Samstag, 2. November 2013

Pest - die Welt war einmal größer.

aus Der Standard, Wien, 30. 10.2013                                                 J. Patinier
 
Der schwarze Tod reiste langsam
US-Physiker rekonstruierten, wie schnell sich die Pest im Mittelalter ausbreitete: Damit wollten sie messen, wie vernetzt die Gesellschaft damals war.

von Adrian Lobe

Dass die Welt ein Dorf ist, ist hinlänglich bekannt. Und die neuen sozialen Medien haben es noch einmal dörflicher gemacht. Netzwerk-Theoretiker sprechen schon seit längerem vom sogenannten Kleine-Welt-Phänomen. Der 1967 vom US-Psychologen Stanley Milgram geprägte Begriff besagt, dass jede Person des Planeten mit jeder anderen über höchstens sechs Ecken bekannt ist - und das bei über sieben Milliarden Menschen.
 
Doch war die Welt schon immer "klein"? Vor ein paar hundert Jahren, als die Globalisierung noch sehr viel langsamer vorankam, gab es keine weltumspannenden Kommunikationsnetzwerke. Allenfalls Gelehrte, Kaufleute und Adelige tauschten sich in Briefen aus. Das einfache Volk hingegen konnte gar nicht schreiben.
 
Das macht es für Wissenschafter schwer, die Interaktionsmuster von früher zu rekonstruieren. Zwar verbreiteten sich auch im Mittelalter Nachrichten in Windeseile über Mund-zu-Mund-Propaganda. Nur: Wie soll man diese Kommunikationsströme im Nachhinein messen?
 
Mittelalterliche Vernetzung
 
Der Physiker Mark Newman und seine Kollegen von der University of Michigan lösten dieses Problem mit einem Kniff: Sie setzten nicht bei Briefen oder mündlich überlieferten Botschaften an, sondern bei Krankheiten. Genauer gesagt: bei der Pest. Die Forscher gingen für ihre bisher bloß auf der Preprint-Plattform arXive veröffentlichten Studie davon aus, dass die Krankheit sich nur dann verbreiten konnte, wenn ein hinreichender sozialer Kontakt zwischen den Menschen vorhanden war. Die Pest, so die Folgerung, biete daher einen soliden Näherungswert für die Vernetzung der Gesellschaft im Mittelalter.
 

 
Der schwarze Tod raffte zwischen 1347 bis 1351 schätzungsweise 25 Millionen Menschen dahin. In nur drei Jahren breitete sich die Seuche in ganz Europa aus. Der entscheidende Punkt ist für die Forscher aber nicht die Zahl der Opfer, sondern das Verbreitungsmuster.
 
Historische Dokumente zeigen, dass die Epidemie von der Levante am Mittelmeer über Westeuropa bis nach Skandinavien vordrang. Die geografische Grenze, die die verschonten Landstriche von den von der Pest befallenen Siedlungen trennte, markierte eine "Pest-Front" - sie verschob sich immer weiter nach Norden.
 
Mithilfe eines komplizierten mathematischen Modells errechneten die Wissenschafter die Dynamik der Epidemie. Bei der Simulation wurden Faktoren wie Transmissionsvektoren, Transportwege und die durchschnittliche Mobilität der Bevölkerung in Rechnung gestellt.
 
Das Ergebnis überrascht: Die Welt war damals groß - das Kleine-Welt-Phänomen existierte somit noch nicht, wie die Forscher schreiben: "Unsere zentrale empirische Beobachtung ist, dass sich moderne Epidemien schnell und leicht verbreiten, dasselbe aber nicht für historische Epidemien gilt." Die Pest breitete sich nur schrittweise, in Wellen aus - ein Indiz dafür, dass es damals noch keine Vernetzung zwischen den Orten gab.


 
Zwei Kilometer pro Tag
 
Zwar verkehrten auch Schiffe und Händler über längere Distanzen. Doch die Interaktionen waren gering, die Kommunikationskette zwischen den Individuen lang. Als Beleg für die These gilt den Forschern die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Epidemie. Tatsächlich breitete sich die Pest vergleichsweise langsam aus. Die Physiker errechneten einen Wert von zwei Kilometern pro Tag.

"Geschwindigkeit war kein limitierender Faktor für die Ausbreitung der Krankheit", schreiben die Forscher in ihrer Studie. Hätte es ein höheres Maß an Interaktion zu der Zeit gegeben, hätte sich die Epidemie noch viel schneller verbreitern können. Kaum vorstellbar, welch verheerende Folgen die Pest bei der heutigen Vernetzung der Gesellschaft zeitigte.
 
Die Tatsache, dass das Bakterium auch von Fliegen und Ratten übertragen wird, verzerre das Ergebnis nicht, weil auch Nager und Insekten nur über einen begrenzten Radius verfügen. Daraus folgt, dass der Kontakt meist nicht über den Nachbarort hinausging. Erst mit dem Aufkommen der Industrialisierung und Massentransportmitteln sei die Welt "klein" geworden, so die Forscher.
 
Im Mittelalter gab es zwar Dörfer, aber eben noch kein globales.
 

Abstract
"arXiv": The small-world effect is a modern phenomenon




Nota.Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. 

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