Donnerstag, 14. November 2013
Das Gesetz der großen Zahl, oder Erfinden und überliefern.
aus Die Presse, Wien, 14. 11. 2013
Komplexe Kultur braucht vor allem viele Köpfe
Wie werden Techniken entwickelt bzw. vergessen? Im Experiment zeigt sich die Macht der Zahl.
Als der in den Wissenschaften und der Welt weit gereiste Jared Diamond („Collaps“) 1992 in Tasmanien landete, er war die 220 Kilometer von Australien über den wilden Ozean geflogen, gingen selbst ihm die Augen über: In Tasmanien wird es extrem kalt, es liegt im Süden auf dem gleichen Breitengrad wie Wladiwostok im Norden, aber die Bewohner gingen trotzdem nackt herum, und sie trugen in kleinen Behältern Feuer mit sich, mit dem sie bei jeder Rast größere Feuer entfachten: Sie konnten kein Feuer entzünden. Vieles andere hatten sie auch nicht, seegängige Boote etwa. Dabei waren sie, wie Diamond, von Australien gekommen. Dieses Rätsel ist leicht lösbar, die Siedler kamen vor 10.000 Jahren, sie konnten zu Fuß gehen, weil die Eiszeit die Meeresspiegel gesenkt hatte.
Aber der Rest: Warum hatten sie vieles nicht, was es in Australien gab, als sie sich auf den Weg machten? Warum hatten sie insbesondere keine Werkzeuge aus Knochen? Daraus kann man etwa Nähnadeln machen, mit denen man Felle gegen die Kälte zusammenheften kann. Vielleicht kamen irgendwann Tabus oder anders motivierte Verzichte, das kennt man von vielen Kulturen, aus Japan etwa wurde für ein paar Jahrhunderte das Schießpulver verbannt. Aber Tabus gegen Nähnadeln und Feuermachen?
Beim Einwandern hatten sie Nadeln mitgebracht, erst vor 3500 Jahren gingen die bzw. ging das Wissen verloren. 1978 schlug der Archäologe Rhys Jones eine Lösung vor: Geografische Isolation und geringe Populationsgröße – etwa 5000 Einwanderer waren gekommen – hätten das große Vergessen gebracht, zudem seien die Tasmanier nicht die Hellsten. Letzteres verursachte so großen Ärger unter den Anthropologen, dass auch Ersteres keine Beachtung mehr fand. Diamond nahm es später wieder auf: Eine komplexe Kultur braucht viele Köpfe, die von den Geschicktesten lernen und gemeinsam etwas entwickeln und an die Erben weitergeben; zudem braucht sie Nachbarn, mit denen gehandelt und konkurriert wird.
Diese Hypothese ist allerdings umstritten. Zwar wuchs die Menschheit etwa vor 45.000 Jahren, als sie viele Techniken erfand, die der Höhlenmalereien etwa. Aber was da Ursache war und was Wirkung, ist ungeklärt. Zudem brachte die Feldforschung der Anthropologen widersprüchliche Befunde. Deshalb hat Maxime Derex (Montpellier) einen anderen Weg eingeschlagen und Testpersonen ins Labor geladen. Dort wurden sie auf PCs mit zwei verschiedenen Techniken vertraut gemacht, mit der Herstellung von Pfeilspitzen und dem Knüpfen von Fischernetzen. Ersteres ist relativ simpel, Letzteres hochkomplex. Und beides sollte, immer am PC, zumindest bewahrt, besserenfalls weiterentwickelt werden.
Zu wenige? Risiko des Kollaps!
Dann sah Derex zu, wie sich die Dinge in Gruppen unterschiedlicher Größe entwickelten, zuerst waren zwei Personen zusammen, dann vier, dann acht, dann 16: Mit der Pfeilspitze taten sich alle gleich leicht. Aber die Fischernetze wurden in den ganz kleinen Gruppen immer schlechter geknüpft, in den größeren hingegen wurde das ursprüngliche Design verfeinert (Nature, 13.11.): „Die Reduktion der Gruppengröße mag Gesellschaften signifikante Risken gebracht haben, Kollaps eingeschlossen“, schließt Derex.
Allerdings weist er selbst darauf hin, dass das vermutlich nicht mehr gilt, seit Speichermedien wie die Schrift Wissen bewahren. Und Peter Richardson (UC Davis) meint in einem Begleitkommentar, dass es in Tests an PCs und unter Zeitdruck anders zugeht als im Leben: „Das Problem von Laborartefakten muss mitbedacht werden.“
Nota.
Da mögen über die Jahrtausende noch so kluge Köpfe auf die Welt kommen - wenn das, was sie in ihrem Leben erfinden werden, nicht den Nachgeborenen überliefert wird, war es so gut wie umsonst. Es ist nicht die "Schwarmintelligenz" der Horde, die die Einfälle liefert; es ist das Gesetz der großen Zahl, das die Überlieferung sichert.
Merke: Überlieferung heißt Tradition.
Doch seit es intelligente Speicher gibt, ist mindestens das Wissen nicht länger auf Tradition angewiesen.
JE.
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