"Bayern bezahlt Beamten am besten, Berlin am schlechtesten" überschreibt die FAZ heute einen Beitrag. In Bayern kenne ich mich nicht aus, aber ich bin Berliner, und hier sagt der Volksmund: Von nischt kommt nischt. Aber was kommt von was? Weil Berlin seine Beamten am schlechtesten bezahlt hat es die... - ? Wir Eingebore- nen tippen: Es ist umgekehrt. Ungerecht ist es jedenfalls nicht.
Dienstag, 28. Februar 2017
Sonntag, 26. Februar 2017
Sonntag, 19. Februar 2017
Europe first.
aus Der Standard, Wien, 19. Februar 2017, 18:59
Trump sei Dank: Europe first!
In München zeigte sich deutlich wie nie, dass Europa für sich selbst sorgen muss
von Christoph Prantner
Europa muss Donald Trump dankbar sein. Der gern per Ferndiagnose auf die Politcouch gelegte und auf Zurechnungsfähigkeit analysierte US-Präsident hat seinerseits einen kathartischen Prozess in Gang gebracht. Die Europäer haben auf der Sicherheitskonferenz so deutlich wie selten zuvor begreifen dürfen, dass sie sich endlich am Riemen reißen müssen. Es mag unfreiwillig sein, aber: The Donald ist auch ein Dialektiker. Einer, der unversehens eine Menge an politischen Gegensätzlichkeiten erzeugt, durch deren Zusammenprall am Ende doch so etwas wie Fortschritt herauskommt.
Von der derzeitigen US-Regierung also ist nicht zu erwarten, dass sie die westliche Welt beherzt in Schutz nehmen oder ihr gar eine Richtung vorgeben wird. Deswegen muss Europa aufrüsten – militärisch und vor allem ideologisch. Es muss seine Interessen selbstständig definieren, seine Einflussmöglichkeiten taxieren, eine gemeinsame Realpolitik machen. Die Rhetorik vom größten Friedensprojekt oder dem größten Binnenmarkt – je nach Gusto und Weltsicht und jedenfalls immer unter dem nuklearen Schutzschirm der Amerikaner – wird nicht mehr ausreichen, um in einer Welt zu bestehen, die zunehmend unberechenbarer wird. Verbündete inklusive. Vizepräsident Mike Pence zum Beispiel hat die Europäische Union in seiner Ansprache in München mit keinem Wort erwähnt.
Die beste Chance für die EU, sich zu sortieren und viele Dinge zu klären, ist der Brexit. Nach allem, was auf den Gängen des Bayerischen Hofes in München zu hören war, wird es eine recht ruppige Scheidung geben. Für die Briten, deren politische Spitzen wie ihre angelsächsischen Vettern in Washington einen bemerkenswerten Hang zum Hinterlassen verbrannter Erde entwickelt haben, wird ein harter Brexit eine politische wie ökonomische Katastrophe werden. Und auch der Union wird er schmerzen, keine Frage. Aber eher in der Art eines Muskelkaters.
Denn wenn alles gut läuft und eine wiedergewählte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Verein mit einem französischen Präsidenten, der nicht Marine Le Pen heißt, es schafft, den europäischen Laden zusammenzuhalten, wird die Union danach stärker sein als je zuvor. Frei nach dem Leitmotiv Trumps muss es also heißen: Europe first!
Diese Stärke wird Europa brauchen, um seinen Platz in der neuen Weltordnung zu behaupten – gegenüber turbokapitalistisch veranlagten kommunistischen Mandarinen in Peking, von interner Misere gebeutelten russischen Revisionisten mit Großmachtfantasien und gegenüber einer US-Führung, die Amerika ohne Not und entgegen allen großspurigen Ankündigungen kleiner und einsamer macht, als es bisher gewesen ist.
In München, so ließ es sich aus vielen Gesprächen ableiten, haben die meisten Mitgliedsstaaten der Union diesen Trend erkannt. Selbst das Führungspersonal in renitenten Hauptstädten, in denen gern eine große nationalistische Lippe geführt wird, hat inzwischen weitgehend überzuckert, dass weder Russland noch die USA echte Alternativen sind. Sosehr der "Freiheitskampf gegen Brüssel" daheim kultiviert werden mag, so wenig wird er in den Institutionen tatsächlich geführt.
Europe first! Das Europa der Gegensätze und Differenzen wird genauso wieder zur Gemeinsamkeit finden. Das ist die gute Nachricht aus München.
ebd., 19. Februar 2017, 18:29
US-Senator McCain:
Trump geht mit den Medien wie ein "Diktator" um
Republikanischer Senator sieht Überleben des Westens und seiner Werte in Gefahr
München/Washington – Auf der Münchner Sicherheitskonferenz und im US-Fernsehen hat der republikanische Senator John McCain scharfe Kritik an US-Präsident Donald Trump geübt. Dessen Umgang mit den Medien erinnere ihn an autoritäre Regime, sagte er aus München zugeschaltet in der TV-Show Meet The Press am Sonntag: "So legen Diktatoren los."
Auch in einer Rede auf der Sicherheitskonferenz kritisierte er seinen Parteifreund implizit. Ohne Trump beim Namen zu nennen, meinte der Republikaner die Führungsschwäche US-Präsidenten, als er sagte, es gehe um das Überleben des Westens und von dessen Werten. Klare Ansagen eines Republikaners. ...
