Montag, 11. Dezember 2017

"Vereinigte Staaten von Europa".


Evert den Hartog

Soll das Publikum glauben gemacht werden, die Gespräche seien "ergebnisoffener", als sie sind? Sollen vorab wieder die Preise in die Höhe getrieben werden? Dabei ist es nur Wortgeklapper. Bundesstaat, Staatenbund, "Europa der Vaterländer" - alles könnte gemeint sein. Bis 2025, sagt Schulz - nicht so hastig, sagt Volker Kauder: Die Leute wollten "zur Zeit" lieber Sicherheit. Aber lauter Sachen, genau betrachtet, über die sich reden lässt.

Wenn man es so verstehen soll, dass sie diesmal tatsächlich beim Wichtigsten anfangen und über die Kleinigkeiten erst hinterher krämern wollen, soll's uns recht sein. Wenn's aber nur eine Nebelkerze ist? Dass Schulz lieber zurück nach Europa will, kann man ihm nachfühlen, aber seine Partei beschäftigt sich lieber mit dem, was ihr am nächsten liegt - sich selbst; die kann er mit Europa nicht aus den Sesseln reißen.

Das deutsche Publikum derzeit auch nicht. Aber das ist sein wundester Punkt. Mehr Europa, das wollen außer den Gartenzwergen an den politischen Rändern alle. Nur wie das aussehen soll, kann keiner sagen. Warum denn soll Europa stark sein, wieder stärker werden in der Welt? Bloß weil zufällig wir dort wohnen und allweil nur das Beste für uns wollen?


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Der Reichtum Europas und das, was die Welt von uns bekommen kann, ist die Mannigfaltigkeit von zwei dutzend Kulturen, die auf kleinstem Raum nicht nebeneinander, sondern schon immer miteinander bestehen, jahrhunderte- lang im Krieg, seit siebzig Jahren eher im Frieden. Sie werden durch ihre Unterschiede mehr aneinander gebunden als getrennt, denn jeder Unterschied zwischen zweien wird, wenn man auf ihn reflektiert und von den andern ab- sieht, ein Gegensatz, und diese Gegensätze teilen wir miteinander.

In Europa wurde die Vernunft geboren. Nicht aus unserer Weisheit, eher aus der Torheit, aber eben den widerstrei- tenden Torheiten von so vielen. Vor fünfhundert Jahren - wir haben eben das Jubiläum gefeiert - zerriss das einigen- de Band, das die Römische Kirche um die gegensätzlichen Kulturen gelegt hatte, und die Glaubensspaltung trieb Europa in einen kontinentalen Bürgerkrieg, den Dreißigjährigen. Geführt wurde er von vielen Mächten, aber auf deutschem Boden. Was nachgeborene Historiker den deutschen Sonderweg nannten, hatte dort seinen Anfang.

Doch auch die Vernunft. Sollten die politischen Mächte wieder zu einem friedlichen Verkehr miteinander finden, bedurfte es einer mit unstrittiger Autorität ausgestattenten Instanz über den Glaubensbekenntnissen, deren Urteile einem jeden Individuum von gesundem Verstand einleuchten müssten.


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Unmittelbar beteiligt am Dreißigjährigen Krieg war nicht nur der Reiteroffizier René des Cartes, sondern, als Diplo- mat in französischem Dienst, der Rechtsgelehrte Hugo Grotius. Es gilt als der Vater des Völkerrechts und als Be- gründer der Unterscheidung zwischen positiven Rechten und 'dem Naturrecht'. Seinen historischen Triumph hat er nicht mehr erlebt, der Westfälische Frieden (1648) wurde erst drei Jahre nach seinem Tod geschlossen. Etsi deus non daretur - 'selbst wenn es Gott nicht gäbe' - sollte Recht sein, denn solange theologische Erwägungen im wirklichen Leben eine Rolle spielten, gab es statt Recht und Frieden nur Mord und Totschlag.

Es hat seine Zeit gebraucht, doch schlicßlich ging aus der Vorstellung von einem Recht, das 'allein schon aus unserer Natur' folgt, unausweichlich die Idee der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte hervor. 

Hätte sie auch anderswo aufkommen können als in Europa? Sie ist es nicht. Aber hier ist sie mit Notwendigkeit aufge- kommen. Mit Notwendigkeit, weil sie gerade nicht selbstverständlich war und - selbst in Europa - noch heute nicht geworden ist: Nur hier ist sie nicht beiläufig, nicht "umständehalber", nicht 'durch Nichtwissen', sondern ausdrück- lich und grundsätzlich bestritten worden; nicht ideell, sondern praktisch in Fleisch und Blut und Rauch und Asche. Das war in Europa, und wer sollte davon zeugen, wenn nicht wir Deutschen in Europa?

Mit andern Worten, die Zukunft Deutschlands liegt in Europa nicht, weil es uns so am besten passt; sondern weil die Zukunft der Welt im entscheidenden Punkt an Europa hängt, und weil es unsere wenn schon sonst niemand Anderes Pflicht ist, darüber zu wachen.

Bin ich stolz, ein Deutscher zu sein?

Man müsse sich Sysiphus glücklich vorstellen, hat mal einer geschrieben.




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