Freitag, 1. November 2013

Öffentliche Regeln und regulierte Öffentlichkeit.

aus NZZ, 31. 10. 2013                                                                                                            Thomas Scholz, pixelio.de
 
Selbstdenken heute
In Berlin wurde über Aufklärung diskutiert 


von Sieglinde Geisel · Was bedeutet es heute, als aufgeklärter Bürger, als aufgeklärte Bürgerin zu leben? Sind wir beispielsweise aus eigener Verstandeskraft in der Lage, zu verstehen, wie die Finanzwelt funktioniert und was mit unserem Geld geschieht? Sind wir mündige Nutzer des Internets? Dienen die Medien unserer Aufklärung - und steht die Religion im Widerspruch zu derselben, frei nach dem Atheistenslogan «Glaubst du noch, oder denkst du schon?»?

Jede dieser Fragen wäre eine eigene Tagung wert. Im Rahmen des diesjährigen Akademientages zum Thema «Die Gegenwart der Aufklärung», zu dem die Union der deutschen Wissenschaftsakademien nach Berlin (in die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) eingeladen hatte, wurde ihnen jeweils ein Podiumsgespräch gewidmet. Wie einige der Diskussionen zeigten, ist es leichter, das Publikum über dies oder jenes aufzuklären, als - grundsätzlicher - über Aufklärung nachzudenken. Wer etwa unter dem Titel «Wie aufgeklärt sind wir über unsere wirtschaftliche Lage?» ein Nachdenken darüber erwartet hatte, was wir über unsere Finanzwelt wissen können, musste sich mit Informationen des Ökonomen Manfred Neumann zur Griechenland-Krise und zur Staatsverschuldung zufriedengeben. Eine entsprechende Klage aus dem Publikum wurde mit heftigem Applaus bedacht.

Aufschlussreich war hingegen die Diskussion zwischen dem Philosophen Volker Gerhardt und dem «FAZ»-Redaktor Jürgen Kaube. In der Demokratie sind die Medien unstreitig das wichtigste Werkzeug des Bürgers, der seine eigene Gesellschaft verstehen will. Doch geben die Medien überhaupt verlässlich Auskunft über die Welt, in der wir leben? Mit dem Buchdruck sei die Übertreibung gekommen, so Kaube. Weil das, was sich nicht verändere, keine Meldung wert sei, erscheine die Gesellschaft in den Medien naturgemäss aufgeregter, als sie in Wirklichkeit sei. Der Journalismus beginne mit dem Erkenntnisinteresse des einzelnen Journalisten, so Gerhardt. Dessen Freiheit allerdings, wusste Kaube zu berichten, sei, zumindest in unseren Breiten, nicht eine Frage der Freiheit von politischem Druck. Es gehe vielmehr darum, ob Zeit für eine sorgfältige Recherche zugestanden werde und ob ein Thema innerhalb der Redaktion durchgesetzt werden könne, also um Fragen der Organisation und der wirtschaftlichen Möglichkeiten. Angesichts der wirtschaftlichen Krise der Zeitungsbranche warnte Gerhardt denn auch vor einem «Entqualifizierungsprozess», der alle angehe: Schliesslich hänge die Urteilsfähigkeit des Wählers von der Qualität der Medien ab.

Spätestens seit Günther Anders wissen wir, dass es keine Unschuld der Technik gibt: Jede neue Technologie übt eine Art Herrschaft über ihre Nutzer aus, von der diese sich emanzipieren müssen.

Dieser Lernprozess hat im Internet gerade erst begonnen, wie die inspirierte Diskussion mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp zeigte. Wenn Videos mit Köpfungen keinen Proteststurm auslösten, dürfe man sich auch nicht über die Überwachung durch Geheimdienste aufregen. Das Internet sei derzeit ein Raum im Hobbesschen Naturzustand, der etwa die «Freiheit» biete, junge Menschen durch öffentliche Demütigungen in den Selbstmord zu treiben. Die Normen, die das Zusammenleben von Menschen überhaupt erst ermöglichten, seien auch im Internet dringend nötig. Wer allerdings solche Regeln fordere, werde gleich als Zensor verschrien.

Selbstverschuldet ist Unmündigkeit laut Immanuel Kant dann, wenn die Aufklärung nicht an mangelndem Verstand, sondern an Feigheit und Faulheit scheitert. Aufklärung ist ein politisches Postulat, gefragt sind Taten. Mit dem Internet hat die Menschheit sich ein globales Medium geschaffen, für das auch ein globales Regelwerk etabliert werden müsste. Bredekamp führte den «Weltstaat» ins Feld - gemeint als Metapher dafür, dass diese Probleme nicht mehr im nationalstaatlichen Maßstab angegangen werden könnten. Damit ist die Aufklärung längst nicht mehr nur ein Projekt des Westens oder der Moderne, sondern eines des globalen 21. Jahrhunderts.


Nota.

Nach Regeln rufen heißt noch nicht, nach staatlicher Aufsicht rufen - die bei einem globalen Medium kaum wirken könnte. Ob sich aber Selbstregulierung "aus dem Verkehr selbst" ergibt? 

Nun haben sich die Gepflogenheiten auf den internationalen Märkten im Laufe der Jahrhunderte schon selber zivilisiert, ehe eine öffentliche Gesetzgebung dazu kam. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Solange die Todesstrafe selbstverständlich war, wurde sie als öffentliches Schauspiel vollzogen. Und als sie aufhörte, ein Volksvergnügen zu sein, hörte sie auf, selbstverständlich zu sein.

Mit Verboten wird Sudeleien im Internet nicht verhindern können. Doch ob sie das Gesamtbild prägen und selbstverständlich bleiben, hängt davon ab, wer sonst noch das Internet wozu nutzt. Wenn erstgemeinte und ernstzunehmende Beiträge im Internet so selbstverständlich geworden sind, dass man zuerst dort nachschaut, ehe man sich auf den beschwerlichen Weg in die Universitätsbibliothek macht, wird es auch weniger selbstverständlich sein, im Internet nach Unrat zu suchen.

Das kann noch lange dauern? - Ja.
JE



aus: Die Geschichte des Männlichen, VI.

...So wird es nötig, im öffentlichen Raum eine Zulassungsordnung einzurichten: Öffentliches Auftreten läßt sich nur rechtfertigen durch die Abenteuer des Selberdenkens und den Stolz, für seine Resultate gradezustehn – immer eingedenk, daß noch was fehlt. Es ist eine Bildungsaufgabe; die Bildungsaufgabe. Da trifft es sich gut, daß unsre Spezies darauf nicht erst wieder durch einen jahrtausendelangen Domestikationsprozeß schmerzhaft zugerichtet werden muß. Die Neigung dazu ist ihr doppelt gattungsgeschichtlich eingepflanzt, indem wir unter allen Lebensformen nicht nur die männlichste, sondern eben auch die kindlichste sind. Sie muß nur freigesetzt werden.

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