Üblicherweise hat der alte Republikaner die Russen im Visier oder die Chinesen. Diesmal residiert der Adressat seiner Rede in 1600 Pennsylvania Avenue, Washington D.C. Ohne einmal den Namen Donald Trump zu erwähnen, nahm er dessen politische Standpunkte unter Beschuss. Es ging um nichts weniger als den ideologischen Luftkampf um den Westen und dessen Werte.
Die westliche Welt sei nicht nur in größter Gefahr, es stelle sich sogar die Frage ihres Überlebens. Dies sei kein "Alarmismus", im Gegenteil: "Wir sollten dieser Frage mit tödlichem Ernst begegnen", erklärte McCain.
Wahrheit und Lügen
Es gebe eine zunehmende Abwendung von universalen Werten zu ethnischen Standpunkten oder de facto unverhandelbaren Glaubenspositionen. Man könne wachsende Ressentiments gegenüber Flüchtlingen und Migranten beobachten. Die Unfähigkeit, ja der Unwillen, Wahrheit von Lügen zu unterscheiden, werde immer ausgeprägter. Und immer mehr Bürger der westlichen Welt würden nichts Verwerfliches mehr an autoritären Führern finden. Daraus schließt der alte Kalte Krieger, dass der Westen und seine Bürger vielleicht noch die militärische Macht hätten, ihre Werte und Interessen zu verteidigen, aber oft nicht mehr den nötigen Willen dazu.
Er mache sich wie die Euro päer große Sorgen wegen des entstehenden globalen Führungsvakuums. Dass die in München anwesenden Spitzen der US-Politik diese Sorgen teilten, sehe er aber nicht.
Im Vorwahlkampf musste McCain – der als US-Pilot über Vietnam abgeschossen wurde, mehrere Jahre im berüchtigten Gefängnis Hanoi Hilton verbrachte, dort gefoltert wurde und einen VIP-Gefangenenaustausch als Admiralssohn ablehnte – seine Integrität von seinem Parteifreund infrage stellen lassen. Die Anwürfe kommentierte er damals nicht. Stattdessen sagte er in München mit Blick auf Trump: "Ich akzeptiere es nicht, dass unsere Werte gleichwertig sein sollen mit jenen unserer Gegner. Ich glaube stolz an den Westen. Für diesen sollten wir stets einstehen. Wenn wir es nicht tun, wer soll es dann machen?" (pra.)
Freitag, 17. Februar 2017
Der pharisäische Gesinnungspool.
a. paul weber
Vor ein paar Tagen habe ich Donald Trump an dieser Stelle als das verdiente Endergebnis der Postmoderne berzeichnet. Bei der Gelegenheit habe ich auch eine Verbindung zwischen Postmoderne und Politischer Korrektheit behauptet. Das war keine polemische Übertreibung; bei uns in Deutschland jedenfalls liegt er auf der Hand.
Um das Jahr 1968 haben die Studierenden der Generation, die in den letzten Jahrzehnten bei uns den Ton angegeben haben, die ganze Welt befreien wollen, und die revolutionären Avantgardeparteien schossen aus dem Boden. Alle standen sie mit der Weltgeschichte auf Du und waren auf dem Weg, die endgültige Wahrheit auszuprechen. Dann kamen Helmut Schmidts restriktive Rahmenbedingungen, und der Katzenjammer war groß. Die Rechthaberei hatte zu einer Spaltung nach der andern geführt und der apostolische Gestus hatte sie überanstrengt. "Ich muss endlich auch mal an mich selber denken" sagten sie, nachem die sein halbes Jahr morgens um sechs Fluglätter an den Fabriktoren verteilt hatten.
Keine reine Lehre, keine letzten Wahrheiten mehr; kein Kampf, kein Zank, kein Anspruch auf Höheres, nur, was ich auf mich selbst beziehen kann, damit kann ich umgehen; kein Richtungsstreit und um Gottes Willen keine Führungskämpfe mehr! In Neuer Bescheidenheit wurden keine Entscheidungen mehr getroffen, sondern der Konsensus gesucht.
Wie auch anders? Die allerjüngste Wissenschaft hatte eben enthüllt, dass "alles möglich" ist, anything goes. Objektive Maßstäbe gibt es nicht, und schon gar nicht liefert sie die Wissenschaft, auch sie konstruiert; sie noch mehr als andere.
Wenn es aber keine objektiven Maßstäbe gibt, dann muss man mit subjektiven Vorlieb nehmen. Denn gebraucht werden Maßstäbe nunmal in einer Gesellschaft, wo die öffentliche Gewalt im Namen Aller ausgeübt wird: Sie muss sich legitimieren. Wenn das, was gelten soll, nicht im Kampf um die richtigen Gründe entschieden werden soll, wenn Minderheiten nicht überstimmt werden dürfen, dann muss man zusammenzählen, worauf sich alle friedlich einigen können - je mehr, desto besser. Schon Abstimmungen waren verpönt, es musste alles ausdiskutiert werden: Nicht das schärfere Argument sticht, sondern das geduldige Ansammeln der Meinungen schleicht, manches ist nur eine Frage der Ausdauer.
