Das Medium des Wassers
Der britische Historiker David Abulafia erzählt die «menschliche» Geschichte des Mittelmeers
Der britische Historiker David Abulafia erzählt die «menschliche» Geschichte des Mittelmeers
von Hans-Albrecht Koch · Der in Cambridge lehrende Historiker David Abulafia, der im deutschen Sprachraum einem grösseren Publikum vor allem durch die Übersetzung seiner Biografie des Stauferkaisers Friedrich II. bekannt geworden ist, erzählt seine Geschichte des Mittelmeers von den Rändern her: eine Schilderung all dessen, was an den Küsten - und nur an den Küsten - möglich war. Er erzählt also vor allem davon, wie dieses grosse europäische Meer, für das die Römer den Namen «Mare nostrum» benutzten, der ihren Herrschaftsanspruch hervorhob, und das die Italiener mit einem die Brückenfunktion zwischen Ländern betonenden Namen «Mediterraneo» nennen, das Schicksal seiner Anrainer im Guten wie im Schlechten bestimmte, in Austausch und Verkehr nicht minder als in Krieg und Raub.
«Historia docet»
Über das Mittelmeer gelangte das
Getreide aus Ägypten, der antiken Kornkammer, nach Rom, darauf spielte
sich der Handel mit Metallen, Gewürzen, Purpur, Seide ab, bis hin zum
ausgedehnten Sklavenhandel, von der Antike bis ins 18., teilweise bis
ins 19. Jahrhundert. Das Mittelmeer war die Verkehrsader, die es einer
griechischen Polis wie Korinth ermöglichte, eine Kolonie wie Syrakus zu
gründen; es war gleichsam die Plattform, auf der sich nach dem Tod
Alexanders des Grossen der Hellenismus ausbreitete - eine Globalisierung
avant la lettre. Auf dem Mittelmeer setzte sich Rom gegen Karthago
durch; es war der Schauplatz, auf dem Griechen, Römer und Juden einander
- bald aufgeschlossener, bald misstrauischer - begegneten; darüber
führte in der Spätantike, ab Konstantin dem Grossen, der Siegeszug des
Christentums. Über das Mittelmeer ging die Fahrt, als die Venezianer 828
die Gebeine des heiligen Markus für ihren Dom aus Alexandria raubten;
darüber brachten Kaufleute aus Bari 1087 die Gebeine des heiligen
Nikolaus von Myra in ihre Stadt.
David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biographie.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 859 S., Fr. 45.90.
Auch wer sich mit dem «Historia docet» schwertut, wird über den vielen Déjà-vu-Effekten in Abulafias so gelehrter wie anschaulicher Erzählung von über dreitausend Jahren nachdenklich werden. Darunter finden sich - um nur zwei Beispiele zu nennen - die Brückenfunktion der süditalienischen Inseln für die Migration afrikanischer Einwohner ebenso wie die Plage des Seeräuberunwesens, mit dessen endlich erfolgreicher Bekämpfung sich einst Cäsars Zeitgenosse Gnaeus Pompeius Magnus grossen Ruhm erworben hatte, das aber auch später die Geschichte des Mittelmeerraums auf ganz verschiedene Weise bestimmte: sei es als Piraterie im Dienste muslimischer Herrscher wie des Emirs von Andalusien, sei es in der Form christlicher Seeräuber aus dem Orden der Hospitaliter.
Abulafias eigene Forschungen
gelten vor allem der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte. Das kommt
der Darstellung wirtschaftlicher Aspekte der Kreuzzüge genauso zugute
wie der Schilderung der Wiederbelebung von Amalfis Handel mit Kairo nach
der Niederlage der Stadt im blutigen Konkurrenzkampf mit Pisa.
Überhaupt hat der Verfasser einen Sinn dafür, wie sich grosse
Zusammenhänge in Details spiegeln, ob er von der Konkurrenz der
Handelsstädte Venedig und Genua schreibt oder von der Vermittlung
arabischer Wissenschaft nach Europa am Hof Friedrichs II. zu Palermo.
