Die langfristigen Folgen des Kolonialismus
Ob sich die Kolonialzeit eher negativ, eher positiv oder nur minimal auf ein Land auswirkt, hängt von diversen Faktoren ab: dem Gewaltniveau der Fremdherrschaft, der Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen, der Ausbeutung und den mehr oder weniger konfliktträchtigen Grenzziehungen.
Von Patrick Ziltener
Historisch waren sich Befürworter wie Gegner des Kolonialismus darin einig, dass Kolonialherrschaft einen grossen Einfluss auf die unterworfenen Gesellschaften ausgeübt hat - allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen. Der Historiker Jürgen Osterhammel spricht vom Kolonialismus insgesamt aber als einem «Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit». In vielen Weltgegenden war die flächendeckende Kolonialherrschaft zudem eine zeitlich eng befristete und wenig effektive Herrschaftsform. Es gibt aber auch Länder und Regionen, die von kolonial induzierten Prozessen tiefgreifend verändert und in ihrer heutigen Form erst eigentlich erschaffen wurden, etwa dort, wo grossflächige Rohstoffförderung und Plantagenwirtschaft sowie umfangreiche Migrationsströme zusammenwirkten, wie in Malaysia oder Südafrika.
Ob sich die Kolonialzeit eher negativ, eher positiv oder nur minimal auf ein Land auswirkt, hängt von diversen Faktoren ab: dem Gewaltniveau der Fremdherrschaft, der Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen, der Ausbeutung und den mehr oder weniger konfliktträchtigen Grenzziehungen.
Von Patrick Ziltener
Historisch waren sich Befürworter wie Gegner des Kolonialismus darin einig, dass Kolonialherrschaft einen grossen Einfluss auf die unterworfenen Gesellschaften ausgeübt hat - allerdings mit unterschiedlichen Vorzeichen. Der Historiker Jürgen Osterhammel spricht vom Kolonialismus insgesamt aber als einem «Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit». In vielen Weltgegenden war die flächendeckende Kolonialherrschaft zudem eine zeitlich eng befristete und wenig effektive Herrschaftsform. Es gibt aber auch Länder und Regionen, die von kolonial induzierten Prozessen tiefgreifend verändert und in ihrer heutigen Form erst eigentlich erschaffen wurden, etwa dort, wo grossflächige Rohstoffförderung und Plantagenwirtschaft sowie umfangreiche Migrationsströme zusammenwirkten, wie in Malaysia oder Südafrika.
Besteuerung, Schulbildung, Verletzungen
Was lässt sich ein halbes
Jahrhundert nach der Entkolonisierungswelle der 1960er Jahre über die
langfristigen Wirkungen des Kolonialismus sagen? Ein Forschungsprojekt
am Soziologischen Institut der Universität Zürich hat dies anhand von 83
Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens untersucht. In diesen Ländern
lebten Ende des 20. Jahrhunderts etwa 73 Prozent der Weltbevölkerung.
Erwartet haben wir, dass die
langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kolonialismus vor
allem dort nachhaltig sind, wo die Lokalgesellschaften tiefgreifend
transformiert wurden. Dies ist nicht der Fall: Unter den solchermassen
veränderten Gesellschaften finden sich sowohl erfolgreiche als auch
wirtschaftlich stagnierende oder zerfallende Länder. Folgende Länder
wurden in unserer Untersuchung als am tiefgreifendsten kolonial
umgestaltet definiert: Südafrika, Kenya, Simbabwe, Angola und
Guinea-Bissau in Afrika, Indonesien, Indien, Kambodscha, Myanmar und die
Philippinen in Asien - Länder mit sehr unterschiedlicher postkolonialer
Entwicklungsdynamik.