Aber alles geht eben doch nicht! Es muss schon eine Grenze geben. Die Grenze ist die Entrüstung. So wie die Meinungen angelagert werden, so die Entrüstungen. So kommt zusammen ein Gesinnungspool, der so totalitär ist, wie das gesunde Volksempfinden schon immer war. Alles kommt auf die Bühne der Öffentlichkeit (das Private ist Politisch), es muss jeder Alles bekennen, und wer sich verplappert, verfällt dem Scherbengericht. Es ist die Herrschaft der Pharisäer, der eine weiß, dass der andere so gut heuchelt wie er selbst, und wer nicht mittut, macht sich zum Gespött. Streit? I wo. Dafür Zank, soviel das Herz begehrt.
Politische Korrektheit ist zudringlich und ohne alle Würde. Dass sie einem Rüpel hilflos unterliegen würde, der sich's leisten kann, auf sie zu pfeifen, war nur ein Frage der Zeit.
PS. Dass sie ihn jetzt für verrückt erklären, ist der absolute Tiefpunkt. In Wahrheit sind sie anti-politisch korrekt.
20. 2. 17
Donnerstag, 16. Februar 2017
Unser aufrechter Gang war nicht fürs Gänsehüten bestimmt.
aus Die Presse, Wien, 16.02.2017 um 18:32
von Jürgen Langenbach
Waren die Menschen untereinander einst friedlich, oder sind sie
von Anfang an mit Zähnen und Klauen aufeinander los gegangen? Das ist
eine alte Frage: In den Augen von Rousseau waren die Menschen
freundliche Gesellen, bis sie die Ursünde begingen, die der Einführung
des Privateigentums; ganz anders sah es Hobbes, für ihn waren die
Menschen ab ovo so aggressiv, dass sie nur unter der starken Hand einer
zentralen Autorität – der des Leviathan – halbwegs miteinander auskamen.
Die beiden Bilder lösen einander immer wieder ab, einmal werden die
ursprünglichen Menschen als edle Wilde imaginiert, dann als Wölfe, die
Kulturwissenschaften unterliegen Moden.
Gibt es zuverlässigere Zeugen? „Wenn die Aggression in unserer Vergangenheit wichtig war, sollten wir Evidenz dafür in unserer Anatomie finden.“ Das erklärt David Carrier, Biologe an der University of Utah, der sich auch als „Friedensforscher“ versteht und die Menschen für „aggressive Affen“ hält bzw. für die „gewalttätigsten Wirbeltiere auf unserem Planeten.“ Diese Idee kam Carrier 2007, als ihm auffiel, dass der er erste, der aufrecht gehen konnte – Australopithecus –, relativ lange Arme hatte und kurze Beine. Gut gehen konnte er mit diesem Körper nicht, aber dessen Schwerpunkt lag tief: Man konnte kräftig zuschlagen und eingesteckte Schläge gut auspendeln. „Man“ meint für Carrier Mann: Die Männer hätten um Frauen und Reviere gekämpft.
Und sich um des härteren Zuschlagens willen schließlich – mit Homo erectus – auf Dauer zum aufrechten Gang erhoben: Viele Tiere stehen zum Kämpfen auf zwei Beine auf – Katzen, Hunde Bären –, nur der Mensch blieb in dieser Haltung, weil Schläge von oben nach unten härter ausfallen als in Gegenrichtung, Carrier hat es experimentell erhoben, die Testpersonen waren Boxer.
Die schlagen mit den Fäusten zu – und Hände zu ihnen ballen können nur Menschen, das fiel Carrier als nächstes auf. Dann wandte er sich dem zu, auf das die Schläge am häufigsten einprasseln, das Gesicht, vor allem Unterkiefer, Nase, Augenhöhle. Dort waren die Männer seit Australopithecus mit besondern starken Knochen und Muskeln gewappnet, bei den Frauen war das nicht so.
Nun kommt Carriers nächster Schlag: Wer kräftig zuhauen will, braucht einen sicheren Stand. Bei dem haben die Menschen und die Menschenaffen wieder eine Besonderheit: Fast alle anderen Primaten legen beim Stehen und Gehen das Gewicht „digitigrad“ auf die Zehen, wir sind „plantigrad“, Sohlengänger, setzen den gesamten Fuß auf. Warum wir das tun, ist nicht recht klar, es gibt viele Hypothesen, Carrier hat eine neue, er hat sie neuerlich experimentell getestet (Open Biology 15. 2.): Diesmal ließ er Boxer auf ein von der Decke hängendes Pendel – voll mit Messgeräten – eindreschen und dabei entweder eine digitigrade oder eine plantigrade Haltung einnehmen.
Letztere brachte wesentlich mehr Wucht in die Schläge, sie verschwand, als die Probanden mit rutschigen Socken auf einen rutschigen Boden mussten. „Das ist wieder ein Stück in dem breiteren Bild, laut dem wir in gewissem Grad auf aggressives Verhalten spezialisiert sind“, schließ Carrier.
Nicht alles allerdings, was die Ahnen sich physiognomisch erwarben, ist geblieben. Vor allem die Knochenwülste im Gesicht sind geschwunden, Homo sapiens ist grazil geworden, auch deshalb heißt er bei Anthropologen „moderner Mensch“. Wie passt das zu Carriers Hypothese? Nicht schlecht, H. sapiens hat Waffen ersonnen, gegen die die kräftigsten Knochen nichts helfen.
