer Ordnung zu vereinen. Symbolisch wurde die Prozedur wiederholt, die der Überlieferung nach 632 zur Bestimmung von Abu Bakr als erstem Kalifen geführt hatte: Die Männer, welche «die Löse- und Bindegewalt innehätten», hätten die Etablierung des islamischen Kalifats verkündet und Abu Bakr al-Baghdadi eingesetzt. Diese frühislamisch inspirierte Szene wird dann kombiniert mit dem normativen Geltungsanspruch eines von Gott eingesetzten Kalifats. Schliesslich wird noch eine genealogische Bestimmung erfüllt, indem al-Baghdadi als Haschemit identifiziert wird, der in direkter Linie vom Propheten Mohammed abstamme.

Renaissance der Kalifatsidee

Nach der Absetzung des letzten osmanischen Kalifen 1924 war der Begriff «Kalif» nur noch Topos einer innerislamischen Selbstauslegung. Alle Versuche, damals bestehende arabische Monarchien mit dem Begriff «Kalifat» aufzuwerten, scheiterten schon im Ansatz. In der politischen Fiktion hingegen zeichnete sich schon 1950 eine Neuerfindung eines republikanisch erscheinenden islamischen Kalifats ab. Es wurde nun für eine Minderheit zur Zentralfigur einer islamischen Utopie, für die der palästinensische Richter Taqi ad-Din an-Nabhani (1909–1977), Gründer der islamischen Befreiungspartei, 1953 sogar eine Verfassung schrieb. Dort heisst es: «Der Kalif ist derjenige, der die Umma in der Ausübung der Herrschaftsmacht und der Durchführung des islamischen Rechts vertritt.» 

Das Kalifat selbst wurde definiert als «ein auf Zustimmung und freier Wahl beruhender Vertrag». Der Begriff Kalif hat also nicht mehr den Sinn einer Nachfolgeschaft, sondern den einer transnationalen staatlichen Herrschaft. Doch in al-Baghdadis ultrareligiöser Vision spielt dieser Gedanke keine Rolle mehr. Stattdessen verknüpft er das Kalifat mit einem Heilsversprechen. Al-Baghdadi, der sich nun als «Kalif aller Muslime» und das Kalifat selbst als «Versprechen Gottes» bezeichnet, verkündet, dass die Zustimmung zu seinem Kalifat das Seelenheil garantiere. Entsprechend wird nun der Treueschwur auf den Kalifen zu Pflicht erklärt; wer diesen nicht leiste, sei ein Abtrünniger. Die neue Ordnung heisst nun «islamischer Kalifatsstaat»; al-Baghdadi war sich wohl nicht bewusst, dass die arabische Formulierung «Kalifatsstaat» von vorneuzeitlichen arabischen Autoren fast ausschliesslich benutzt wurde, wenn es um den Untergang des abbasidischen Kalifats im Jahr 1258 ging.

Mittwoch, 9. Juli 2014

Früher Buchdruck und Propaganda.

Mentelin-Druck von 1473
Augsburger Buchwissenschaftler entdeckt unbekannten Straßburger Druck von 1461
Klaus P. Prem 
Presse - Öffentlichkeitsarbeit - Information
Universität Augsburg 

 09.07.2014 12:44

Der spektakuläre Fund, den Dr. Günter Hägele im Stadtarchiv Baden im Aargau gemacht hat, bezeugt die rasche und großräumige Verbreitung der Buchdruckerkunst über Mainz hinaus und dokumentiert den "Ablass als Medienereignis".

Augsburg/GH/KPP - 1454 erschien in Mainz Gutenbergs berühmte zweibändige Bibel. Schon 1459/1460 wurde erstmals auch außerhalb der Stadt Mainz gedruckt, nämlich in Bamberg und Straßburg. Der Augsburger Buchwissenschaftler und Leiter der Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Augsburg, Dr. Günter Hägele, hat nun einen bisher unbekannten Straßburger Einblattdruck von 1461 im Stadtarchiv Baden im Aargau entdeckt.

Neue Funde aus dem ersten Jahrzehnt der Buchdruckerkunst sind nach 200 Jahren intensiver wissenschaftlicher Inkunabelforschung (lat. incunabula: die Windeln, die Wiege – als die Buchdruckerkunst noch in der Wiege lag) eigentlich kaum mehr zu erwarten. Umso überraschender ist Hägeles Fund im Stadtarchiv Aargau, wo seit dem späten 15. Jahrhundert gleich 15 druckfrische, bestens erhaltene Exemplare eines 1461 in Straßburg gedruckten Ablassbriefes aufbewahrt – und seither übersehen wurden.