Die Welt der homerischen Epen der
griechischen Antike lässt der Autor vor unseren Augen ebenso lebendig
werden wie die von Söldnern und Missionaren des christlichen
Mittelmeerraums, er führt seine Leser zu den gelehrten Vermittlern
arabischer Kultur ebenso wie zu osmanischen Deys, Beys und Paschas und
lenkt schliesslich für das 19. und frühe 20. Jahrhundert den Blick
darauf, wie Archäologen und Historiker durch die wissenschaftliche
Erschliessung des griechischen Altertums den Mittelmeerraum in einem
neuen Spiegel zu sehen gelehrt haben, wie gleichsam ein zweites
historisch fundiertes Griechenland entstanden ist.
Was das 20. Jahrhundert angeht,
so widmet sich das Buch vor allem zwei Themen. Es schildert zum einen am
Geschick der Städte Saloniki, Smyrna, Alexandria, Jaffa und
Konstantinopel, welche fatalen Folgen die Blindheit der siegreichen
Besatzungsmächte gegenüber historisch gewachsenen Strukturen hatte, sei
es, dass der englische Premierminister Lloyd George den türkischen
Politiker Kemal als einen Teppichhändler titulierte, sei es, dass man
nicht verstand, wieso sich die Zehntausende griechischen, jüdischen,
italienischen, koptischen und türkischen Einwohner von «Alexandria ad
Aegyptum» als Bewohner einer Stadt «bei», nicht «in» Ägypten verstanden,
deren Architektur, Literatur und Kaffeehauskultur gesamteuropäischen
Charakter hatte. Das zweite Thema ist das territorialpolitische Chaos,
das nach dem Ersten Weltkrieg durch konträre Positionen Englands und
Frankreichs, durch die italienische Besetzung Äthiopiens und durch die
deutschen Kriegshandlungen in Ägypten, Libyen, Tunesien entstand.
Das eine oder andere hätte sich
Abulafias grosser Erzählung vielleicht noch hinzufügen lassen: etwa wie
der protestantische Condottiere Johann Matthias von der Schulenburg,
nach langen Verhandlungen mit den knauserigen Herren der Serenissima
endlich doch Kommandant der venezianischen Festung Korfu geworden, 1716
mit seiner Verteidigung der Insel gegen die osmanischen Angriffe dem
Prinzen Eugen seine Siege zu Land recht eigentlich erst ermöglichte.
Auch das Leben des im französischen Algerien aufgewachsenen Albert
Camus, der lange Zeit in unmittelbarer Berührung mit Sprache und Kultur
der Araber und Berber lebte, wäre thematisch mehr als einschlägig.
Anders als Braudel
In souveräner Zusammenschau weist
Abulafia seinen Lesern Wege durch einen der bedeutendsten Räume der
Weltgeschichte, in einer Sprache, deren Anschaulichkeit sich auch in der
Übersetzung noch spiegelt, und in Kapiteln von so vernünftig
geschnittener Länge, dass die Lektüre trotz insgesamt grossem Umfang zu
einer höchst vergnüglichen Belehrung wird. Der Originaltitel «A Human
History of the Mediterranean» gibt den Inhalt viel treffender wieder als
der wenig glückliche deutsche Titelzusatz «Eine Biografie», der wohl
einem unterstellten Interesse des Publikums an allem Biografischen
geschuldet ist. Dass die «menschliche» Geschichte des Mittelmeerraums
Abulafias Thema ist, darf übrigens als Kontrapunkt zu dem berühmten Werk
Fernand Braudels über die mediterrane Welt in der Zeit Philipps II.
verstanden werden, das den Blick auf Strukturen und Zyklen konzentriert
und dem menschlichen Handeln sowie der Ereignisgeschichte wenig
Bedeutung beimisst. Während Braudel methodisch ein Begriffsgerüst «wie
einen Förderturm über die diffuse Masse der Geschichte» setzt, «um aus
ihr Erkenntnis zu ziehen» (Volker Reinhardt), schreibt David Abulafia
die gewonnenen Einsichten in eine Erzählung um, die den Begriff wieder
in der Gestalt anschaulich werden lässt.
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