Ist der Mensch aggressiv bis in die Fußsohlen hinein?
Unsere besondere Weise des Stehens und Gehens auf der ganzen Sohle könnte zum kräftigeren Zuschlagen entwickelt worden sein.
von Jürgen Langenbach
Gibt es zuverlässigere Zeugen? „Wenn die Aggression in unserer Vergangenheit wichtig war, sollten wir Evidenz dafür in unserer Anatomie finden.“ Das erklärt David Carrier, Biologe an der University of Utah, der sich auch als „Friedensforscher“ versteht und die Menschen für „aggressive Affen“ hält bzw. für die „gewalttätigsten Wirbeltiere auf unserem Planeten.“ Diese Idee kam Carrier 2007, als ihm auffiel, dass der er erste, der aufrecht gehen konnte – Australopithecus –, relativ lange Arme hatte und kurze Beine. Gut gehen konnte er mit diesem Körper nicht, aber dessen Schwerpunkt lag tief: Man konnte kräftig zuschlagen und eingesteckte Schläge gut auspendeln. „Man“ meint für Carrier Mann: Die Männer hätten um Frauen und Reviere gekämpft.
Und sich um des härteren Zuschlagens willen schließlich – mit Homo erectus – auf Dauer zum aufrechten Gang erhoben: Viele Tiere stehen zum Kämpfen auf zwei Beine auf – Katzen, Hunde Bären –, nur der Mensch blieb in dieser Haltung, weil Schläge von oben nach unten härter ausfallen als in Gegenrichtung, Carrier hat es experimentell erhoben, die Testpersonen waren Boxer.
Nur wir schlagen mit Fäusten zu
Die schlagen mit den Fäusten zu – und Hände zu ihnen ballen können nur Menschen, das fiel Carrier als nächstes auf. Dann wandte er sich dem zu, auf das die Schläge am häufigsten einprasseln, das Gesicht, vor allem Unterkiefer, Nase, Augenhöhle. Dort waren die Männer seit Australopithecus mit besondern starken Knochen und Muskeln gewappnet, bei den Frauen war das nicht so.
Nun kommt Carriers nächster Schlag: Wer kräftig zuhauen will, braucht einen sicheren Stand. Bei dem haben die Menschen und die Menschenaffen wieder eine Besonderheit: Fast alle anderen Primaten legen beim Stehen und Gehen das Gewicht „digitigrad“ auf die Zehen, wir sind „plantigrad“, Sohlengänger, setzen den gesamten Fuß auf. Warum wir das tun, ist nicht recht klar, es gibt viele Hypothesen, Carrier hat eine neue, er hat sie neuerlich experimentell getestet (Open Biology 15. 2.): Diesmal ließ er Boxer auf ein von der Decke hängendes Pendel – voll mit Messgeräten – eindreschen und dabei entweder eine digitigrade oder eine plantigrade Haltung einnehmen.
Letztere brachte wesentlich mehr Wucht in die Schläge, sie verschwand, als die Probanden mit rutschigen Socken auf einen rutschigen Boden mussten. „Das ist wieder ein Stück in dem breiteren Bild, laut dem wir in gewissem Grad auf aggressives Verhalten spezialisiert sind“, schließ Carrier.
Nicht alles allerdings, was die Ahnen sich physiognomisch erwarben, ist geblieben. Vor allem die Knochenwülste im Gesicht sind geschwunden, Homo sapiens ist grazil geworden, auch deshalb heißt er bei Anthropologen „moderner Mensch“. Wie passt das zu Carriers Hypothese? Nicht schlecht, H. sapiens hat Waffen ersonnen, gegen die die kräftigsten Knochen nichts helfen.
Montag, 13. Februar 2017
Donald Trump und Paul Feyerabend.
Donald Trump ist der legitime Erbe der Postmoderne, er erntet, was Paul Feyerabend gesät hat. Anything goes, nix gilt, ist ja alles nur Konstrukt! Wahrheit gibt es keine, höchstens Wahrheiten, du hast deine, ich hab meine. Wenn es alternative Wahrheiten gibt, warum nicht auch alternative Fakten? Was zählt, ist der gute Deal. Stimmungen sind auch Realitäten, und Vernunft ist eine Machination von Eliten.
Der politischen Korrektheit hat er den Garaus gemacht, der Postmoderne hoffentlich auch.
Samstag, 11. Februar 2017
Was Jesus wirklich sagte.
aus Die Presse, Wien, 11. 2. 2017
Die Suche nach den wahren Worten Jesu
von Franziska Lehner
„Es gibt eine Vielzahl an Texten und Schriften, die irgendetwas
über Jesus sagen“, meint der Theologe Christoph Heil. Schwieriger ist
die Suche nach der wahren Verkündigung Jesu. Um den ursprünglichen
Worten Jesu näherzukommen, forscht der deutsche Wissenschaftler an der
Quelle Q. Mit Q erklärt sich die Theologie seit dem 19. Jahrhundert die
großen Ähnlichkeiten in den Evangelien nach Lukas und Matthäus. Beide
Evangelien erwähnen die Bergpredigt und das Vaterunser. Sonst sind diese
Texte im Neuen Testament nirgends in dieser Form zu finden.