Massgeblich ist nicht die
Transformationstiefe, sondern es müssen andere Aspekte des Kolonialismus
langfristig wirksam sein - bestimmte Faktoren wie der Abfluss
finanzieller Ressourcen, brutale Besteuerungssysteme oder
sozialpsychologische Verletzungen. Solche Faktoren zu vergleichen, ist
allerdings schwierig. Gleichwohl gelang es, dreizehn Indikatoren zu
finden, mit denen sich der Einfluss kolonialer Faktoren auf die
postkoloniale Entwicklung Afrikas, Asiens und Ozeaniens statistisch
überprüfen lässt. Sie reichen von der unterschiedlichen kolonialen
Herrschaftsintensität und dem damit verbundenen Gewaltniveau, der
Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Spaltungen, der
Investitions- oder Handelsumlenkung, Missionierung und Arbeitsmigration
bis hin zu mehr oder weniger absurden kolonialen Grenzziehungen. Die
statistischen Ergebnisse zeigen, dass - wie zu erwarten - die
wirtschaftliche und gesellschaftliche Prägekraft des Kolonialismus nach
der politischen Unabhängigkeit langsam abnimmt. Am ehesten lässt sich
eine nachhaltige Wirkung der kolonialzeitlichen Schulbildung nachweisen.
Die interessantesten Ergebnisse
unserer statistischen Modelle fanden sich jedoch im politischen Bereich:
Die Überlebenschancen postkolonialer Demokratien werden von der Dauer
der Kolonialisierung beeinflusst: Je direkter und je kürzer die
koloniale Herrschaft, desto geringer die Chancen für Demokratie, wobei
das Niveau der kolonialen Schulbildung diesem Effekt positiv
entgegenwirkt.
Fatale Folgen der Gewalt
Vor allem aber schälte sich ein
fundamentaler Zusammenhang heraus: Gute Regierungsführung hängt eng mit
dem kolonialen Gewaltniveau und der Organisation der Entkolonisierung
zusammen, und zwar unabhängig vom Ausmass der kolonialen Transformation.
War die Entkolonisierung ein ungeregelter, gewaltförmiger,
katastrophischer Prozess, sind die Chancen für die Etablierung guter
Regierungsführung bis heute nachhaltig beschädigt. Dieses Ergebnis ist
statistisch robust, unter Kontrolle zahlreicher anderer,
nichtkolonialbedingter Faktoren wie Geografie, vorkoloniale Verhältnisse
usw. Die Bedeutung der jeweiligen Kolonialmacht (zum Beispiel
Grossbritannien contra Frankreich), auf die sich die Forschung bisher
konzentrierte, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Der blosse Hinweis
auf national unterschiedliche Stile kolonialer Verwaltung erfasst nicht
die Inhalte, um die es wirklich geht, wie begrenzter Gewalteinsatz,
geordneter Machttransfer, weniger Handelsumlenkung. Tatsächlich fand
aber die Ausbildung einheimischer Beamter, die Absicherung des
Rechtssystems und eine geordnete Machtübergabe häufiger in britischen
Kolonien statt als in anderen. Auch die Bedeutung des Faktors
Grenzziehung ist zu relativieren. Erstens gibt es keine «vernünftigen»
Grenzen, ausser vielleicht unüberwindbare Hochgebirgszüge. Die
politische Ausgestaltung der Aussenwirtschaftsbeziehungen ist viel
relevanter. Erst eine schlechte Wirtschaftspolitik führt zur Aufspaltung
funktionaler Wirtschaftsräume und zu wirtschaftlich negativen Effekten.
Zweitens ist das «Zusammenwerfen» verschiedener ethnischer und
religiöser Gruppen in einen kolonialen Staat manchmal fataler als ihre
Trennung. Langfristiges Unheil kann man vor allem mit der
kolonialherrschaftlichen Instrumentalisierung ethnischer und religiöser
Spaltungen anrichten, zum Beispiel mit der Bevorzugung von Christen in
der Verwaltung, von Chinesen für die Steuereintreibung oder mit der
Missionierung von kriegerischen «Bergstämmen» und ihrem Einsatz in der
Kolonialarmee und -polizei.
Wir finden also Belege, dass der
Kolonialismus auch ein halbes Jahrhundert nach der Dekolonisierung einen
Einfluss auf Regierung, Staat und damit Lebenschancen ausübt. Es wäre
voreilig, den Westen aus seiner historischen Verantwortung für die
massgeblich von ihm geschaffene globale politische Vergesellschaftung zu
entlassen.
Patrick Ziltener ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Zürich und betreibt wirtschafts- und entwicklungssoziologische Forschungen.
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