Mittwoch, 16. Juli 2014

Eschatologie?


Wolfgang Dirscherl  / pixelio.de

"Eschatologisch"? Das Wort macht mich weder erröten noch erblassen. Aber recht verstanden fühle ich mich auch nicht. 'Eschatologie' kommt von gr. eschatos=der Letzte, und stammt aus der christlichen Heilslehre: Die Welt strebt einem von Gott gesetzten Letzten Ziele zu. Ob man nun direkt von Gott redet oder es zu den 'ehernen Gesetzen der Geschichte' säkularisiert: Der Gedanke, unsere Geschichte verfolgte vorgegebene Bahnen, ist so oder so theo- logisch, denn er nimmt ein "intelligent design" an, und das kann man drehn und wenden wie man will: Es ist nur als 'göttlicher Heilsplan' zu denken - und anders nicht. Und ich denke es - nicht.

Ich denke, dass die Menschen ihre Geschichte selber machen. Aber sie machen sie nicht unter frei gewählten Vor- aussetzungen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden. Die Ent- scheidungen, die sie getroffen haben, eröffnen uns mannigfaltige Möglichkeiten, die sie selber nicht hatten. Aber sie haben uns ebenso viele Möglichkeiten, die sie noch hätten wählen können, verbaut. Will sagen - das Geschichte-selber-Machen der auf einander folgenden Generationen hat besagter Geschichte eine Richtung gegeben, die nicht aus freien Stücken gewendet werden kann.

Das fing an mit... dem Anfang, dem Akt der Menschwerdung alias "Hominisation" selbst. Im ostafrikanischen Graben, wo unsere Vorfahren in ihren Regenwäldern auf den Bäumen hausten, änderte sich das Klima, es wurde kälter, der Wald zog sich zurück, nach und nach entstand dort eine Feuchtsavanne aus offenem Grasland, Gebüsch, Baumgruppen, Wasserläufen und Tümpeln. Ein Teil unserer Ahnen blieb auf den Bäumen und zog mit der Wald- grenze nach Westen. Schimpansen und Bonobos dürften zu ihren Nachfahren gehören. Unsere Urväter stiegen von den Bäumen und richteten sich auf ihre Hinterbeine auf. Und wenn wir es wollten: Diese Weichenstellung können wir nicht mehr rückgängig machen! Der erste eigene, historische Akt der Gattung Homo hat sich unserer Anatomie eingeprägt, so als ob er zu unserer 'Natur' gehörte.

Im Lauf der Evolution hat sich eine jede Gattung ihre passende biologische Nische eingerichtet und zu einer Um- welt umgewidmet, wo die Bedeutung eines jeden Dings für das Individuum festgeschrieben ist durch seinen Platz im ökologischen Geflecht. Als unsere Urahnen von den Bäumen stiegen und aus der angestammten Urwaldnische zu ihrer Wanderschaft in einen fremden weiten Raum aufbrachen, mussten sie sich nicht nur auf zwei Beine erheben, sondern auch den Verlust ihres ererbten Bedeutungsrahmens (über-)kompensieren: indem sie für das Neue neue Bedeutungen erfanden, in Symbolen objektivierten, in den fragwürdig offenen Raum hinein projizierten und zu einem world-wide web verknüpften.

Insofern war die Hominisation selbst die erste große Richtungsentscheidung in unserer selbstgemachten Geschichte: aus dem Gebundenen ins Freie.

Die zweite fiel, als sich Homo (inzwischen sapiens) aus freien Stücken selber wieder festsetzte – im Tal des Jordan, vor rund zwölftausend Jahren, um Ackerbau zu treiben und seine erste Stadt zu gründen: Jericho. Aus jagenden und sammelnden Wilden vorm offenen Horizont einer befremdenden und lockenden Welt wurden kultivierte Werktätige mit festem Wohnsitz. Ich mache es kurz: Wir wissen ja, welche immensen Schätze die Arbeitsgesellschaft in zehn- tausend Jahren angehäuft und welch ungeahnte Möglichkeiten sie gerade in den letzten Jahrzehnten aufgeschlossen hat. Aber zugleich war sie immer auch ein Klotz am Bein – nur hat man es nicht so gemerkt, solange der industrielle Fortschritt unaufhaltsam war. Ein Klotz am Bein, denn sie war – wie damals der Urwald – ein Nische, wo die Bedeu- tung eines jeden Dinges festgeschrieben war durch den Platz, den es im Produktionsprozess einnahm. Die Welt er- schien nicht als offener Horizont und weites Feld, sondern als ein zu erfüllenden Maß; als ein Eigenheim, das es bequem und praktisch einzurichten galt. Möglich war nur, was da hinein passte. Nicht wirklich eine Welt, sondern wieder nur eine Umwelt. 


Nun ist das Ende der Arbeitsgesellschaft, ist das Ende der industriellen Zivilisation in Sicht. Du und ich, wir können uns einstweilen nicht darüber einigen, wie schnell das geht und was noch alles dazwischenkommen kann. Und ich wäre ein Narr, wollte ich grundsätzlich die Möglichkeit ausschließen, dass alles auch noch in einer gewaltigen Kata- strophe enden könnte. Die Frage ist immer nur, wie wahrscheinlich das eine oder das andere ist. Es ist aber keine Frage, die theoretisch lösbar ist durch Betrachtung, sondern die nur praktisch entschieden werden kann.

Aber wenn es die Katastrophe nicht sein sollte – dann wäre es auf jeden Fall auch nicht ein Rückweg in die alte Se- kundärnische von Ackerbau und Maschinenhalle, sondern der Ausbruch in einen neuen, neu erweiterten Horizont, in ein wieder offenes Universum.

Will sagen, nicht das aller Letzte Ende aller Möglichkeiten, sondern als die zurück gewonnene Möglichkeit. Nicht Eschatologie, sondern neuer Anfang.
 


Aus e. online-Forum, Sommer 2007

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