Woher also stammen sie? „Als Lösung gilt die Zweiquellentheorie“, sagt Heil, der an der Universität Graz Neutestamentliche Bibelwissenschaft lehrt. „Lukas und Matthäus haben Markus und eine zweite Quelle als Vorlage verwendet.“ Q als zweite Quelle erklärt die 245 Verse, die in Matthäus und Lukas vorkommen, aber nicht aus dem Markus-Evangelium stammen. „Das Besondere an Q ist das Alter“, sagt Heil. Q soll nach dem Tod Jesu um 30 n. Chr bis 70 n. Chr. zustande gekommen sein. Für den deutschen Theologen Heil bezeugt das die Ursprünglichkeit der Quelle: „Es ist in Q noch nichts von einer Hellenisierung, Veränderung oder Mystifizierung der Person Jesu zu spüren.“
Heil ist Teil eines internationalen Forschungsteams, das seit den 1980er-Jahren an der Rekonstruktion der Quelle Q arbeitet. Als Grundlage dienen dem Forschungsteam die verschiedenen schriftlichen Überlieferungen der Verse aus den Evangelien von Matthäus und Lukas. „Aus dem Vergleich der Verse kann man erschließen, wie ein Urtext aussehen kann“, erklärt Heil.
Die Forschungsergebnisse erscheinen seit 1996. Zwölf der 30 geplanten Bände gibt es bereits; dazu kamen im Jahr 2000 eine kritische Ausgabe der Quelle Q und im Jahr 2002 eine griechisch-deutsche Studienausgabe. Heuer sollen im vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt fünf weitere Bände und eine frei zugängliche Online-Publikation erscheinen.
Was besonders auffällt: „Weihnachten kommt in Q nicht vor. Jesus ist für sie der letzte und größte Prophet. Woher er kommt oder wann er geboren wird, interessiert Q nicht“, sagt Heil über den Fokus der Quelle. Die damalige jüdisch-christliche Gemeinde kann mit heute kaum verglichen werden. Für Q standen die göttliche Sendung Jesu, das Gericht und Jesu Aufnahme bei Gott im Vordergrund. „Das Gericht, bei dem ganz brutal die Welt beendet wird, die Frevler sterben und die Gerechten zu Gott kommen, ist typisch für eine jüdische Apokalyptik und Jesus“, so der Forscher.
Neu ist in der Quelle Q bei Jesus, dass Gott nicht nur richtet, sondern auch als liebender Gott auftritt. Neben dem strengen richtenden Bild von Gott zeigt Q Gott als Retter und liebenden Vater oder Mutter – und damit eine neue Perspektive im Neuen Testament. Als Beispiel nennt Heil die Erzählung vom verlorenen Sohn im Lukas-Evangelium. „Gott will als Vater, dass der abgefallene Sohn zum Guten findet. Das ist für eine damalige jüdische Umwelt ziemlich erstaunlich.“ Eine Spannung, die die Theologie aushalten müsse, meint der Theologe: „In der Bibel geht es nicht nur um das Gericht, aber auch nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen.“
Die Suche nach den wahren Worten Jesu
Der
Grazer Theologe Christoph Heil untersucht Q als Quelle für die
Evangelisten Lukas und Matthäus. In den als ursprünglich geltenden
Texten ist noch keine Mystifizierung zu spüren, Weihnachten fehlt.
von Franziska Lehner
Woher also stammen sie? „Als Lösung gilt die Zweiquellentheorie“, sagt Heil, der an der Universität Graz Neutestamentliche Bibelwissenschaft lehrt. „Lukas und Matthäus haben Markus und eine zweite Quelle als Vorlage verwendet.“ Q als zweite Quelle erklärt die 245 Verse, die in Matthäus und Lukas vorkommen, aber nicht aus dem Markus-Evangelium stammen. „Das Besondere an Q ist das Alter“, sagt Heil. Q soll nach dem Tod Jesu um 30 n. Chr bis 70 n. Chr. zustande gekommen sein. Für den deutschen Theologen Heil bezeugt das die Ursprünglichkeit der Quelle: „Es ist in Q noch nichts von einer Hellenisierung, Veränderung oder Mystifizierung der Person Jesu zu spüren.“
Auf den Urtext schließen
Heil ist Teil eines internationalen Forschungsteams, das seit den 1980er-Jahren an der Rekonstruktion der Quelle Q arbeitet. Als Grundlage dienen dem Forschungsteam die verschiedenen schriftlichen Überlieferungen der Verse aus den Evangelien von Matthäus und Lukas. „Aus dem Vergleich der Verse kann man erschließen, wie ein Urtext aussehen kann“, erklärt Heil.
Die Forschungsergebnisse erscheinen seit 1996. Zwölf der 30 geplanten Bände gibt es bereits; dazu kamen im Jahr 2000 eine kritische Ausgabe der Quelle Q und im Jahr 2002 eine griechisch-deutsche Studienausgabe. Heuer sollen im vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt fünf weitere Bände und eine frei zugängliche Online-Publikation erscheinen.
Was besonders auffällt: „Weihnachten kommt in Q nicht vor. Jesus ist für sie der letzte und größte Prophet. Woher er kommt oder wann er geboren wird, interessiert Q nicht“, sagt Heil über den Fokus der Quelle. Die damalige jüdisch-christliche Gemeinde kann mit heute kaum verglichen werden. Für Q standen die göttliche Sendung Jesu, das Gericht und Jesu Aufnahme bei Gott im Vordergrund. „Das Gericht, bei dem ganz brutal die Welt beendet wird, die Frevler sterben und die Gerechten zu Gott kommen, ist typisch für eine jüdische Apokalyptik und Jesus“, so der Forscher.