Religiöse und politische Propaganda

Schon Gutenberg druckte, parallel zu seiner Bibel, die ersten Einblattdrucke, und auch in der zweiten in Mainz ansässigen Werkstatt, bei Fust und Schöffer (seit 1455/1456), wurden neben Büchern auch immer wieder solche Akzidenzdrucke (Gelegenheitsdrucke) hergestellt, die häufig der religiösen und politischen Propaganda ihrer Auftraggeber dienten.

Zu dieser Gattung zählt auch der von Hägele neu aufgefundene Ablassbrief. Jedem Spender, so die Bulle Papst Pius II., werde ein Nachlass zeitlicher Sündenstrafen gewährt, wenn er für den Wiederaufbau des im Krieg völlig zerstörten St. Cyriacus-Stiftes bei Worms einen namhaften Geldbetrag stifte. Der Ablasshandel in Sachen Neuhausen war bisher nur durch einige wenige Exemplare aus den beiden genannten Mainzer Pressen bezeugt. Die neu aufgefundenen Ablassbriefe hingegen wurden in Straßburg gedruckt. Dort hatte Johann Mentelin 1460 sein Erstlingswerk, eine prächtige zweibändige Bibel, vorgelegt, dem er als zweites Erzeugnis seiner Presse 1461 augenscheinlich diese Ablassbriefe folgen ließ. Da Drucke dieser Zeit im Regelfall weder Drucker noch Druckort oder Jahreszahl nennen, war die Zuweisung nur auf Grund der Identifizierung der verwendeten Drucktype möglich. Den Auftrag zum Druck hatte Mentelin wohl vom Wormser Bischof erhalten, der damit die Versorgung auch des südwestdeutschen Raumes mit Ablassbriefen sicherstellen wollte.

Die Ablasskampagne verlief sehr erfolgreich, auch in Gegenden, wo man Neuhausen und die zerstörte Stiftskirche St. Cyriacus gar nicht kannte. Der Hl. Cyriacus wurde nämlich weit über Südwestdeutschland hinaus verehrt, galt er doch als Helfer gegen böse Geister, Besessenheit und Versuchungen. Als Helfer gegen Frost und schlechtes Wetter war er zugleich auch Schutzpatron der Winzer. Schließlich wurde er sogar unter die 14 Nothelfer gezählt.

Der Fund verdient aus mehreren Gründen Beachtung. Zum einen bezeugt er die schnelle und großräumige Verbreitung der noch jungen Buchdruckerkunst über den Ort ihrer Erfindung hinaus. Zum anderen ermöglicht er neue Einblicke in den frühesten Straßburger Buchdruck und dessen Erzeugnisse. Wie in Mainz konnte man auch in Straßburg mit diesen in hohen Stückzahlen hergestellten Einblattdrucken anscheinend in kurzer Zeit gutes Geld verdienen, während die Drucklegung umfangreicher Bücher regelmäßig einen viel höheren Arbeitsaufwand und wesentlich größeren Kapitaleinsatz bei der Vorfinanzierung erforderte.

Ablass als Medienereignis

Der Straßburger Ablassbrief ist aber auch ein weiteres Indiz dafür, wie früh die Kirche die neue Kunst des Druckens für ihre Zwecke instrumentalisierte. Die um 1450 einsetzende Ablassflut hat sich, wie man das auch an diesem neuen Beispiel ablesen kann, schon sehr früh und dann verstärkt ab 1475 beim Erschließen neuer Geldquellen durch Ablasshandel in einer zunehmend inflationären und kommerzialisierten Form des neuen Mediums Buchdruck bedient; von hier führte letztlich der Weg direkt zur Reformation. Die großen Ablasskampagnen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts wären ohne das Medium des Buchdrucks nicht möglich gewesen. Die Forschung spricht daher in jüngster Zeit auch pointiert vom "Ablass als Medienereignis“, der der “Reformation als Medienereignis“ vorausging.

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Publikation:
Günter Hägele: Ein unbekannter Mentelin-Druck von 1461 im Stadtarchiv Baden im Aargau: Ablassbrief zum Besten des Kollegiatstifts St. Cyriacus in Neuhausen [Straßburg: Johannes Mentelin, vor 18. November 1461], in: Gutenberg-Jahrbuch 89 (2014), S. 68-85
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Ansprechpartner:
Dr. Günter Hägele
Leiter Handschriften, Alte Drucke, Sondersammlungen
Universitätsbibliothek Augsburg
Telefon 0821/598-5350
guenter.haegele@bibliothek.uni-augsburg.de
http://www.bibliothek.uni-augsburg.de