Freitag, 29. November 2013

Die menschliche Geschichte des Mittelmeers.

aus NZZ, 20. 11. 2013                                                                     F. Guardi, Die Lagune von Venedig mit dem Turm von Maghera

Das Medium des Wassers
Der britische Historiker David Abulafia erzählt die «menschliche» Geschichte des Mittelmeers

von Hans-Albrecht Koch · Der in Cambridge lehrende Historiker David Abulafia, der im deutschen Sprachraum einem grösseren Publikum vor allem durch die Übersetzung seiner Biografie des Stauferkaisers Friedrich II. bekannt geworden ist, erzählt seine Geschichte des Mittelmeers von den Rändern her: eine Schilderung all dessen, was an den Küsten - und nur an den Küsten - möglich war. Er erzählt also vor allem davon, wie dieses grosse europäische Meer, für das die Römer den Namen «Mare nostrum» benutzten, der ihren Herrschaftsanspruch hervorhob, und das die Italiener mit einem die Brückenfunktion zwischen Ländern betonenden Namen «Mediterraneo» nennen, das Schicksal seiner Anrainer im Guten wie im Schlechten bestimmte, in Austausch und Verkehr nicht minder als in Krieg und Raub.

«Historia docet»

Über das Mittelmeer gelangte das Getreide aus Ägypten, der antiken Kornkammer, nach Rom, darauf spielte sich der Handel mit Metallen, Gewürzen, Purpur, Seide ab, bis hin zum ausgedehnten Sklavenhandel, von der Antike bis ins 18., teilweise bis ins 19. Jahrhundert. Das Mittelmeer war die Verkehrsader, die es einer griechischen Polis wie Korinth ermöglichte, eine Kolonie wie Syrakus zu gründen; es war gleichsam die Plattform, auf der sich nach dem Tod Alexanders des Grossen der Hellenismus ausbreitete - eine Globalisierung avant la lettre. Auf dem Mittelmeer setzte sich Rom gegen Karthago durch; es war der Schauplatz, auf dem Griechen, Römer und Juden einander - bald aufgeschlossener, bald misstrauischer - begegneten; darüber führte in der Spätantike, ab Konstantin dem Grossen, der Siegeszug des Christentums. Über das Mittelmeer ging die Fahrt, als die Venezianer 828 die Gebeine des heiligen Markus für ihren Dom aus Alexandria raubten; darüber brachten Kaufleute aus Bari 1087 die Gebeine des heiligen Nikolaus von Myra in ihre Stadt.

David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biographie. 
Aus dem Englischen von Michael Bischoff. 
S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 859 S., Fr. 45.90.

Auch wer sich mit dem «Historia docet» schwertut, wird über den vielen Déjà-vu-Effekten in Abulafias so gelehrter wie anschaulicher Erzählung von über dreitausend Jahren nachdenklich werden. Darunter finden sich - um nur zwei Beispiele zu nennen - die Brückenfunktion der süditalienischen Inseln für die Migration afrikanischer Einwohner ebenso wie die Plage des Seeräuberunwesens, mit dessen endlich erfolgreicher Bekämpfung sich einst Cäsars Zeitgenosse Gnaeus Pompeius Magnus grossen Ruhm erworben hatte, das aber auch später die Geschichte des Mittelmeerraums auf ganz verschiedene Weise bestimmte: sei es als Piraterie im Dienste muslimischer Herrscher wie des Emirs von Andalusien, sei es in der Form christlicher Seeräuber aus dem Orden der Hospitaliter.

Abulafias eigene Forschungen gelten vor allem der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte. Das kommt der Darstellung wirtschaftlicher Aspekte der Kreuzzüge genauso zugute wie der Schilderung der Wiederbelebung von Amalfis Handel mit Kairo nach der Niederlage der Stadt im blutigen Konkurrenzkampf mit Pisa. Überhaupt hat der Verfasser einen Sinn dafür, wie sich grosse Zusammenhänge in Details spiegeln, ob er von der Konkurrenz der Handelsstädte Venedig und Genua schreibt oder von der Vermittlung arabischer Wissenschaft nach Europa am Hof Friedrichs II. zu Palermo.