Erstmals ein liebender Gott
Neu ist in der Quelle Q bei Jesus, dass Gott nicht nur richtet, sondern auch als liebender Gott auftritt. Neben dem strengen richtenden Bild von Gott zeigt Q Gott als Retter und liebenden Vater oder Mutter – und damit eine neue Perspektive im Neuen Testament. Als Beispiel nennt Heil die Erzählung vom verlorenen Sohn im Lukas-Evangelium. „Gott will als Vater, dass der abgefallene Sohn zum Guten findet. Das ist für eine damalige jüdische Umwelt ziemlich erstaunlich.“ Eine Spannung, die die Theologie aushalten müsse, meint der Theologe: „In der Bibel geht es nicht nur um das Gericht, aber auch nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen.“
LEXIKON
Die Quelle Q, auch Logienquelle Q genannt,
gilt neben Markus als zweite Quelle für die Evangelisten Matthäus und
Lukas. Die Bezeichnung Q kommt vom Wort Quelle; Logienquelle aus dem
Griechischen: logion bedeutet Ausspruch.
Als Synoptiker werden die Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas bezeichnet, deren Texte weitgehend übereinstimmen und einen parallelen Aufbau besitzen.
Als Synoptiker werden die Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas bezeichnet, deren Texte weitgehend übereinstimmen und einen parallelen Aufbau besitzen.
Freitag, 3. Februar 2017
Totalitäres Chaos.
aus Tagesspiegel.de,
Das Prinzip Unordnung
Chaos als Technik der Macht
Als Hannah Arendt zum Totalitarismus forschte, um die Strukturmerkmale der Terrorherrschaften Hitlers
und Stalins von denen herkömmlicher Diktaturen abzuheben, pochte sie
wiederholt auf die Macht des Glaubens an ideologisch-fiktive Welten. Es
ging ihr um ein „buchstäbliches Ernstnehmen ideologischer Meinungen“.
Arendt zufolge suspendierten das „Recht der Natur“ bei Hitler und das
„Gesetz der Geschichte“ bei Stalin hergebrachte Moralvorstellungen und
positives Recht. Die beiden fundamentalen Zivilisationsbrüche des 20.
Jahrhunderts wurden demnach nicht durch den willkürlichen Willen zweier
Machthaber, sondern durch ideologisch fundierten Terror und eine qua
Gewalt etablierte Ordnung bedingt.
Der in Rostock geborene Berliner Historiker Christian Teichmann, der für seine Forschung zu Stalins Herrschaft in Zentralasien von 1920 bis 1950 jüngst den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken erhielt, wendet sich in Teilen gegen diese These. Indem er im Hinblick auf den Stalinismus eben gerade das Moment der Willkür zentriert und das Prinzip Unordnung als wesentlichen Machtmechanismus beschreibt, denkt er auf den Schultern Hannah Arendts über Hannah Arendt hinaus.
Was aber meint „Unordnung“? In welcher Weise trat sie in der Stalin’schen Herrschaftsausübung zutage? „Es gibt die Überzeugung, dass sich der Aufbau staatlicher Herrschaft in geordneten Bahnen vollzieht; dass Machtprozesse sich institutionalisieren, sich in Organisationen und Bürokratien ausdrücken“, sagt Teichmann. Gemeinhin gehe man davon aus, dass es selbst in der rigidesten Diktatur noch klare Regeln gebe, sich mit der Zeit gewisse Routinen einstellten. Was für den Stalinismus bezeichnend sei, ja womöglich seinen Kern ausmache, sei nun aber, dass er besagte Herrschaftsroutinen zu keiner Zeit habe aufkommen lassen.
„Unordnung“ meint demzufolge eine Machttechnik, die über die permanente Umgestaltung von Strukturen und Lebensverhältnissen ein Klima ständiger Unsicherheit und Angst erzeugte. Stalins omnipräsente Willkürherrschaft offenbarte sich laut Teichmann nicht nur in der durch Einzelfallentscheidungen geprägten Ressourcenverteilung. Sie zeigte sich auch in der Geheimhaltung von Beschlüssen, der wiederholten Abwandlung der Generallinie und der ständigen Umformung staatlicher Behörden. Zu keiner Zeit konnte sich irgendwer seiner Sache wirklich sicher sein. Durch ständige „Säuberungen“ und die permanente Gefahr, nicht mehr auf dem neuesten Stand zu sein, wurde jede Wette auf die Zukunft, jede Erwartungssicherheit unterhöhlt.
Zwar gab es im ökonomischen Bereich, in Sachen Elektrifizierung, groß angelegter Bewässerung und Rohstoffanbau klar definierte Ziele – eine autarke Baumwollwirtschaft der Sowjetunion zum Beispiel. Viele Historiker und Sozialwissenschaftler gingen aber davon aus, dass die sowjetischen Kommunisten gegen Chaos und Unordnung mit dem Vorhaben angingen, eine vollkommen neue gesellschaftliche Ordnung zu errichten, die auf Eindeutigkeit, Klarheit und Kontrolle basierte, sagt Teichmann.
Tatsächlich sei im Stalinismus ein eklatantes Missverhältnis zwischen Ideologie und lokaler Praxis festzustellen. Freilich redete die Propaganda dem neuen Menschen und dem weltweiten Export von Sozialismus und Emanzipation das Wort. Die konkrete Machtausübung war jedoch weit weniger ambitioniert, als die Propagandamaschine glauben machte.
„Die Moskauer Staatsmacht strebte keine utopische Neuordnung der Verhältnisse an“, sagt Teichmann. „Stalins Herrschaft hatte einen ganz anderen Charakter: Sie war durch spontane und willkürliche Eingriffe in die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten geprägt.“ Der Stalinismus offenbarte sich durch Chaos und plötzlichen Terror als eine Machtform, der es primär darum ging, sich selbst an der Macht zu halten. Am Beispiel der stalinistischen Herrschaft in Zentralasien könne man sehen, so Teichmann, dass die Macht nicht notwendig als stabiles System erscheint, das sich in staatlichen Institutionen verdichtet. Die Macht basierte nicht auf „Ordnung“; sie habe sich vielmehr im Sinne Niklas Luhmanns als bloße „Einflussform“, in Gestalt von „negativen Sanktionen“ gezeigt.
Die für die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises verantwortliche Jury erklärte, Christian Teichmann habe mit seinem Buch „Macht der Unordnung“ einen Neuansatz in der Erforschung des Totalitarismus begründet, indem er darlege, dass nicht Ordnung für die totalitäre Machtentfaltung unentbehrlich sei, sondern deren systematische Zerstörung.
„Totalitäre Systeme werden gemeinhin von oben erklärt, ausgehend von der Apparateherrschaft, der Partei, der Bürokratie, den gleichgeschalteten Medien usw.“, sagt Teichmann. Er selbst habe einen anderen Weg gewählt und das System von unten beschrieben, vom Erleben der Leute her und so, wie es sich in den Dörfern und Steppen Zentralasiens jeweils konkret verwirklicht habe. - Christian
Teichmann: Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920 – 1950, Hamburger Edition 2016, 294 Seiten, 28 Euro.
Nota. - Einen Unstaat hat der Historiker Franz Neumann den Nationalsozialismus genannt, nicht "Leviathan", der seine Ordnung mit blinder Gewalt durchsetzt, sondern "Behemoth", der mit Gewalt Unordnung schafft, um zur Willkür freie Hand zu haben.
Stalins Regime in Russland einen bürokratischen Totalitarismus zu nennen, ist richtig, weil es widersprüchlich ist. Stalin konnte seine totale persönliche Macht etablieren, weil er der unumstrittene Repräsentant der aufstre- benden gesellschaftlichen Kaste der Sowjetbürokraten war. Aber er kam an die Macht an der Spitze einer akuten Konterrevolution, deren Zweck zuerst die Zerstörung der - naturgemäß vorübergehenden - revolutionären Ordnung war, bevor sie an den Aufbau ihrer eigenen bürokratischen Routinemaschinerie gehen konnte.
Der totalitäre Terrorismus vertrug sich nicht dauerhaft mit der bürokratischen Grundlage, oder, mit den Polito- logen zu reden, der 'charismatische' Charakter der persönlichen Autokratie musste, sobald die bürokratische Herrschaft konsolidiert war, dem Bleigewicht der Nomentklatura weichen, wo nicht länger Terror ein Instru- ment der Willkür, sondern Willkür ein systemisches Korrelat der Schlamperei war. Darum war das charismati- sche Zwischenspiel Nikita Chruschtschows nur von kurzer Dauer. Schnell wurde er vom lähmenden Gleich- gewicht der Kollektiven Führung und Breschnews "Zeitalter der Stagnation" abgelöst.
JE
Das Prinzip Unordnung
Chaos als Technik der Macht
Der Berliner Historiker Christian Teichmann hat den Effekt der Zerstörung von Ordnung in Stalins Totalitarismus erforscht.
von Christoph David Piorkowski
Der in Rostock geborene Berliner Historiker Christian Teichmann, der für seine Forschung zu Stalins Herrschaft in Zentralasien von 1920 bis 1950 jüngst den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken erhielt, wendet sich in Teilen gegen diese These. Indem er im Hinblick auf den Stalinismus eben gerade das Moment der Willkür zentriert und das Prinzip Unordnung als wesentlichen Machtmechanismus beschreibt, denkt er auf den Schultern Hannah Arendts über Hannah Arendt hinaus.
Ein Klima von ständiger Unsicherheit und Angst entsteht
Was aber meint „Unordnung“? In welcher Weise trat sie in der Stalin’schen Herrschaftsausübung zutage? „Es gibt die Überzeugung, dass sich der Aufbau staatlicher Herrschaft in geordneten Bahnen vollzieht; dass Machtprozesse sich institutionalisieren, sich in Organisationen und Bürokratien ausdrücken“, sagt Teichmann. Gemeinhin gehe man davon aus, dass es selbst in der rigidesten Diktatur noch klare Regeln gebe, sich mit der Zeit gewisse Routinen einstellten. Was für den Stalinismus bezeichnend sei, ja womöglich seinen Kern ausmache, sei nun aber, dass er besagte Herrschaftsroutinen zu keiner Zeit habe aufkommen lassen.