Die Welt der homerischen Epen der griechischen Antike lässt der Autor vor unseren Augen ebenso lebendig werden wie die von Söldnern und Missionaren des christlichen Mittelmeerraums, er führt seine Leser zu den gelehrten Vermittlern arabischer Kultur ebenso wie zu osmanischen Deys, Beys und Paschas und lenkt schliesslich für das 19. und frühe 20. Jahrhundert den Blick darauf, wie Archäologen und Historiker durch die wissenschaftliche Erschliessung des griechischen Altertums den Mittelmeerraum in einem neuen Spiegel zu sehen gelehrt haben, wie gleichsam ein zweites historisch fundiertes Griechenland entstanden ist.

Was das 20. Jahrhundert angeht, so widmet sich das Buch vor allem zwei Themen. Es schildert zum einen am Geschick der Städte Saloniki, Smyrna, Alexandria, Jaffa und Konstantinopel, welche fatalen Folgen die Blindheit der siegreichen Besatzungsmächte gegenüber historisch gewachsenen Strukturen hatte, sei es, dass der englische Premierminister Lloyd George den türkischen Politiker Kemal als einen Teppichhändler titulierte, sei es, dass man nicht verstand, wieso sich die Zehntausende griechischen, jüdischen, italienischen, koptischen und türkischen Einwohner von «Alexandria ad Aegyptum» als Bewohner einer Stadt «bei», nicht «in» Ägypten verstanden, deren Architektur, Literatur und Kaffeehauskultur gesamteuropäischen Charakter hatte. Das zweite Thema ist das territorialpolitische Chaos, das nach dem Ersten Weltkrieg durch konträre Positionen Englands und Frankreichs, durch die italienische Besetzung Äthiopiens und durch die deutschen Kriegshandlungen in Ägypten, Libyen, Tunesien entstand.

Das eine oder andere hätte sich Abulafias grosser Erzählung vielleicht noch hinzufügen lassen: etwa wie der protestantische Condottiere Johann Matthias von der Schulenburg, nach langen Verhandlungen mit den knauserigen Herren der Serenissima endlich doch Kommandant der venezianischen Festung Korfu geworden, 1716 mit seiner Verteidigung der Insel gegen die osmanischen Angriffe dem Prinzen Eugen seine Siege zu Land recht eigentlich erst ermöglichte. Auch das Leben des im französischen Algerien aufgewachsenen Albert Camus, der lange Zeit in unmittelbarer Berührung mit Sprache und Kultur der Araber und Berber lebte, wäre thematisch mehr als einschlägig.

Anders als Braudel

In souveräner Zusammenschau weist Abulafia seinen Lesern Wege durch einen der bedeutendsten Räume der Weltgeschichte, in einer Sprache, deren Anschaulichkeit sich auch in der Übersetzung noch spiegelt, und in Kapiteln von so vernünftig geschnittener Länge, dass die Lektüre trotz insgesamt grossem Umfang zu einer höchst vergnüglichen Belehrung wird. Der Originaltitel «A Human History of the Mediterranean» gibt den Inhalt viel treffender wieder als der wenig glückliche deutsche Titelzusatz «Eine Biografie», der wohl einem unterstellten Interesse des Publikums an allem Biografischen geschuldet ist. Dass die «menschliche» Geschichte des Mittelmeerraums Abulafias Thema ist, darf übrigens als Kontrapunkt zu dem berühmten Werk Fernand Braudels über die mediterrane Welt in der Zeit Philipps II. verstanden werden, das den Blick auf Strukturen und Zyklen konzentriert und dem menschlichen Handeln sowie der Ereignisgeschichte wenig Bedeutung beimisst. Während Braudel methodisch ein Begriffsgerüst «wie einen Förderturm über die diffuse Masse der Geschichte» setzt, «um aus ihr Erkenntnis zu ziehen» (Volker Reinhardt), schreibt David Abulafia die gewonnenen Einsichten in eine Erzählung um, die den Begriff wieder in der Gestalt anschaulich werden lässt.


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