„Unordnung“ meint demzufolge eine Machttechnik, die über die permanente Umgestaltung von Strukturen und Lebensverhältnissen ein Klima ständiger Unsicherheit und Angst erzeugte. Stalins omnipräsente Willkürherrschaft offenbarte sich laut Teichmann nicht nur in der durch Einzelfallentscheidungen geprägten Ressourcenverteilung. Sie zeigte sich auch in der Geheimhaltung von Beschlüssen, der wiederholten Abwandlung der Generallinie und der ständigen Umformung staatlicher Behörden. Zu keiner Zeit konnte sich irgendwer seiner Sache wirklich sicher sein. Durch ständige „Säuberungen“ und die permanente Gefahr, nicht mehr auf dem neuesten Stand zu sein, wurde jede Wette auf die Zukunft, jede Erwartungssicherheit unterhöhlt.
Die Propagandamaschine erzählte eine andere Geschichte
Zwar gab es im ökonomischen Bereich, in Sachen Elektrifizierung, groß angelegter Bewässerung und Rohstoffanbau klar definierte Ziele – eine autarke Baumwollwirtschaft der Sowjetunion zum Beispiel. Viele Historiker und Sozialwissenschaftler gingen aber davon aus, dass die sowjetischen Kommunisten gegen Chaos und Unordnung mit dem Vorhaben angingen, eine vollkommen neue gesellschaftliche Ordnung zu errichten, die auf Eindeutigkeit, Klarheit und Kontrolle basierte, sagt Teichmann.
Tatsächlich sei im Stalinismus ein eklatantes Missverhältnis zwischen Ideologie und lokaler Praxis festzustellen. Freilich redete die Propaganda dem neuen Menschen und dem weltweiten Export von Sozialismus und Emanzipation das Wort. Die konkrete Machtausübung war jedoch weit weniger ambitioniert, als die Propagandamaschine glauben machte.
Chaos und plötzlicher Terror
„Die Moskauer Staatsmacht strebte keine utopische Neuordnung der Verhältnisse an“, sagt Teichmann. „Stalins Herrschaft hatte einen ganz anderen Charakter: Sie war durch spontane und willkürliche Eingriffe in die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten geprägt.“ Der Stalinismus offenbarte sich durch Chaos und plötzlichen Terror als eine Machtform, der es primär darum ging, sich selbst an der Macht zu halten. Am Beispiel der stalinistischen Herrschaft in Zentralasien könne man sehen, so Teichmann, dass die Macht nicht notwendig als stabiles System erscheint, das sich in staatlichen Institutionen verdichtet. Die Macht basierte nicht auf „Ordnung“; sie habe sich vielmehr im Sinne Niklas Luhmanns als bloße „Einflussform“, in Gestalt von „negativen Sanktionen“ gezeigt.
Die für die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises verantwortliche Jury erklärte, Christian Teichmann habe mit seinem Buch „Macht der Unordnung“ einen Neuansatz in der Erforschung des Totalitarismus begründet, indem er darlege, dass nicht Ordnung für die totalitäre Machtentfaltung unentbehrlich sei, sondern deren systematische Zerstörung.
„Totalitäre Systeme werden gemeinhin von oben erklärt, ausgehend von der Apparateherrschaft, der Partei, der Bürokratie, den gleichgeschalteten Medien usw.“, sagt Teichmann. Er selbst habe einen anderen Weg gewählt und das System von unten beschrieben, vom Erleben der Leute her und so, wie es sich in den Dörfern und Steppen Zentralasiens jeweils konkret verwirklicht habe. - Christian
Teichmann: Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920 – 1950, Hamburger Edition 2016, 294 Seiten, 28 Euro.
Nota. - Einen Unstaat hat der Historiker Franz Neumann den Nationalsozialismus genannt, nicht "Leviathan", der seine Ordnung mit blinder Gewalt durchsetzt, sondern "Behemoth", der mit Gewalt Unordnung schafft, um zur Willkür freie Hand zu haben.
Stalins Regime in Russland einen bürokratischen Totalitarismus zu nennen, ist richtig, weil es widersprüchlich ist. Stalin konnte seine totale persönliche Macht etablieren, weil er der unumstrittene Repräsentant der aufstre- benden gesellschaftlichen Kaste der Sowjetbürokraten war. Aber er kam an die Macht an der Spitze einer akuten Konterrevolution, deren Zweck zuerst die Zerstörung der - naturgemäß vorübergehenden - revolutionären Ordnung war, bevor sie an den Aufbau ihrer eigenen bürokratischen Routinemaschinerie gehen konnte.
Der totalitäre Terrorismus vertrug sich nicht dauerhaft mit der bürokratischen Grundlage, oder, mit den Polito- logen zu reden, der 'charismatische' Charakter der persönlichen Autokratie musste, sobald die bürokratische Herrschaft konsolidiert war, dem Bleigewicht der Nomentklatura weichen, wo nicht länger Terror ein Instru- ment der Willkür, sondern Willkür ein systemisches Korrelat der Schlamperei war. Darum war das charismati- sche Zwischenspiel Nikita Chruschtschows nur von kurzer Dauer. Schnell wurde er vom lähmenden Gleich- gewicht der Kollektiven Führung und Breschnews "Zeitalter der Stagnation" abgelöst.
JE
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